Welchen Einfluss haben muslimische Gemeinschaften auf die Entwicklung eines gewaltbereiten religiösen Extremismus? Für die einen sind sie der Hort von Radikalismus, für die anderen Orte der Immunisierung gegen jede Form von Extremismus. Für Yılmaz Gümüş ist wichtig, dass die Muslime eigene Lösungen entwickeln.
Religiös motivierte Gewalt wird in Deutschland vor allem unter dem Stichwort „Salafismus“ diskutiert, einer Strömung, mit der sich insbesondere Jugendliche identifizieren. Vorab ist es zunächst wichtig, die Problematik zu erläutern. Denn wenn öffentlich agierende Muslime auf ein als Problem dargelegtes Thema, dessen Rahmen und Gründe bereits im Vorfeld von der Gesellschaft festgestellt sind, ohne dass diese tatsächlich auch als Problem der muslimischen Basis verstanden und plausibel vermittelt werden, dann ist klar, dass dieses Phänomen von Muslimen nicht unbedingt als eigenes Problem gesehen wird.
Die Reaktion muslimischer Vertreter auf ein an sie von außen herangetragenes Problem – sei es unter öffentlichem Druck oder aus persönlichen bzw. institutionellen Erwägungen – trägt dazu bei, dass dieses Thema zumindest gedanklich der muslimischen Deutungshoheit entzogen wird. Damit lässt sich ein vermeintliches Problem der muslimischen „Basis“ kaum glaubhaft vermitteln.
Vor diesem Hintergrund soll in diesem Beitrag untersucht werden, auf welcher Grundlage sich religiöser Extremismus entwickelt bzw. welche Umstände zu einem Abgleiten muslimischer Jugendlicher in extremistische Positionen beitragen und wie islamische Instutionen damit umgehen können.
Der Islam – aus demografischer Sicht eine Migrantenreligion – ist einer der wichtigsten Faktoren im Prozess der Identitätsbildung muslimischer Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Soll die Untersuchung der Radikalisierungsursachen aus dieser Perspektive erfolgen, sind drei Aspekte zu beachten:
Erstens: Ein Großteil der Muslime in Deutschland stammt direkt oder indirekt aus Ländern, deren kulturelle Codes seit Jahrhunderten von der islamischen Lebensweise geprägt werden. Zweitens: Ein bedeutender Teil von ihnen lebt, insbesondere im Privatleben, im kulturellen Einflussbereich seiner Religion. Diese ersten beiden Aspekte hängen eng miteinander zusammen und begründen eine sachliche und emotionale Religionszugehörigkeit, da sie auf die Bedürfnisse muslimischer Jugendlicher bei der Identitätsbildung antworten. Drittens: Das reaktionäre Islamverständnis vieler muslimischer Jugendlicher beruht darauf, dass die Religion, die für sie eine existenzielle „Heiligkeit“ besitzt, der in Verruf geraten ist.
Während der Herkunftsaspekt sich auf die charakterliche Entwicklung, die Identität und die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls einer Person bezieht und an sich nicht als ursächlich für die Entstehung eines Gewaltpotenzials aufgefasst werden kann, ist der zweite Punkt – die Pflege der islamischen Kultur im Privatleben – bereits ambivalent. Aus muslimischer Perpektive grundsätzlich als positiv bewertet, kann die Art und Weise, wie dies von der unmittelbaren Umgebung und der Gesellschaft im Allgemeinen betrachtet wird, sowohl positive als auch negative Folgen haben.
Der dritte Aspekt, also die Herausbildung eines reaktionären Islamverständnisses, tritt insbesondere in Zusammenhängen zutage, wo die Muslime allenfalls über geringen Einfluss und wenig Beteiligungsmöglichkeiten verfügen und die Mehrheitsgesellschaft die Deutungshoheit im medialen, wissenschaftlichen und politischen Diskurs übernimmt.
Moscheen und islamische Jugendzentren tragen im Sinne der Identitätsbildung zur Steigerung der Religiösität und zur religiösen Sozialisation bei. Für die Entwicklung eines gewaltbereiten Extremismus, das belegen auch empirische Untersuchungen, sind sie nicht verantwortlich. Die Tatsache allerdings, dass Moscheen und Jugendzentren gegenüber dem im dritten Aspekt erwähnten öffentlichen Diskurs mit einem negativen Islam- und Muslimbild scheinbar wirkungslos ausgeliefert sind, kann dazu führen, dass diese sich andere Anlaufstellen suchen.
Ein junger Muslim, der eine religiöse Lebensweise für sich entdeckt hat und sich im Alltag aus vielfältigen Gründen mit Diskriminierung konfrontiert sieht, kann diese Erfahrungen mit der Ausgrenzung des Islams als solchem aus der Mehrheitsgesellschaft begründen. Die Religion wird für ihn zu einem Abgrenzungsmerkmal gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Diese Reaktion ist unter den gegebenen Umständen nicht befremdlich.
