Extremismus

Eine islamische Herausforderung?

Extremismus aller Couleur bedrohen den gesellschaftlichen Frieden – nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Muslime müssen eine innerislamische Debatte um Extremismus führen, meint Dr. Mustafa Yoldaş.

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2015
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Der gesellschaftliche Frieden ist in diesen Tagen einer deutlichen Belastungsprobe ausgesetzt, weil er von Extremisten aus verschiedenen Richtungen torpediert wird: einerseits unter dem Eindruck des Terror-Krieges des sog. „Islamischen Staates“ im Irak und Syrien und andererseits die zunehmende Islamfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Die aktuellen Ereignisse haben nun beiden extremistischen Entwicklungen eine enorme Zuspitzung gebracht: Die PEGIDA-Demonstrationen und vor allem jetzt der grauenhafte und durch nichts zu rechtfertigende Terroranschlag von Paris drohen die europäischen Gesellschaften in eine immer größere Polarisierung zu treiben.

Mit den Morden an den Charlie-Hebdo-Redakteuren, den ermordeten Geiseln in einem jüdischen Supermarkt und den Polizisten ist der Terror nun wieder in Europa angekommen. Im Irak und Syrien hat das Terrorregime des sog. „Islamischen Staates“ Teile dieser Länder unter seine Kontrolle gebracht. Wir alle sind entsetzt über die Brutalität dieser Terroristen, über deren Massaker an Christen und Yesiden wie auch Muslimen. Wenn es stimmt, was der Publizist Jürgen Todenhöfer von seinen Gesprächen mit IS-Funktionären berichtet, dass deren Endziel die Eliminierung aller Andersgläubigen ist – d. h. vor allem auch aller Muslime, die nicht an die extremistische IS-Version des Islams glauben – so trägt dies schon apokalyptische Züge.

Wir alle sind Opfer des Terrors

Dies zeigt aber auch, dass Opfer des Terrors alle Menschen werden, die nicht in das Weltbild der Extremisten passen oder sich nicht diesem unterwerfen. Zahlenmäßig sind die meisten Opfer Muslime. Es sind Sunniten, Schiiten und Alawiten im Irak und Syrien. Muslim war auch einer der in Paris getöteten Polizisten und ein Mitarbeiter bei Charlie Hebdo. Es sind meist muslimische Familien mitten aus Deutschland, deren Söhne und manchmal auch Töchter ihnen plötzlich den Rücken kehren, um sich in Syrien für sinnlose Ziele in den Tod schicken zu lassen.

Dies betrifft uns Muslime also ganz zentral. Dieser Extremismus ist zu einer realen Bedrohung für die Zukunft unserer Glaubensgemeinschaft geworden. Er gefährdet unsere gesellschaftliche Existenz, in Europa wie auch im Nahen Osten oder in vielen anderen Teilen der Welt. Dies betrifft uns alle Muslime, ob wir Sunniten sind oder Schiiten, welcher Rechtsschule oder Strömung wir uns auch zurechnen. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem religiösen Extremismus ist die Einheit der Muslime gefragt! Im Grunde ist es für Muslime einfach, den geraden Weg vom ungeraden zu unterscheiden: Wer auf beiden Seiten für Hass, Gewalt und Spaltung plädiert, hat die Grundbotschaft des Islams nicht verstanden.

Innermuslimische Extremismusdebatte

Wir werden die Auseinandersetzung mit dem Extremismus innerhalb der muslimischen Community aber nicht gewinnen, wenn wir seine Ursachen verdrängen. Floskeln wie „das hat mit dem Islam nichts zu tun“ oder „das sind keine Muslime“ bringen uns da nicht weiter. Natürlich ist dies das Gefühl der Mehrheit der Muslime, wenn sie die Gräuel des IS oder die Attentate von Paris sehen. Wer die Botschaft des heiligen Koran und den Weg unseres Propheten – Friede sei mit ihm – so versteht und verinnerlicht, wie es die Mehrheit der Muslime seit über 1400 Jahren getan hat, kann gar nicht anders, als tiefes Befremden zu empfinden.

Daher dürfen wir nicht stehen bleiben oder in Lethargie verharren. Wir Muslime brauchen eine tiefer gehende innerislamische Auseinandersetzung darüber, was die ideologischen Grundlagen des religiösen Extremismus sind. Wir müssen verstehen, wo und wie modernistische Strömungen wie der Salafismus im Widerspruch zur traditionellen Lehre des Islams stehen. Wir müssen uns auf die Werte dieser traditionellen Lehre besinnen, wozu auch Mäßigung, Toleranz und eine Pluralität der Denkschulen und der Anschauungen gehört – ganz im Gegensatz zur salafistischen Ideologie des Takfîr, die eben mehr mit modernem Totalitarismus zu tun hat als mit dem Islam des Propheten (Friede sei mit ihm) und den Muslimen seiner Zeit.

Es ist auch nicht hilfreich, die Verbrechen der Extremisten mit den Gewalttaten der vermeintlichen Feinde des Islams und Verschwörungstheorien zu relativieren, zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen, denn die Realität ist leider oft schlimmer als alle Verschwörungstheorien zusammen.

Es muss also im ureigenen Interesse der Muslime sein, sich von denjenigen zu bereinigen, die diese wunderbare Religion der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens in Misskredit und Verruf bringen. Guckt man sich die Ergebnisse der abscheulichen Gewalttaten dieser Mörderbanden weltweit an, so erweisen sie einen Bärendienst für den Islam und verstärken weltweit die Islamfeindlichkeit.

