Muslime in Europa haben einen Sonderstatus. Die klassische islamische Gelehrsamkeit sieht den dauerhaften Aufenthalt von Muslimen in einem „nichtislamischen“ Umfeld nicht vor. Und doch sehen sich Muslime in Europa als Teil ihrer Gesellschaften und arbeiten an einem „islamischen Minderheitenrecht“ (Fikh al-Akalliyât). Ist das aus islamischer Sicht überhaupt legitim? Darüber sprachen wir mit Dr. Ebubekir Sifil.
IslamiQ: Das „islamische Minderheitenrecht“ soll eine Alternative für die bestehenden Mittel der Rechtsfindung sein, da diese die Probleme der muslimischen Minderheiten in nichtmuslimischen Ländern nicht angemessen lösen könnten. Ist das so?
Sifil: Das islamische Recht (Fikh) ist ein System mit den nötigen Möglichkeiten und Voraussetzungen, um ein Leben gemäß dem göttlichen Willen zu führen. Seine Parameter sind durch den Koran und die Sunna bestimmt. Das bedeutet: Der Muslim lebt sein Leben nicht „von den Umständen hin zur Glaubensgrundlage“, sondern umgekehrt. Mit anderen Worten: Nicht die Umstände bilden die Grundlage zur Interpretation der Glaubensgrundsätze. Es wird vielmehr versucht, ausgehend von den Glaubensgrundätzen, die Umstände zu verändern.
IslamiQ: Was bedeutet das für das „islamische Minderheitenrecht“?
Sifil: Wenn wir in diesem Zusammenhang das „islamische Minderheitenrecht“ genauer betrachten, stellen wir folgendes fest: Die erste Generation der Muslime in Europa wollte anfänglich nur vorübergehend in nichtmuslimischen Ländern arbeiten und nach dem Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Zieles in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Im Gegensatz dazu betrachten die nachfolgenden Generationen diese Länder als ihre „Heimat“, jedoch ohne dabei Koran und Sunna zu berücksichtigen. Als man erkannte, dass die klassische Rechtslehre, die ein Leben nach Koran und Sunna ermöglichen soll, diese Entscheidung nicht stützt, sei – nach Ansicht ihrer Befürworter – ein „Paradigmenwechsel“ unausweichlich geworden.
Eigentlich hat das „islamische Minderheitenrecht“ keine andere Legitimationsgrundlage als die Konzepte des „sozialistischen“, „kulturellen“ oder des „Volksislams“. Es ist nur in dem Maße „unbedenklich“, wie diese Konzepte es auch sind! Diese zielten darauf ab, nach einem anderen Paradigma entworfene Lebensweisen islamisch zu legitimieren.
IslamiQ: Also ist das „islamische Minderheitenrecht“ als Mittel der Rechtsfindung nicht legitim?
Sifil: Es geht nicht um die Rechtsfindung (Idschtihâd). Das „islamische Minderheitenrecht“ folgt dem Ansatz: Unterschiedliche Situationen benötigen unterschiedliche Rechtsfindungsmethoden. Das bedeutet aber, dass unsere Beziehung zu Koran und Sunna nicht auf der richtigen Grundlage basiert. Denn wie ich bereits sagte, ist das islamische Recht der Schüssel zum Verständnis dessen, was der Koran und die Sunna von uns verlangen. Maßgebend ist der Lebensstil, den Koran und Sunna vorsehen. Die Muslime richten ihr Leben, soweit es ihnen möglich ist, dementsprechend aus. Für Dinge, die zu verändern sie nicht imstande sind, sind sie auch nicht verantwortlich. Muslime in nichtmuslimischen Ländern sollten in Situationen, für die es keine klaren islamischen Regelungen gibt, zunächst danach fragen, ob diese islamisch legitim sind. Falls ja, gibt es kein Problem.
IslamiQ: Und wenn nicht?
Sifil: Dann müssen Wege gefunden werden, die Unzulässigkeit aufzuheben, und nicht nach Wegen, um den Zustand zu legitimieren. Wenn auch dies nicht möglich ist, wird die Situation im Rahmen der Notwendigkeit (Zarûra) beurteilt. Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die Notwendigkeit nicht verallgemeinert werden und nicht den Platz der ursprünglichen Gebote einnehmen darf.
IslamiQ: Muslime leben oft als religiöse Minderheiten. Sie möchten ihre religiöse Identität bewahren, werden aber von der Mehrheitsgesellschaft mit Forderungen konfrontiert, die es ihnen nicht leicht machen. Kann hier die Entwicklung eines neuen Idschtihads Abhilfe schaffen?
Sifil: Auch hier muss man genauer hinschauen. Manche Probleme können mit vorliegenden Idschtihads gelöst werden, für andere können neue Idschtihads entwickelt werden. Im Prinzip ist daran nichts Falsches.
Aber ich möchte mit Nachdruck auf eines hinweisen: Die Muslime haben in den Ländern, in denen sie als Minderheit leben, keine ergebnisorientierte Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit betrieben, um Praktiken, die mit dem Islam unvereinbar sind, zu korrigieren. Daran hat sich bis dato nichts verändert. Es ist nicht richtig, bei Widrigkeiten sofort zu versuchen, das islamische Recht an die bestehende Situation anzupassen und neue Idschtihads zu suchen, anstatt sich um eine Beseitigung dieser Widrigkeiten zu bemühen.
IslamiQ: Was bedeutet das z. B. für das Problem der Halal-Schächtung oder Bankgeschäfte?
Sifil: Das „Problem“ der Halal-Schächtung ist keines, das nicht gelöst werden könnte. Wenn gute Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird und die Grundlagen geschaffen werden, kann dieses Problem mit Leichtigkeit gelöst werden. In diesem Punkt können wir von den Juden lernen.
