Orientalistin Verena Kemm:

„Muslime und Islam differenziert betrachten“

Muslime stehen häufig unter Generalverdacht. Als wäre ihre Religion vom Ursprung her auf Gewalt ausgerichtet, sind sie oft Hass und Hetze ausgesetzt. Dabei wissen viele Menschen kaum etwas über den Islam.

05
04
2016
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Symbolbild: Der Koran enthält die moralischen wie ethischen Grundlagen des Islam © by Themeplus auf Flickr (CC BY-SA 2.0), bearbeitet islamiQ

Die Orientalistin Verena Klemm warnt vor Verallgemeinerungen im Zusammenhang mit dem Islam und Muslimen. Im öffentlichen Diskurs würden Muslime gern pauschal zu nicht-integrierbaren Extremisten erklärt, sagte die Professorin für Arabistik und Islamwissenschaft an der Leipziger Universität der Deutschen Presse-Agentur. „Man bekommt ein viel realistischeres Bild, wenn man erst einmal differenziert anstatt verallgemeinert.“ Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2015 zeige, dass sich fast alle der hier lebenden Muslime Deutschland verbunden fühlen und die gesellschaftlichen Grundwerte teilten.

Die Professorin sieht im Koran selbst keine Anleitung zur Gewalt gegen Andersgläubige. Er sei zwar teilweise durch die konfliktreiche Situation, wie sie auch die Entstehungsgeschichte anderer Religionen kenne, geprägt. In der islamischen Theologie gebe es von Anfang an sehr lebendige Lehrtraditionen, die die Offenbarungen auf ihre historischen Anlässe zurückführen oder sie symbolisch verstehen. Er enthalte aber ebenso viele Aussagen, die ein friedliches Miteinander gebieten. „Nur gewaltbereite Muslime suchen gezielt kriegerische Verse heraus und propagieren sie als absolute und immerfort gültige Wahrheit. Dies haben sie bezeichnenderweise mit den europäischen Islamfeinden gemein, die, ebenfalls mit politischer Agenda, denselben Umgang mit dem Koran praktizieren.“

Klemm zufolge hat auch die Imperial- und Interventionspolitik des Westens im 20. Jahrhunderts immer gewaltvollere islamistische Strömungen hervorgebracht: „Parallel dazu trugen arabische Diktatoren das ihre dazu bei, humanistische Theologen und Autoren gewaltsam zum Schweigen zu bringen.“ So hätten ultrakonservative oder Gewalt predigende religiöse Autoritäten das Feld übernehmen können. „Um Jugendliche nicht in solche Milieus zu treiben, braucht es – in der islamischen Welt genauso wie hier – soziale Gerechtigkeit, Bildung, Arbeit, Pluralismus, politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe.“

Geistliche Führer in islamischen Staaten würden sehr wohl auf zunehmende Gewaltbereitschaft und die Radikalisierungen reagieren. Es gebe entschiedene Abgrenzungen – von berühmten Theologen bis hin zu kleinen Moscheevereinen und Individuen in Deutschland. „Sie werden im Westen meist nur nicht gehört. Dabei gehören viele Muslime selbst zu den Leidtragenden islamistischer Gewalttaten“, sagte Klemm. Oft würden sie hierzulande ein weiteres Mal sanktioniert, weil man sie pauschal mit islamistischen oder sexistischen Gewalttätern identifiziere. (dpa, iQ)

Leserkommentare

Manuel sagt:
Die USA hat in Lateinamerika schlimme Verbrechen begangen, wieso gibt es dann da keinen Extremismus oder Terrorismus?
05.04.16
14:47
Charley sagt:
Es gibt auch so etwas wie implizite Gewaltaufforderung. Natürlich will niemand "der Häßliche sein", und wenn man seine Religion als "Folklore" betreibt (das gibts auch im Christentum), so hat man seine Sozialisierung in der "Gemeinde" und fühlt sich ansonsten wohl. Wer wollte da "gewalttätig" werden wollen? - Etwas anderes ist die Gewalt, die man sich selbst anttut, wenn man in Dogmatismus einem Koran huldigt und in Buchstabenfrömmelei (die Kopftuchdiskussion ist da nur ein Beispiel) sozial unverdauliche Eckpfeiler einrammt. Durch das Nicht-Auflösen von religiösen Vorschriften in ein Allgemeinmenschliches sondert man sich ab, wird letztlich Sekte, die mit Wortbekenntnissen sich sozialisiert. In der spirituellen Erfahrung verliert sich ein Einzelbekenntnis, denn die Erleuchtung erfährt ein Christ nicht anders als ein Zen-Buddhist. Aber genau das schließt der Islam aus, indem er die evtl. spirituelle Erfahrung gänzlich der Auslegung und Interpretation des Koran unterwirft. So kompliziert und kunstvoll das auch gemacht wird, es bleibt dogmatisch am Ende. Da ist der Islam richtig "katholisch". Und genauso, wie der Katholizismus in seinem Dogmatismus übergriffig ist (wenn er gesellschaftlich gestalten will), so ist der der Islam auch. Darin liegt eine "Gewalttätigkeit", die überhaupt nicht unterschätzt werden darf. Es wird nur meistens nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ist es denn ein Wunder, dass die Gewalttätigkeit der Saudis sich sehr gelehrt aus dem Koran begründet? Insofern der Islam koran-dogmatisch ist, halte ich ihn darum für sehr gewalttätig. Wegen dieser Übergriffigkeit der Relgion sind die westlichen Gesellschaften ja auch säkular geworden. Und jede Religion, die gesellschaftlich normierend auftritt auf ihrem religiös-dogmatischen Hintergrund heraus, ist eben gewalttätig. Das fängt schon kleinen Ansprüchen an, die dogmatisch gefordert werden. Sobald man diese Ansprüche in Zusammenhänge außerhalb der eigenen Gemeinde ("Folklore-Club") trägt, fängt die Gewalttätigkeit schon an!
05.04.16
16:34