Die Rolle der islamischen Gemeinschaften

Gerade wir als islamische Verbände und Religionsgemeinschaften müssen hier klar Position beziehen und diese innerislamische Auseinandersetzung führen. Wir müssen sie in unsere Gemeinden und Vereine tragen und damit unsere Basis erreichen, insbesondere unsere Jugendlichen. Wenn nicht das richtige Bewusstsein entwickelt und gestärkt wird, finden  extremistische Verführer immer wieder Einflussmöglichkeiten, gerade wenn das islamische Wissen gering und die sozialen Probleme groß sind.

In der SCHURA Hamburg haben wir mit dieser Auseinandersetzung bereits früher begonnen, im Übrigen als die erste islamische Organisation bundesweit. Wir haben alle unsere Mitgliedsvereine sensibilisiert in Bezug auf deren Rekrutierungsmaschen, haben die Extremisten aus unseren Mitgliedsgemeinden verdrängt, ihnen die Erlaubnis zum Vortragen und Predigen entzogen.

Wir haben im November 2014 eine sehr gut besuchte interne Tagung mit rund 300 vornehmlich jungen Musliminnen und Muslimen zum Thema Salafismus durchgeführt, die auch im Nachhinein viel positive Resonanz bekommen hat. Ich betone dies gerade auch deshalb, weil es im Vorfeld nicht wenige skeptische Stimmen gab, dass wir dieses „heiße Eisen“ hätten nicht anfassen sollen, da manche der Meinung waren, dass es womöglich auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Extremisten kommen könnte oder man uns diesen innerislamischen Diskurs von außen aufzwingen würde.

Mediale Instrumentalisierung

Ein Teil der Skepsis rührte auch daher, dass es tatsächlich eine politische und mediale Instrumentalisierung gibt. Denn im letzten Jahr haben wir Muslime eine neue Runde des Generalverdachts erlebt, insbesondere in den Medien, von der Fernsehtalkshow bis zum Feuilleton. Nicht wenige sagen Terrorismus, Islamismus und Salafismus und meinen ein generelles antiislamisches Ressentiment.

Man hat in der Debatte auf der einen Seite die Hard-Core-Islamkritiker wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder Hamed Abdelsamad und auf der anderen Seite Pierre Vogel oder den Leipziger Imam Dabbagh. Und die übrigen 99,9% der Muslime dazwischen kommen kaum zu Wort. Ich persönlich bin von der Redaktion von Sandra Maischberger schon zweimal ausgeladen worden, weil man in Pierre Vogel und Imam Dabbagh wohl meinte, diejenigen gefunden zu haben, die eine bessere und größere Projektionsfläche für hasserfüllte Ressentiments in der deutschen Gesellschaft bieten. Die Ansichten der „normalen“ und des Mainstream-Islams interessiert die Medien oft gar nicht. Nur sensationsträchtige Thesen bringen es zu einer Schlagzeile.

Die gesellschaftlichen Folgen sind spürbar und werden durch wissenschaftliche Untersuchungen und Meinungsumfragen immer wieder neu bestätigt: Während in den letzten Jahren in der deutschen Gesellschaft rechtsradikale Einstellungen an sich stetig abgenommen haben, nahmen negative Einstellungen gegenüber Muslimen stetig zu. Nahezu ein Drittel der Bevölkerung sieht Muslimsein und Deutschsein generell als Gegensatz und meint, man könne mit Kopftuch nicht Deutsche sein, möchte den Moscheebau einschränken und gar Muslimen generell die Zuwanderung verbieten. 10 % würden sogar eine explizit islamfeindliche Partei wählen. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch die aktuelle Bertelsmann-Studie.

Islamfeindlichkeit als Ideologie?

Islamfeindlichkeit ist eine gesellschaftliche Realität. Islamfeindlichkeit ist aktuell auch das zentrale Element neuer rechter Formierungen: Als HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten) randalierten im Oktober Tausende gewaltbereiter Hooligans und Neonazis in Köln. Unter dem Namen PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) marschieren Montag für Montag bis zu 20.000 Menschen durch Dresden. Es ist schon erstaunlich: Da halluzinieren Menschen eine drohende Islamisierung Deutschlands ausgerechnet in einer Stadt, in der es kaum Muslime gibt.

Genau dies zeigt aber ganz deutlich: Diese Menschen mögen tatsächliche Probleme haben, vor allem sehr reale Gefahren sozialen Abstiegs. Protestieren tun sie aber – angeheizt durch die mediale Berichterstattung und unbedachten Äußerungen von Politikern über den Islam – nicht gegen ihre tatsächlichen Probleme, sondern gegen den Islam. Somit zeigt sich Islamfeindlichkeit hier als reine Ideologie, eine Ideologie, die eine Verbindung ermöglicht von Rechtsradikalen bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein. Mit der AfD kommt eine Partei in die Parlamente, die sich zunehmend als parlamentarischer Arm dieser islamfeindlichen Bewegungen versteht.

Die Gefahr ist jetzt groß, dass der Terrorakt von Paris allen Islam-Hassern und Neonazis, allen PEGIDA-Aktivisten und Rechtspopulisten weiteren Auftrieb gibt. Die Gefahr von Übergriffen auf Muslime und islamische Einrichtungen ist real. Damit bekämen Extremisten von beiden Seiten genau die gesellschaftliche Polarisierung, die sie haben wollen.

Dieser Entwicklung müssen wir – Muslime und Nichtmuslime, Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung – uns entgegen stellen. Den Extremisten dürfen wir nicht das Feld und die Deutungshoheit überlassen – weder in der Religion, noch in der Gesellschaft. Lassen Sie uns gemeinsam gegen Hass und Intoleranz eintreten und für die Werte, die wir gemeinsam teilen: Für Toleranz und Vielfalt, für Freiheit und Demokratie, für Gerechtigkeit und Solidarität.