Sizilien

Das andere Andalusien

Vielen ist die Geschichte der Muslime in Andalusien bekannt. Doch wird die 250-jährige muslimische Herrschaft in Sizilien kaum erwähnt. Dr. Craig Considine schreibt über das vergessene Erbe.

09
07
2017
Sizilien - Palermo
Sizilien - Palermo © by Jean-Pierre Dalbéra auf flickr, bearbeitet iQ

Oft denke ich an den Ruhm des maurischen Spaniens oder „Al-Andalus“. Zwischen 711 und 1492 n. Chr. pflegten die islamischen Herrscher den Geist der „convivencia“, Spanisch für „Zusammengehörigkeit“ oder „Koexistenz“. Dieser ermöglichte einen nie dagewesenen Grad des interreligiösen Austauschs auf dem europäischen Kontinent. Andalusien mag den Höhepunkt christlich-muslimisch-jüdischen Zusammenlebens markieren. Doch auch Sizilien, eine zum heutigen Italien gehörende Insel, hat eine brillante Geschichte zu erzählen, die leider allzu oft ignoriert oder nicht angemessen gewürdigt wird.

Die einzigartige Gesellschaft, die sich auf Sizilien herausbildete, wird von europäischen, christlichen oder islamischen Historikern kaum erwähnt. Im Verlauf mehrerer Jahrhunderte entstand durch interreligiösen Austausch auf kulturellem, religiösem und wissenschaftlichem Gebiet eine hybride Kultur mit normannischen, arabischen und byzantinischen Einflüssen.

Die Geschichte Siziliens wird allzu oft ignoriert und nicht angemessen gewürdigt.

Eine Zeitlang bildete Sizilien tatsächlich die Schnittstelle zwischen Ost und West, Islam und Christentum. Die Insel war einer der wenigen hellen Flecken des Mittelalters.

Arabisch-islamische Herrschaft

Muslime werden selten mit der italienischen Geschichte in Verbindung gebracht. Dabei begann der islamische Kontakt mit Sizilien bereits rund 20 Jahre nach dem Tode des Propheten Muhammad, zur Zeit des Kalifen Usman. Der syrische Gouverneur Mu’âwiya sandte eine Marine-Expedition nach Sizilien aus, und dehnte so die Kampfhandlungen mit dem byzantinischen Reich im Osten aus. Zweihundert Jahre lang versuchten die Muslime mehrfach, die Insel – damals eine byzantinische Provinz – zu erobern. Aber erst 827 n. Chr. konnten sie mit der Eroberung Mazaras am westlichen Ende der Insel schließlich dort Fuß fassen. Die erfolgreiche militärische Expedition wurde von der nordafrikanischen Provinz Ifriqiya aus durchgeführt, dem heutigen Tunesien.

Anders als Andalusien fiel Sizilien den Muslimen nicht in den Schoß. Die Einnahme der Insel dauerte mehr als 75 Jahre. Nachdem sie sich Sizilien einmal gesichert hatten, teilten die Muslime die Insel in drei Verwaltungsbezirke, die ihren Namen bis heute behalten haben. Der erste, Val di Mazara, umfasst die Westküste. Seine Hauptstadt nannten die Araber Palermo. Zentral-Sizilien, einschließlich der Stadt Syracuse, erhielt den Namen Val di Noto, die verbleibende und zuletzt eroberte Region wurde Val Demone genannt. In diesem letzten Bezirk lagen die Städte Catania und Messina. Das Wort „Val“ wird vom arabischen Begriff für „Provinz“ abgeleitet.

Bis 1071 n. Chr beherrschten drei große muslimische Dynastien. Die ersten Herrscher waren die Aghlabiden, eine sunnitische Familie aus Ifriqya, die sich vom Abbasiden-Kalifat in Bagdad losgesagt hatte. Den Aghlabiden folgten die schiitischen Fatimiden, die ihre Vorgänger 909 n. Chr. vertrieben und 916 n. Chr. in Mahdia einen sizilianischen Außenposten errichteten. 969 n. Chr. eroberten die Fatimiden schließlich Ägypten und verlegten die Hauptstadt des Kalifats von Bagdad in das neu gegründete Kairo. Fatimidische Emire bzw. Gouverneure herrschten später über Ifriqiya und Sizilien.