Durch eine religiöse Auffassung, die ihn gedanklich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, und die Übernahme ihrer äußerlichen Unterscheidungsmerkmale kann der junge Muslim dieses Bewusstsein deutlich zum Ausdruck bringen. Die vermeintliche Passivität islamischer Einrichtungen gegenüber den globalen und lokalen Umständen/ Zuständen hinsichtlich der wahrgenommenen Ungerechtigkeit gegenüber Muslime und des negativen Islambildes kann dazu beitragen, dass Jugendliche, die sich einem reaktionär ausgerichteten religiösen Lebensstil zuwenden, neue Anlaufstellen, Persönlichkeiten und Umgebungen suchen.
Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, diese Reaktion auf globale bzw. nationale Entwicklungen in Bezug auf den Islam und die Muslime nur auf Jugendliche zu begrenzen, die sich der Religiosität neu zuwenden. Denn die Auffassung, dass der Islam durch die politische und mediale Darstellung und den Beitrag der Wissenschaftswelt ein negatives Image hat und den Muslimen auf globaler und nationaler Ebene Ungerechtigkeit widerfährt, ist unter Muslimen trotz aller Unterschiede hinsichtlich der religiösen Lebensweise, Gemeindezugehörigkeit und Auslegung ihres Glaubens weit verbreitet.
Die Problematik bezüglich der Äußerungen oder Problemdefinitionen der Akteure der Mehrheitsgesellschaft – hierzu zählen zuweilen auch muslimische Akteure –, welche die Grundlage der Diskriminierungen bilden, tritt bei bestimmten Themen besonders deutlich hervor.
Auf globaler Ebene können folgende Beispiele angeführt werden: Informationen und Kommentare internationaler bzw. nationaler Medien und politischer Akteure zur Entwicklung im Mittleren Osten stehen oft im Widerspruch zu jenen, die Muslime Medien ihrer Herkunftsländer beziehen. Dies führt dazu, dass muslimische Jugendliche eine oppositionelle Haltung gegen die herrschende Meinung der Mehrheitsgesellschaft einnehmen. Es kommt zu Vertrauensverlusten in die eigenen Institutionen. Ihre Haltung deuten sie bestenfalls als eine den Umständen nachkommende pragmatische Passivität.
Mit anderen Worten: Betrachtet man aus dieser Perspektive wie die Entwicklungen auf der Ebene der globalen Politik, z. B. in Palästina, insbesondere aber die Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei medial und politisch verarbeitet wurden, und zieht einen Vergleich zu den Medien der Herkunftsländer der Muslime, die sie neben den deutschen Medien als vertrauenswürdige Informationsquelle heranziehen, so muss man feststellen, dass es nicht verwunderlich ist, dass sich zwischen dem Gerechtigkeitsverständnis und der politischen Einstellung der Mehrheitsgesellschaft und derjenigen der Muslime eine Kluft auftut. Die junge Generation, die für ihre Gedanken zu diesem Thema ein Sprachrohr sucht, wendet sich Personen und Gruppen zu, die nicht zum Spektrum gesellschaftlicher Akteure gehören, und die gegen die öffentliche Meinung eine ihrem Gerechtigkeitsverständnis entsprechende oppositionelle Haltung einnehmen.
Die unangefochtene Sympathie muslimischer Jugendlicher für Jürgen Todenhöfer kann beispielhaft für das Fehlen einer klaren Position auf Seiten bestehender (muslimischer) Institutionen und die Suche nach einer Identifikationsfigur gelten. Dieser Sympathiegewinn lässt sich vor allem auf Todenhöfers klare, von der offiziellen Lesart abweichende Haltung zur Lage der Muslime im Mittleren Osten zurückführen.
Die bisherige Betrachtung verdeutlicht vor allem eines: Die Passivität islamischer Einrichtungen und die unzureichende Repräsentation von Muslimen in Politik, Medien und Wissenschaft führt zu einer wachsenden Unzufriedenheit und Unsicherheit insbesondere unter muslimischen Jugendlichen. Durch das gleichzeitige Fehlen von Foren zum Austausch alternativer Ideen und Überlegungen zu politischen Ereignissen bleiben die Jugendlichen sich mit ihren politischen Vorstellungen selbst überlassen. In diese Lücke stoßen Personen oder Gruppen mit extremistischem Gedankengut.
Neben der Reaktion auf problematische globale und nationale politische Entwicklungen kann auch das Bedürfnis, den eigenen Glauben möglichst authentisch auszuleben, die Jugendlichen zu unterschiedlichen Suchen veranlassen. Dabei wenden sie sich zunächst dem Kern der Religion, dem Koran und den Hadithen und ihrer beispielhaften Umsetzung durch den Propheten und seine Gefährten zu.