Was die Bankgeschäfte angeht, stellen diese nicht nur für muslimische Minderheiten, sondern für alle Muslime ein Problem dar. Hierfür neue Wege zu suchen ist nichts anderes, als der Versuch, die bestehende Situation islamisch zu legitimieren. Es scheint unmöglich, ohne den gemeinsamen Willen der Umma eine endgültige Lösung für diese Angelegenheit zu finden.
IslamiQ: Gelehrte wie Al-Alwani setzen sich für ein „islamisches Minderheitenrecht“ ein. Welche Ansichten halten Sie aus welchen Gründen für problematisch?
Sifil: Man sollte zuerst die Lesart des Problems diskutieren, bevor man sich mit Fatwas zu Einzelthemen auseinandersetzt. Muslime leben erstmals in der islamischen Geschichte in großer Zahl in Ländern, in denen sie eine Minderheit stellen. In dieser Situation stellt sich die Frage, ob es auf der Grundlage des Korans überhaupt möglich ist, ein nichtmuslimisches Land, in dem man den Status einer Minderheit besitzt, als „Heimat“ anzusehen. Solange diese Frage nicht aufrichtig beantwortet wurde, ist es nicht angebracht, sich mit anderen Themen zu beschäftigen.
Anstatt Antworten darauf zu geben, argumentieren Al-Alwani und andere in dieser Angelegenheit mit Koranversen, wonach „Muslime andere gerecht/gut behandeln sollen“ (Koran 5:8-9; 57:25; 60:8-9). Jedoch ist aus dem Kontext dieser Verse unschwer erkennbar, dass sie sich auf eine Situation beziehen, in der die Muslime in der Mehrheit sind. Um behaupten zu können, dass diese Verse von Muslimen handeln, die Gerechtigkeit und Güte von Nichtmuslimen erwarten, müsste nicht nur das bestehende Verständnis, sondern auch der Sachverhalt ausgereizt werden!
IslamiQ: Welche positiven Beiträge leistet das „islamische Minderheitenrecht“?
Sifil: Das sogenannte „islamische Minderheitenrecht“ kann langfristig dazu beitragen, Muslime von ihrem Anspruch auf bestimmte Rechte zu überzeugen und diese auch einzufordern, und eventuell auch andere geringfügige Erfolge erzielen. Es kann aber auch dazu führen, den immens wichtigen Widerstandswillen der Muslime gegen negative Entwicklungen in ihren eigenen Ländern zu brechen und den Wunsch, eigene Gemeinschaften zu bilden, verkümmern lassen. Wie können Muslime ihrem universellen Auftrag gerecht werden, wenn sie sich mit dem Status und der Haltung einer Minderheit zufrieden geben?
Welche „Minderheit“ hat es in der Geschichte denn geschafft, eine neue Zivilisation zu gründen? Wir müssen entweder eingestehen, dass die Muslime solch eine Verantwortung nicht haben oder wir müssen versuchen, den 214. Vers der Sure Bakara so zu interpretieren, als wäre er heutzutage herabgesandt worden.
Eines sollten wir festhalten: Muslimische Minderheiten in nichtmuslimischen Ländern beginnen inzwischen, sich am sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Mehrheitsgesellschaft zu beteiligen und ihren Platz in den Entscheidungsgremien zu finden. Ihr Einfluss nimmt zu. Trotzdem stellt sich für diese Muslime die wichtige Frage: Werden wir in der Lage sein, die künftigen Generationen, unsere Kinder und Enkel, zu schützen?
Wir müssen uns zuerst unvoreingenommen mit der Suche nach einer Antwort auf diese wichtige Frage beschäftigen, bevor wir speziellere Themen angehen, wie z. B. das Schächten, Zinsen oder den koedukativen Unterricht. Die brennende Frage ist: Was hält die Muslime in diesen Ländern? Welches Verantwortungsbewusstsein zwingt uns, hier als Minderheit zu leben?
IslamiQ: Man kann zwar in anderen Ländern und sozialen Kontexten leben, aber ähnliche Fragen und Probleme haben. Welche Gefahren birgt es, wenn diese mit unterschiedlichen Fatwas beantwortet werden? Schadet dies dem Umma-Gedanken?
Sifil: Das Konzept der Umma basiert im Grunde auf dem System „gemeinsamer universeller Werte“. Die Kultur und Zivilisation sind es, die dieses Konzept von der abstrakten ideologischen Basis zur konkreten Wirklichkeit transportieren. Es ist offensichtlich, dass das „islamische Minderheitenrecht“ die Muslime auf radikale Weise von ihren geistigen Traditionen entfremdet und sie in einen Status von „Menschen zweiter Klasse“ drängt. Auf der einen Seite haben wir die eigenständige und lebendige Umma, die der Menschheit „das Gute gebietet und vom Schlechten abhält“. Auf der anderen Seite die Minderheit, die in einer nichtmuslimischen Welt mit aller Kraft gegen Ausgrenzung und Benachteiligung kämpft. Dazwischen liegen Welten!
Im Mittelpunkt unserer Diskussion stehen nicht die veränderbaren Bestimmungen des islamischen Rechts, die mit Rücksicht auf regionale/traditionelle Eigenschaften des einen oder anderen Landes angepasst werden. Wir müssen die Erfahrungen der Juden und Christen sehr genau betrachten. War es nicht ebenfalls ein geistiger Bruch, der sie dazu veranlasst hat, die Grenzen der Offenbarung mit der Begründung der „Verschiedenheit von Zeit/Ort/Situation“ zu verändern?