„Palermo ist mit zwei Gaben beschenkt: Pracht und Reichtum. Es besitzt alle Schönheit, die man sich zu erträumen oder vorzustellen vermag. Breite Wege und Straßen; das Auge ist benommen von soviel Schönheit.“

Die Bevölkerung Siziliens wuchs rasch an und Dutzende neuer Städte wurden gegründet oder wieder besiedelt, darunter Messina, Syracuse, Sciacca, Mazara und Castrogiovanni. Die schönste Stadt Siziliens war Palermo, genannt al-Banurmu oder einfach „al-Medina“, die Stadt. Der andalusische Geograf, Reisende und Dichter Ibn Dschubayr lobte Palermo in den höchsten Tönen: „Palermo ist mit zwei Gaben beschenkt: Pracht und Reichtum. Es besitzt alle Schönheit, die man sich zu erträumen oder vorzustellen vermag. Breite Wege und Straßen; das Auge ist benommen von soviel Schönheit. Eine Stadt voller Wunder, deren Gebäude denen Cordobas ähneln, erbaut aus Kalkstein. Ein ständiger Strom aus vier Quellen durchfließt die Stadt. Es gibt so viele Moscheen, dass es unmöglich ist, sie zu zählen. Viele davon dienen auch als Schulen. Das Auge ist geblendet von so viel Herrlichkeit.“

Seinen Aufstieg verdankte Palermo landwirtschaftlichen und technologischen Innovationen. Die Muslime führten neue Nutzpflanzen ein: Baumwolle, Hanf, Dattelpalmen, Zuckerrohr, Maulbeeren und Zitrusfrüchte. Möglich wurde deren Anbau durch neue Bewässerungstechniken. Die landwirtschaftlichen Innovationen förderten andere Wirtschaftszweige, darunter Webereien, die Zuckerverarbeitung, Seil-, Seide-, und Papierherstellung.

Die Normannen und Roger II.

Die Normannen erreichten Italien erstmals um das Jahr 1000 n. Chr. auf ihrer Rückkehr von der Pilgerreise nach Jerusalem. Ein Grund war das Gesuch Prinz Guaimars III. von Salerno, der um Unterstützung bei der Verteidigung seiner Stadt gegen die Muslime bat. Ein kleines normannisches Kontingent blieb in Italien. 1016 n. Chr. unternahmen normannische Christen eine Pilgerreise zum Schrein des Hl. Michael auf dem Monte Gargano in Apulien. Dort trafen sie auf Melus, in historischen Darstellungen auch Ismael genannt, den Führer des anti-byzantinischen Aufstandes in Bari. Melus bat die Normannen um Unterstützung bei dem Versuch, seine Stadt von der byzantinischen Herrschaft zu befreien. Allmählich nahm die normannische Eroberung Gestalt an.

Im Jahre 1061 n. Chr. bezahlte der sizilianische Emir Ibn al-Zumma ein kleines Truppenkontingent unter der Führung Robert Guiscards und Roger von Hautevilles, um den Muslimen im Bürgerkrieg Beistand zu leisten. Zu diesem Zeitpunkt teilten sich drei arabische Emire die Herrschaft über die Insel, die einen beträchtlichen (und rebellischen) christlichen Bevölkerungsanteil besaß. Die Normannen konnten ihre Herrschaft festigen. 1071 n. Chr. nahmen sie Palermo ein, 1091 n. Chr. eroberten christliche Normannen Noto und schließlich Malta, den letzten arabischen Stützpunkt.

Der bemerkenswerteste normannische Herrscher Siziliens war Roger II., ein Nachfahre christlicher Ritter, die von früheren Päpsten im Kampf gegen die Muslime im Mittelmeerraum rekrutiert worden waren. Roger II. regierte Sizilien von 1130 bis 1154 n. Chr. Historiker betrachten ihn als einen der erfolgreichsten europäischen Herrscher des 12. Jahrhunderts. Roger II. war ein „Kind des Mittelmeeres“, geboren und aufgewachsen in einer kosmopolitischen und mehrsprachigen Welt. Die Erziehung seiner griechischen und muslimischen Lehrer und Sekretäre stiftete wie selbstverständlich seine hybride Identität. Roger soll perfektes Arabisch gesprochen haben.

Künstlerische Techniken der islamischen Tradition wurden erfolgreich aufgenommen und bildeten die Grundlage für die Entstehung der arabisch-normannischen Kunst.

