Heute vor 21 Jahren wurde in Bosnien ein Völkermord begangen. Mitten in Europa ermordeten serbische Soldaten mehr als 8.000 muslimische Bosnier. Esra Lale sprach mit Zeitzeugen und Hinterbliebenen, die nur eines wollen: Srebrenica darf nicht vergessen werden!
Srebrenica war heute vor 21 Jahren Schauplatz der grausamsten Tat in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Serbisches Millitär verschaffte sich Zugang in die UN-Schutzzone um Srebrenica und ermordete blutrünstig über 8.000 Muslime– hauptsächlich Männer.
Unter den Ermordeten befand sich auch der Cousin der heute 27-jährigen Mersiha Hadziabdic. Er wurde damals – wie viele andere – nach seiner Ermordung in ein Massengrab geworfen. Hadbziabic stammt aus der Stadt Prijedor, die traurige Berühmtheit für ihre Konzentrationslager, das bisher größte Massengrab und die weißen Tücher, mit denen nicht-serbische Bewohner sich und ihre Häuser markieren mussten, erlangt hatte. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Sie kann sich kaum an ihre „Heimat“ erinnern, dennoch hat der Genozid sie geprägt. Denn „Tod, Flucht und Anderssein“ waren ihre stetigen Begleiter.
Doch Hadziabdics Heimatstadt erkennt den Genozid nach wie vor nicht an. Auch wenn 2007 der Internationale Gerichtshof das Verbrechen in Srebrenica als Völkermord bewertete, nimmt die Republika Srpska, zu der Prijedor heute gehört, dieses Urteil nicht an. Dass mittlerweile Mitglieder des Militärs, sowie der politischen Führung wegen Kriegsverbrechen angeklagt und verurteilt worden sind, ist für Hadziabdic und alle andere Bosniaken nur die Erfüllung einer langersehnten Forderung.
Die Trauerstadt Srebrenica besuchte die 27-jährige das erste Mal vor zwei Jahren und sah die vielen trauernden und schmerzerfüllten Menschen, die ihre Liebsten in diesen Gräbern beweinten. Gräber, in denen sterbliche Überreste ruhen. Überreste, die aus den Massengräbern in und um Srebrenica ausgegraben werden, um dann am Jahrestag des Völkermords – dem 11. Juli – im Rahmen einer Trauerfeier gebührend beigesetzt zu werden. Dieses Jahr waren es weitere 127 Opfer. Der Jüngste der heute beerdigten Opfer war ein 14-jähriger Junge, der Älteste ein 77-jähriger Mann.
Schon zweimal nahm der in Bosnien geborene Samir Fetic an der Massenbeerdigung teil und fühlt „Wut und Ohnmacht“, da viele der Mütter von Srebrenica auch 21 Jahre nach dem Genozid immer noch nicht die Gewissheit haben, wo ihre Söhne, Ehemänner und Verwandten verscharrt wurden. Der 43-Jährige und seine Familien lebten damals in Zentralbosnien, in der Aufnahmeregion der Binnenflüchtlinge. Heute lebt Fetic in Düsseldorf und arbeitet in der Landesverwaltung NRW. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Serben sich zu ihrer Schuld bekennen.
Auch Esnaf Begic fordert eine klare Stellung zum Genozid in Srebrenica. Damit sich das Massaker in Srebrenica nicht wiederholt, sei die Etablierung einer Kultur der Ermahnung zwingend notwendig. Der Islamwissenschaftler ist der Meinung, dass die nationalen Parlamente der europäischen Länder entsprechende Resolutionen zu dem Genozid an den Bosniaken verabschieden müssen. Der 43-jährige bezeichnet den Völkermord als das „dunkelste Kapitel in Europa seit dem Holocaust“ und hat dies später hautnah spüren müssen. Kurz vor dem Ende des Bosnienkrieges wurde Begics Vater von einer serbischen Granate verwundet und erlag 17 Monate später seinen Verletzungen.
Der Bosnienkrieg hielt von 1992 bis 1995 an und forderte über 100.000 Menschenleben. Die Tötung der über 8.000 Bosniaken im Juli 1995 in Srebrenica markierte den traurigen Höhepunkt des Krieges. Neben den abertausenden Todesopfern sind ca. 2.2 Millionen Bosniaken vor dem Krieg geflohen oder wurden vertrieben.
Einer von ihnen war Sejfuddin Dizdarevic. Der Krieg hatte ihn als 18-Jährigen zum Flüchtling gemacht. Dizdarevic und seine Familie lebten zur Zeit des Völkermordes in Westbosnien und waren weitestgehend sicher. Heute lebt der 39-Jährige in Düsseldorf und seine Familienmitglieder sind auf sieben verschiedene Länder der Erde verstreut.
Dizdarevic nahm vor sechs Jahren ebenfalls am Massenbegräbnis der exhumierten sterblichen Überreste in Srebrenica teil und beschreibt dieses Erlebnis, bei dem ein „Meer von Angehörigen anwesend war“, als das Traurigste, was er jemals in seinem Leben erlebt hat. Daher wolle er für die Zukunft „alles Menschenmögliche unternehmen, damit so etwas nicht vergessen wird.“
Viele dieser Angehörigen der Ermordeten organisierten sich später in Opferverbänden. Rund 8.000 Hinterbliebene der Opfer haben sich zu der größten Gruppe zusammengeschlossen, die unter dem Namen „Mütter von Srebrenica“ bekannt ist. Der Verband besteht hauptsächlich aus Frauen, die ihre Söhne, Ehemänner und Brüder verloren haben.
Die 28-jährige Munevera Yıldırım lebte jahrelang in Bosnien und kennt viele „Mütter“ persönlich. Sie hörte sich die vielen traurigen Geschichten der Frauen an: „Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht daran denken, was sie verloren haben. Ihre beiden größten Wünsche sind, dass die Überreste ihrer Angehörigen gefunden werden und der Gerechtigkeit Genüge getan wird.“
Dafür reichten ‚die Mütter‘ im Juni 2007 beim Landgericht in Den Haag eine Klage gegen den niederländischen Staat und die Vereinten Nationen ein. Nach Auffassung der Hinterbliebenen hatten die Vereinten Nationen keine ausreichenden Maßnahmen für den Schutz der Menschen in Srebrenica ergriffen. Vier Jahre später, in seinem Urteil am 10. Juli 2008 billigte das Gericht den Vereinten Nationen jedoch Immunität zu.
Noch immer warten sie und alle anderen Hinterbliebenen auf die internationale Anerkennung des Völkermords – vor allem von Seiten der Republika Srpska. Und noch immer warten Mütter, Töchter und Ehefrauen auf die langersehnte Nachricht, dass die Überreste ihrer Söhne, Väter und Ehemänner in den Massenbegräbnissen gefunden wurden. Nie werden sie vergessen, wie das serbische Militär ihre Männer und Kinder ermordet hat. Nie werden sie Srebrenica vergessen. Das sollte niemand von uns.