Dagegen bleiben das Verständnis der Ahl as-Sunna und die anatolische Mystik trotz ihres eindeutigen Bezuges auf diesen Kern und trotz der Tatsache, dass ein Großteil der Muslime in Deutschland diesem Verständnis folgt, weitgehend unwirksam. Warum beide scheinbar das Bedürfnis nach einem „echten“ Islam nicht stillen können, muss hinterfragt werden. Durch den Rückgang der Sprachkompetenz im Türkischen und Arabischen können junge Muslime inzwischen vielfach nur noch eingeschränkt auf klassisches Wissen zurückgreifen, dessen Inhalte aufgrund der sprachlichen Besonderheiten und auch der Unzulänglichkeit der deutschen Sprache bedingt durch die fehlende Tradition in diese Sprache übertragen werden können.
Das klassische Islamverständnis der Ahl as-Sunna und der Mystik mit ihrer Betonung der Vorbildfunktion des Propheten und dem Lob für seine Gefährten bilden das Rückgrat der Erziehung in den Moscheen und islamischen Vereinen, wodurch die Entwicklung eines gewaltbereiten Extremismus verhindert wird.
Demhingegen werden in den wissenschaftlichen Definitionen zu den Gründen, die zum gewaltbereiten Extremismus verleiten, sowohl wichtige Elemente des traditionellen Religionsverständnisses als auch religiöse Veräußerungen wie der Bart und die Robe, die von einigen Gruppierungen gar als unabrennliche Bestandteile religiöser Praxis gedeutet werden, aufgezählt. Hinzu kommen Islamverständnisse wiederum aus der Wissenschaft, die von einem nicht minderen Teil der Muslime als inakzeptabel angesehen werden. Hierzu reicht es auf die Debatten der letzten Jahre einen Blick zu werfen. Die Ablehnung gegenüber diesen Einstellungen führt auch zur Entwicklung von negativen Haltungen gegen die Vertreter dieser Gebiete.
Im Zusammenhang mit der Institutionalisierung des Islams stellt sich die Frage, ob theologische Fakultäten kurzfristig dem Bedürfnis vieler Jugendlicher nach einem „echten“ Glauben entsprechen können und die wissenschaftliche Peripherie, deren Glaubensvorstellungen so wie in naher Vergangenheit vom traditionellen Islamverständnis der Basis abweichen kann und zugleich den Erwartungen der Politik entgegenzukommen scheint, eine Alternative sein kann.
Die Vermittlung eines traditionellen, auf der Liebe zum Propheten, seinen Gefährten und der „Ära der Glückseligkeit“ (Asr as-Saâda) basierenden Islamverständnisses an Jugendliche, die auf der Suche nach einem „echten“ Islamverständnis, ist eine der wichtigsten Aufgaben der islamischen Gemeinchaften. Dieses Verständnis bietet den besten Schutz vor gewaltbereitem Extremismus. Die theologischen Fakultäten können ihrerseits einen Beitrag zur Erarbeitung der notwendigen Methoden zur Übermittlung dieser traditionellen Werte leisten, indem sie eng mit den islamischen Gemeinschaften zusammenarbeiten.
Zugleich sollten bestimmte religiöse Symbole wie der Bart oder das Kopftuch nicht mehr als Merkmale einer extremistischen Einstellung und ihre Träger als Gefahr gewertet werden. Denn die Diskriminierungen aufgrund bestimmter Zuschreibungen können unter Umständen ein Abgleiten junger Muslime in den gewaltbereiten Extremismus erst auslösen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass Moscheen und islamische Vereine an der Entstehung gewaltbereiter Gruppen (oder Radikalisierung von Einzelpersonen) zwar grundsätzlich keinen Anteil haben, sie allerdings auch einen bedeutenden Teil junger Muslime, der sich auf religiöser Sinnsuche befindet, nicht erreichen. Hauptaufgabe der islamischen Einrichtungen sollte es demnach sein, Methoden zu entwickeln, mit denen jungen Muslimen das traditionelle Glaubensverständnis nahegebracht und Basis einer religiösen Lebensweise verankert werden kann.
Das Erleben einer Stigmatisierung und Diskriminierung des Islams auf globaler und nationaler Ebene kann zu einer Protesthaltung auf Seiten der Jugendlichen führen. Islamische Einrichtungen und muslimische Vertreter, die sich bislang aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten oder aus anderen Gründen gegenüber der in Politik und Medien weitverbreiteten Doppelmoral in Bezug auf den Islam und die Muslime eher passiv verhalten haben, müssen hier eindeutig Stellung beziehen, wenn sie für die wachsende Gruppe qualifizierter junger Muslime eine Alternative bieten wollen. Zugleich müssen sie den Jugendlichen unter ihrem Dach ein Forum bieten, in dem sie ihre Anliegen zur Sprache bringen und sich angemessen politisch betätigen können. Zeitgleich müssen sie ein Beteiligungs- und Aktivitätsfeld für diese Jugendlichen unter den Dächern dieser Einrichtungen bieten, damit diese sich gedanklich und politisch betätigen, zu aktuellen Problemen Haltungen entwickeln und diese hervorbringen können.