Albakr und der geplante Anschlag, der glücklicherweise vereitelt werden konnte, haben rechte Ängste bestätigt. Doch wovor wir in Deutschland wirklich Angst haben sollten, erklären die Journalisten Houssam Hamade und Paul Simon.
Nichts ist schwieriger, als sachlich und angemessen über Terror zu reden. Noch schwieriger ist es, besonnen mit ihm umzugehen. Aber wir müssen es versuchen. Vor kurzem ist der flüchtige Terrorist Jaber Albakr in Leipzig von drei Syrern festgesetzt und der Polizei übergeben worden. Zuvor hatte die Polizei seine offenbaren Anschlagspläne vereitelt und seinen Sprengstoffvorrat zerstört.
Vorfälle wie diese sind Wasser auf die Mühlen der Petrys und Trumps dieser Welt, welche die Angst vor dem Terror instrumentalisieren, um gegen Flüchtlinge und Muslime Stimmung zu machen. Rechtsextreme nahmen die Enttarnung Albakrs sofort als Anlass zur Agitation: „Es ist nicht mehr weit weg. Es hat unsere Heimat erreicht. Keiner kann sich mehr verstecken“, heißt es alarmistisch aus einem Demonstrations-Aufruf der „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“, wie der Focus berichtete.
Auch erschreckende Wortmeldungen einiger Nachbarn, die in den „Ausländern“ in ihrem Viertel eine Gefahr sehen, haben die Reporter aufgezeichnet: „Ein Anwohner sagt, man solle ‚das ganze Viehzeug herauswerfen‘. Sein Nebenmann sagt, er würde am liebsten das Maschinengewehr zücken.“ Es ist nicht nur der Terrorismus, der sofort als Anlass zur Fremdenfeindlichkeit gedeutet wird. Ein Blick in die sozialen Medien zeigt, dass der permanente Konsum von Gewaltnachrichten, von Geschichten von “fremden Tätern” und “deutschen Opfern” wie eine rechte Hetzseite es selbst tituliert, längst zum Volkssport geworden ist: Kriminalität, Vergewaltigungen, Terror, all das soll zu einer einzigen Gefahr verschwimmen. „XY-Einzelfall“, der ironische Titel einer dieser Facebookseiten besagt deutlich, worum es bei dem Dauerkonsum solcher Nachrichten eigentlich geht: Eben nicht um Einzelfälle, sondern um Stimmungsmache gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe.
Aber auch im zivilisierten politischen Diskurs wird die Terrorgefahr in Dienst genommen, um gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung zu argumentieren. Auf prägnante Weise machte dies etwa in der FAZ Reinhard Müller. In einem kurzen Kommentar anlässlich der Ereignisse in Chemnitz schrieb er: „Deutschland ist Kampfgebiet des internationalen Terrorismus. Islamistische Attentäter, die möglichst viele Unschuldige in den Tod reißen wollen, leben unbehelligt, sind als Flüchtlinge eingereist, wurden womöglich mit einem Mordauftrag hierhergeschickt.“ Dann holt er aus zum großen Rundumschlag: Wolle der Staat der gefährlichen Lage, die er „teils selbst verschuldet hat“, wieder Herr werden, so müsse er sich auch „von einigen Lebenslügen verabschieden“, und das heißt: endlich akzeptieren, dass die Flüchtlinge das Leben in Deutschland merklich gefährlicher und schlechter gemacht hätten: „Offensichtliche rechtsfreie Räume und das Gefühl, mit sogenannter Klein- oder Alltagskriminalität allein gelassen zu werden“, seien genauso ein Verhängnis wie die – in Müllers Wahrnehmung verbreitete – Forderung, „in jedem geflüchteten Syrer sei ein potentieller Steve Jobs zu sehen, in jedem Migranten ein Gewinn für den Arbeitsmarkt und in jedem muslimischen Einwanderer eine Bereicherung für den säkularen Staat.“
Der Terror dient hier als rhetorische Klammer, die alle Ängste, die man angesichts der Flüchtlingspolitik nur haben könnte, zusammenhält und der Argumentation eine größtmögliche emotionale Wucht verleiht: Wer schließlich würde ausgerechnet nach einem vereitelten Terrorangriff dieser Suada widersprechen wollen? Wäre man damit nicht ein „Verharmloser“?
Diese Beispiele verdeutlichen, wie wichtig, aber auch wie schwierig es ist, angesichts solcher hoch-emotionalen Diskurse auf den Fakten zu bestehen. Also: Was sind die Fakten?