Bei seinen Feldzügen ins südliche Italien erbat er die Hilfe muslimischer Truppen und arabisches Kriegsgerät. Sobald seine Truppen neues Gebiet erobert hatten, verdingte er arabische Architekten zum Bau von Monumenten im normannisch-arabisch-byzantinischen Stil.

Künstlerische Techniken der islamischen Tradition wurden erfolgreich aufgenommen und bildeten die Grundlage für die Entstehung der arabisch-normannischen Kunst. Die Kirche des Hl. Johannis des Eremiten ist eines der großartigsten Zeugnisse für die Verschmelzung arabischer und normannischer Kunst. Die Kirche, von Roger zwischen 1143 und 1148 in Palermo erbaut, ist bekannt für ihre roten Kuppeln, die deutlich den arabischen Einfluss in der sizilianischen Gesellschaft des 12. Jahrhunderts zeigen. In seinem Buch „Diary of an Idle Woman in Sicily“ beschreibt Frances Elliot die Kirche als „völlig orientalisch…sie würde genauso gut nach Bagdad oder Damaskus passen.“ Guiseppe Bellafior, ehemaliger Dekan der Fakultät für Architekturgeschichte an der Universität Palermo, bestätigt diese Beobachtungen: „Das rein normannische Element in der arabo-normannischen Architektur ist geringer, als der Name vermuten lässt. Die Normannen besaßen das Taktgefühl und die Weitsicht, anzunehmen, was sie vorfanden. Es gefiel ihnen sogar. Dennoch hielten sie gewisse Verbindungen zu ihrem Herkunftsland aufrecht. Die Stärke und Effizienz der normannischen Regierung entsprang ihrer bewussten Offenheit gegenüber der bestehenden muslimischen Ordnung auf der Insel. Insofern verdankt die [sizilianische] Kultur im Allgemeinen und die architektonische Tradition im Besonderen der ursprünglichen Herkunftsregion der Normannen kaum etwas.

Lange bevor der „Multikulturalismus“ im Westen zur Modeerscheinung wurde, träumte Roger von einer multikulturellen Gesellschaft.

König Roger hatte großes Interesse daran, auf dem reichen kulturellen Erbe eine neue sizilianische Gesellschaft zu errichten. Muslimische Soldaten, Dichter und Wissenschaftler spielten an seinem Hof eine bedeutende Rolle. Von den Arabern in den vorangegangenen zweihundert Jahren entwickelte landwirtschaftliche und Fertigungstechniken wurden dazu genutzt, die Entwicklung sizilianischer Kunst, Wirtschaft und Kultur weiter voranzutreiben. Lange bevor der „Multikulturalismus“ im Westen zur Modeerscheinung wurde, träumte Roger von einer multikulturellen Gesellschaft. Am Hof wurde Französisch gesprochen, königliche Edikte wurden jedoch in der Sprache ihrer jeweiligen Adressaten verfasst: Latein, Griechisch, Arabisch und Hebräisch. Astronomie, Medizin, Philosophie und Mathematik waren nur einige Themen, über die man in Rogers Palast diskutierte. Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und zu Standardlehrbüchern an den Universitäten, die im 12. Jahrhundert überall in Europa entstanden.

Der Erwerb und die Verbreitung von Wissen waren wesentliche Bestandteile der sizilianischen Gesellschaft unter Roger II. Das bekannteste Buch über seine Regierungszeit – „Das Buch Rogers“ oder „Kitâb Rudschar“ – wurde von dem arabischen Geografen Muhammad al-Idrîsi verfasst. Al-Idrîsi gehörte zum Hofe Rogers, wo man ihn damit beauftragte, ein Buch über Geografie und Klimazonen zu verfassen. In Anbetracht von al-Idrîsis Darstellung der Welt als Kugel und seiner Andeutungen über die Gravitation, war das „Buch Rogers“ ein außerordentliches Werk. S.P. Scott schrieb: „Drei Generationen von Geografen übernahmen seine Landkarten ohne Änderung.“ Unglücklicherweise erlebte Roger II. die Veröffentlichung nicht mehr; al-Idrîsis Werk erschien wenige Wochen nach dem Tod des großen Herrschers von Sizilien 1154 n. Chr.

