Der Vorfall in Kiel, bei dem eine muslimische Frau auf offener Straße verprügelt wurde ist kein Einzelfall. Sarah Isal, Vorsitzende des Europäischen Netzwerkes gegen Rassismus (ENAR) schreibt, wieso Musliminnen europaweit als erste den Preis für Islamfeindlichkeit zahlen.
Muslimische Frauen leiden am stärksten unter der Islamfeindlichkeit in Europa. Wie andere Frauen auch, erfahren sie Ungleichbehandlung im Arbeitsleben und sind öfter verbaler und physischer Gewalt ausgesetzt als Männer. Aber bei den muslimischen Frauen gibt es noch zusätzliche Faktoren, die zu Diskriminierungserfahrungen führen, wie die religiöse- und ethnische Zugehörigkeit. Jedoch wurde zur Dokumentationen umfangreicher Daten und zur Bekämpfung dieser mehrdimensionalen Form des Rassismus bisher wenig unternommen. Dies ist das Ergebnis des neuen Berichts “Forgotten Women: the impact of Islamophobia on Muslim Women” des Europäisches Netzwerks gegen Rassismus (ENAR), das acht europäische Länder impliziert: Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Schweden und Großbritannien.
Rassismus auch eine Frage des Geschlechts
Das ENAR initiierte dieses Projekt, da wir merkten, dass Islamfeindlichkeit ebenso eine Frage des Geschlechts, wie eine der ethnischen Zugehörigkeit ist und weil muslimische Frauen die Unterstützung von Feministen und Antidiskriminierungsstellen verdienen. Allerdings wurden und werden Musliminnen bis heute von antirassistischen und feministischen Bewegungen gleichermaßen vernachlässigt, insbesondere aufgrund der negativen Stereotypisierung innerhalb des öffentlichen Mainstream-Diskurses. Dieses Projekt ist bestrebt diesen Umstand zu ändern und die Kooperationen zwischen antirassistischen und feministischen Bewegungen zu stärken, um die mehrfache Diskriminierung, von der muslimische Frauen oder Frauen, die als solche wahrgenommen werden, betroffen sind, besser bekämpfen zu können.
Der ENAR-Bericht
Der Bericht ist das Ergebnis von Forschungen und Dialogen in den genannten acht Ländern über anderthalb Jahre und beleuchtet die sehr spezifischen Diskriminierungserfahrungen, die muslimische Frauen sammeln. Sowohl bei der Diskriminierung im Arbeitsleben als auch bei Hassverbrechen tritt das Kopftuch als Trigger auf, da es als sichtbares Zeichen der Identität als Muslimin und Frau wahrgenommen wird.
Der Bericht zeigt, dass muslimische Frauen im Arbeitsleben Opfer von drei Arten von Benachteiligungen werden: geschlechtsspezifische, ethnische und religiöse Benachteiligungen.
In Vorstellungsgesprächen werden beispielsweise 12,5% der pakistanischen Frauen nach ihren Plänen in Bezug auf Ehe und Familienplanung befragt, wohingegen lediglich 3,3% der weißen Frauen solche Fragen gestellt werden, also beinahe vier Mal weniger. Demnach werden Frauen mit Kopftuch als familienorientierter betrachtet.
Das Kopftuch ist ein zusätzliches Hindernis bei der Suche nach und dem Erhalt eines Arbeitsplatzes. In Deutschland luden z.B. 18% der Unternehmen Bewerberinnen mit deutsch klingenden Namen zum Vorstellungsgespräch ein, während nur 13% der Bewerberinnen mit türkisch klingenden Namen eingeladen wurden. Bei Bewerbungen von muslimischen Frauen mit Kopftuch auf dem Bewerbungsfoto luden nur 3% der Unternehmen diese zum Vorstellungsgespräch ein.
Geschlechtsspezifische Islamfeindlichkeit in Deutschland
In Deutschland hat das Verbot von religiösen Symbolen für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen in acht Bundesländern durch Landesgesetze im Jahr 2003 teilweise auch andere Arbeitgeber in ihrer Einstellung gegenüber verschleierten Frauen beeinflusst. Zusätzlich erlaubt das Recht auf unternehmerische Freiheit öffentlichen und privaten Unternehmen und Institutionen, Bewerberinnen abzulehnen, solange sie die Unvereinbarkeit des Kopftuches mit unternehmensinternen Anforderungen und die Verbindung mit wirtschaftlichem Verlust oder Störungen der Arbeit rechtfertigen können.
Bezogen auf Hassverbrechen und -reden ist es in den meisten Ländern wahrscheinlicher, dass muslimische Frauen öfter zum Opfer fallen, als Männer, insbesondere, wenn sie ein Kopftuch tragen. Beispielsweise richtete sich in Frankreich, erfasst durch das „Kollektiv Gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich“, im Jahr 2014 81,5% der islamfeindlichen Gewalt gegen Frauen, von denen die meisten ein sichtbares religiöses Zeichen trugen. Eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Landes Brandenburg stellte außerdem fest, dass 59% der Teilnehmerinnen beleidigt, beschimpft oder angepöbelt wurden. Da sind die Übergänge zwischen verbaler und physischer Gewalt nicht klar, ebenso wie rassistische und sexistische Beleidigungen oder Gesten. Das überraschende daran ist, dass diese Vorfälle größtenteils in öffentlichen Räumen auftreten.
Dennoch werden die meisten der Vorfälle nicht angezeigt. Im Rechtsrahmen Deutschlands werden zudem nur politisch motivierte Verbrechen erfasst, welche auf der Motivation des mutmaßlichen Angreifers gegenüber der „politischen Meinung, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religion, Glauben, sexueller Orientierung, Erscheinung oder dem sozialen Status“ des Opfers basieren. Explizite islamfeindliche Verbrechen werden von der Polizei also nicht als solche erfasst. Hinsichtlich jener Verbrechen, die als rassistisch motiviert zur Anzeige kommen, gibt es nur einen schwachen Bezug zur rassistischen Voreingenommenheit, welche die geschlechtsspezifische Diskriminierung nicht berücksichtigt, wenn es zu Gerichtsurteilen kommt.
Stereotype Darstellung der muslimischen Frau
Der Bericht zeigt zudem, dass starke Vorurteile und stereotype Darstellungen von muslimischen Frauen in den Medien und öffentlichen Diskursen verbreitet sind. Diese negative Aufmerksamkeit für muslimische Frauen in den Medien und im politischen Diskurs trägt zur Schaffung eines fruchtbaren Bodens für diskriminierende Praktiken und Gewalt bei und führt zu strukturellen Ungleichbehandlungen.
Wir hoffen nun, dass diese Ergebnisse Entscheidungsträger auf nationaler und europäischer Ebene dazu verleiten, in Aktion zu treten. Die Europäische Union kann es sich nicht leisten, muslimische Frauen auszuschließen und zu vergessen, wenn sie für die allgemeine Gleichbehandlung der Geschlechter und für den Kampf gegen Rassismus steht. Die mehrfache und überschneidende Diskriminierung und Gewalt, denen muslimische Frauen ausgesetzt sind, müssen in Gesetzen und der Politik angegangen werden, wobei die kombinierten Auswirkungen aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Religion u.a. anerkannt werden müssen. EU- und nationale Gesetze, die gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und vor Hassverbrechen schützen, müssen auch die muslimischen Frauen effektiv schützen.
Deshalb hoffen wir auch, dass unsere Arbeit den Beginn einer fruchtbaren zukünftigen Zusammenarbeit zur Ausrottung von Diskriminierung und Rassismus gegenüber allen Frauen markiert.