Thomas de Maizière sprach kürzlich von 520 sogenannten islamistischen „Gefährdern“ – also potentiellen Gewalttätern, die überwacht werden müssen. Die Terrorgefahr gehe sowohl von aus dem Ausland einreisenden Terroristen aus wie von sich etwa über das Internet radikalisierenden Einzeltätern in Deutschland oder Rückkehrern aus dem Krieg in Syrien. Bedenkt man dabei, dass dem nur 20 als Gefährder eingestufte Rechtsextreme gegenüber stehen, wie etwa die Abgeordnete der Grünen Irene Mihalic monierte, ergibt sich ein scheinbar klares Bild: Der islamistische Terror ist die größte Gefahr für Deutschland. Die Wahrheit jedoch sieht anders aus, wie auch der im Juni vorgestellte Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2015 klar stellt.
Dort ist nämlich vor allem von einem „drastischen Anstieg der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund“ die Rede. Besonders „der Anteil der Gewalttaten gegen Asylbewerberunterkünfte hat sich mehr als verfünffacht.“ Insgesamt gebe es in Deutschland 22.600 Rechtsextremisten, 11.800 von ihnen gelten als „gewaltorientiert.“ Rechtsextreme Hassverbrechen sind laut Bundesministeriums des Inneren von 2001 bis 2015 stetig angestiegen. Zwischen 2014 und 2015 hat sich ihre Zahl auf über 10.000 fast verdoppelt, 1000 davon seiten gewalttätige Verbrechen. Dem stehen nur 300 Fälle “politisch motivierter Ausländerkriminalität” gegenüber. Auch dass ab 2017 die islamfeindliche Straftaten unter den rechtsextremen Hassverbrechen gesondert erfasst werden sollen, liegt vermutlich nicht an größerer Sensibilisierung für das Thema, sondern primär an der Tatsache, dass die Zahl solcher Verbrechen gerade in letzter Zeit stark zugenommen hat.
Die “Zeit” zählte mindestens 156 Menschen, die seit 1990 von Neonazis ermordet wurden. Im gleichen Zeitraum forderte der islamistische Terrorismus in Deutschland, die beiden getöteten Täter von Ansbach und Würzburg in diesem Jahr nicht mitgezählt, „nur“ zwei Opfer: Amerikanische Soldaten, die im Jahr 2011 bei einem Bombenattentat in Frankfurt ermordet wurden. Die meisten Anschlagspläne auf deutschem Boden wurden vereitelt.
Eine weitere Statistik stellt die Wahrnehmung, Europa sei wegen des Islamismus einer nie dagewesenen Terrorgefahr ausgesetzt, in Frage: Selbst die heutige Zeit müsste nämlich als friedlich gelten, vergliche man sie mit den 70er Jahren, als besonders in Großbritannien oder Spanien der Terrorismus Jahr für Jahr Hunderte von Opfern forderte. Dennoch ist die Gefahr des islamistischen Terrors selbstverständlich kein Hirngespinst. Sie ist jedoch, gerade da wo wir ihn am unmittelbarsten erfahren, auch ein medial produziertes Phantom. Das, was der Politikwissenschaftler Herfried Münkler einmal die „labile Kollektiv-Psyche“ der „postheroischen Gesellschaften“ nannte, ist empfindlich und reizbar. In den medialen Nervensystemen unserer Gesellschaft können Bilder von Terrorakten endlos wiederholt, multipliziert und verbreitet werden.
Hinzu kommt, dass die Morde der IS-Anhänger in Europa, anders als die in der Regel ungefilmten, oft erst viel später dokumentierten Gewalttaten der Neonazis, sich in der völligen Öffentlichkeit abspielten. Jeder hat die abscheulichen Ereignisse von Paris und Nizza live verfolgen können. Millionen von Menschen wurden in Echtzeit über ihre Twitter- und Facebook-Feeds mit Fotos und verwackelten Videos versorgt, die schreckliche Szenen zeigten. Hinzu kommt die globale Dimension des islamistischen Terrorismus: Frankreich ist nah, aber auch die Anschläge in Nigeria, Lybien und dem Irak sind durch die Fernseh- und Youtubebilder gar nicht so fern.
Auch wenn sich jede Aufrechnerei oder gar Relativierung verbietet: In Deutschland ist derzeit, gemessen an den Opfern sowie der Zahl der gewaltbereiten Täter, das Problem des Rechtsextremismus ein viel größeres als das des islamistisch motivierten Terrors. Der politische Diskurs mag das oft nicht widerspiegeln, doch tatsächlich entspricht dies sogar der Wahrnehmung der Bevölkerung: Wie eine Umfrage des Infratest-Instituts belegt, die freilich vor den Ereignissen in Chemnitz erhoben wurde, hielten 84 Prozent der Befragten rechtsextreme Gewalttaten für eine Gefahr. Nur 68% sagten das gleiche über islamistisch-motivierte Anschläge.