Dieses Erkenntnisstreben, unabhängig von den kulturellen oder religiösen Bezügen, in denen dieses Wissens eingebettet war, führte im 13. Jahrhundert zur Gründung der Universität von Salerno. Salerno wurde zu bekanntesten medizinischen Fakultät der Welt. Hier wurde Ibn Sinas „Avicenna“ ins Lateinische übersetzt. In Salerno fand außerdem die erste wissenschaftliche Sezierung statt, ausgeführt von einem Muslim.

Roger II. größtes Vermächtnis war eine Reihe von 1140 n. Chr. erlassenen Gesetzen, genannt „Assisen von Ariano“, die aus der normannischen, französischen, islamischen und byzantinischen Rechtstheorie abgeleitet worden waren. Diese Gesetze, die allen Sizilianern, ob römisch, griechisch, jüdisch, muslimisch, normannisch, lombardisch oder arabisch, Rechtsgleichheit zusicherten, waren für das 12. Jahrhundert sehr fortschrittlich. Roger förderte die Toleranz gegenüber Nicht-Christen, eine Tradition die er aus der Zeit der arabisch-islamischen Herrschaft übernommen hatte. Diese Toleranz führte zum Dialog und einem Klima der geistigen Freiheit, die in der Welt beneidet wurde. Ein englischer Historiker wies darauf hin, dass „das normannische Sizilien sich von Europa und der gesamten engstirnigen mittelalterlichen Welt als ein Beispiel der Toleranz und Aufklärung und des Respekts, den jedermann gegenüber jenen, deren Herkunft und Überzeugung sich von der seinen unterscheidet, abhob.“

Muslime im christlich beherrschten Sizilien behielten ihren sozialen Status und gesetzliche Befugnis innerhalb ihrer Gemeinschaften.

Die Toleranz der normannischen Christen gegenüber anderen Glaubensrichtungen war für das 12. Jahrhundert tatsächlich ungewöhnlich. Sizilianische Muslime erhielten das Recht, nach der Scharia zu leben, insbesondere der malikitischen Rechtsschule. Der Kadi al-Mazari zeigte erkenntlich, indem er verfügte, dass die von Christen ernannten muslimischen Juristen Rechtskraft besaßen, und ihnen unbedingt zu gehorchen sei. Muslime im christlich beherrschten Sizilien behielten ihren sozialen Status und gesetzliche Befugnis innerhalb ihrer Gemeinschaften. Obwohl die Normannen ihnen eine etwas höhere Steuer als den Christen auferlegten, gestanden sie den Muslimen Eigentumsrechte und gesetzlichen Schutz zu. Mit der Erhebung einer Steuer zum Schutz der Muslime übernahmen die sizilianischen Christen im 12. Jahrhundert eine der islamischen Dschizya und Zimma ähnliche steuerliche und rechtliche Struktur.

Leserkommentare

grege sagt:
auf der einen Seite wird die Fremdberrschung von Muslimen druch andersgläubige Mächte als Verbrechen und wesentliche Ursache für die heutigen Missstände dargestellt. Umgekehrt wird die Fremdherrschaft von Muslimen hier in Europa, z.B. in Andalusien, auf dem Balkan oder wie hier auf Sizilien als kulturelle Bereicherung dargestellt. Mit dieser Sichtweise könnte natürlich die Kolonialisierung des nahen und mittleren Ostens ebenso als intensive Entwicklungshilfe verklärt werden.
14.07.17
22:49
Hajar sagt:
@grege. Sie machen den gleichen Fehler wie die Trump-Fangemeinde, die den Autor wegen dieses Artikels auf Twitter zerreißt. Ja, es gab eine Phase der muslimischen Herrschaft über Sizilien. Der Hauptteil des Textes dreht sich jedoch um die Machtübernahme durch christliche (normannische) Herrscher und deren konstruktive Nutzung der vorgefundenen Zivilisation. Roger II., William und Frederick legten es eben nicht auf einen "Kampf der Kulturen" an, um es mit einem neueren Konzept auszudrücken. Sie bedienten sich der von ihnen als bereichernd empfundenen Elemente der muslimischen Kultur und nutzten die Expertise ihrer muslimischen Untertanen ohne ihre christliche Religion aufzugeben. Mit dem Artikel will Considine zeigen, dass Koexistenz eben doch möglich ist, wenn beide Seiten sich nicht in ideologischer Verblendung verrennen. Schade, dass solche Ansätze derzeit anscheinend als "Verrat an der Sache" gewertet werden.
15.07.17
21:12