Wer die Radikalisierungstendenzen im rechten Millieu beobachtet, die Verschärfung der „Widerstands“-rhetorik und die Apokalyptik solcher AfD-Politiker wie Björn Höcke, welcher immer wieder davon munkelt, seine Partei sei die „letzte friedliche Chance“ für dieses Land, darf sich keine Illusionen machen, dass aus militanten Worten zunehmend echte Gewalt wird. Nicht nur Muslime, Flüchtlinge und Nicht-Weiße Menschen sind die Opfer, auch Gewalt gegen Politiker nimmt zu.
Doch auch Jahre nach der Enttarnung des NSU wollen allzu viele Menschen diese Realität noch leugnen. Ein mutmaßlicher Grund dafür ist schmerzhaft, sollte aber nicht beschwiegen werden: Die Opfer von rechter Gewalt sind eher „die Anderen“, „Ausländer“ nämlich, oder die Politiker, die in der Provinz den Kopf hin halten – nicht aber der deutsche Durschnittsbürger, wie es bei islamistischen Attentaten der Fall wäre. Auch das verzerrt die Wahrnehmung des Terrorismus. Kürzlich gab erstmals ein Referatsleiter des Bundesverfassungsschutzes zu, Akten im Verbindung mit dem NSU seien nur deshalb vernichtet worden, um zu vertuschen und unangenehme Fragen zum Versagen seiner Behörde zu vermeiden. Einen Skandal löste das nicht aus, denn Deutschland hat im Moment offenbar andere Sorgen.
Der Kontext einer erstarkenden, anti-muslimischen Rechten erschwert es dabei auch, mit dem islamistischen Terrorismus vernünftig umzugehen. Nicht nur, weil er zu (fremdenfeindlich-motivierten) Überreaktionen verleiten könnte. Er stellt uns auch vor ein anderes Dilemma: Wie den islamistischen Terrorismus aktiv bekämpfen, ohne die Stigmatisierung der Muslime voranzutreiben?
Bei vielen Muslimen führt die oft einseitig empfundene Betonung islamistischer Gefahr verständlicherweise zu Abwehrverhalten. Man fühlt sich, als sei eine riesengroße Verschwörung im Gange, als lehne die Gesellschaft tatsächlich den Islam und die Muslime ab und begegne ihnen mit prinzipiellem Misstrauen, während rechte Gewalt verharmlost wird.
Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, wenn neben einer Bereitschaft zur vertieften Kooperation zwischen Staat und den islamischen Religionsgemeinschaften zur Radikalisierungsprävention, auch immer wieder Unbehagen darüber geäußert wird, dass die „Sicherheitsaspekte“ bei der gesellschaftlichen und staatlichen Auseinandersetzung mit dem Islam derart im Vordergrund stehen, etwa bei den Bundesislamkonferenzen. Unter anderem könne so der stigmatisierende Eindruck, normale Muslime stellen eine Bedrohung dar, reproduziert werden. Der Gegenvorwurf, man wolle mit so einer Argumentation vor allem das Problem weit von sich weisen und (selbst-) kritische Fragen über die Ursachen von Radikalisierungsanfälligkeit bei jungen Muslimen abwiegeln, ist leicht bei der Hand.
Sinnvoll wäre es, die Konfliktlinien neu zu verschieben. Auf der einen Seite stehen Menschen, die an Demokratie, Frieden und Menschenrechte glauben, ganz abgesehen von Herkunft und Glauben. Auf der anderen Seite die Extremisten deutscher, arabischer, türkischer oder sonstwelcher Herkunft.
Normalerweise wäre es nicht bemerkenswert, dass ausgerechnet Syrer den Terroristen Jaber Albakr festsetzten und der Polizei übergaben, doch in einer normalen Situation leben wir offenbar gerade nicht. In der Freude über die „guten Syrer“ drückt sich implizit auch ein großes Misstrauen gegenüber Flüchtlingen aus, wie etwa Andrea Backhaus in der ZEIT analysierte. Dennoch: diese Freude ist auch der Ausdruck des Wunsches vieler, gemeinsam mit Muslimen der Terrorgefahr und dem radikalen Islamismus zu begegnen. Will der nicht-muslimische Teil der Gesellschaft ihren Beitrag dazu leisten, dass das gelingt, sollte sie als erstes die Fremdenfeindlichkeit und den erstarkenden Rechtsextremismus als das anerkennen, was sie sind: Nämlich das deutsche Problem Nr. 1.