Reformationsjubiläum

„Der Diskurs über Reform und Islam ist ein Selbstgespräch“

Forderungen nach einer Reform des Islams seitens sogenannter Islamkritiker haben Hochkonjunktur. Auf welche gesellschaftlichen Missstände dieser „Erfolg“ hinweist und wie der Islam sich qua Tradition unentwegt weiterentwickelt, erklären Dr. Hakkı Arslan und Dr. Silvia Horsch in einem IslamiQ-Gastbeitrag.

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Martin Luther, Reformation © shutterstock
Zum Gedenken an Martin Luther und die Reformation: Statue in Erfurt © shutterstock

Und täglich grüßt die Islamkritik, fordert „Reform“ und einen „aufgeklärten Islam“. Muslimische Akteure, die sich solche Kategorien zu eigen machen, werden im Diskurs honoriert und hofiert. Das deutlichste Beispiel aus diesem Jahr – dem Jahr des 500-jährigen Jubiläums der Reformation – ist die Eröffnung der „liberalen“ Ibn Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin. An ihren Veranstaltungen müssen mehr PressevertreterInnen als Gläubige teilnehmen, will man die Flut der wohlwollenden Berichterstattung erklären. Zuletzt sorgte der Anschlag von 40 Thesen von Abdel-Hakim Ourghi an eine Neuköllner Moschee für anerkennende Schlagzeilen. Einige wenige, vornehmlich evangelische Kommentatoren erkannten darin die PR-Aktion, die es war, ansonsten wurden in der Presse zumeist distanzlos seine Positionen wiedergegeben und Ourghi gar als „muslimischer Luther“ bezeichnet. Vielleicht hoffte man auf eine Bannbulle einer größeren islamischen Religionsgemeinschaft, um dem Luther-Skript weiter folgen zu können – die belästigte Moschee deeskalierte jedoch souverän, indem sie Ourghi zum Tee einlud.

Während solche Aktionen vor allem von der Boulevard- und Tagespresse aufgegriffen werden, erhalten die Ideen muslimischer Islamkritiker ebenso wie die „liberaler“ Theologen – die Grenzen sind hier fließend – ein breites Forum, auch in Wochenzeitungen und Zeitschriften wie der „Zeit“ und „Cicero“, „Aufklärung und Kritik“, und zahlreichen anderen Medien. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn auch die Kritik an den jeweiligen Thesen Raum bekäme. Wer jedoch als Muslim – und sei es mit den besten inhaltlichen Argumenten – Positionen eines sich selbst als „liberal“ oder „modern“ bezeichnenden Reformprojekts kritisiert, zieht die spiegelbildlich entgegengesetzten Zuschreibungen auf sich und gilt als „konservativ“ oder gar „fundamentalistisch“. Beiträge, die solche Dichotomien unterlaufen, finden im derzeit aufgeheizten Klima kaum Gehör. Deshalb handelt es sich bei der gesellschaftlichen Debatte um den Islam oft nur um ein eurozentristisches Selbstgespräch. Autoren wie Abdel-Hakim Ourghi, Seyran Ateş oder Hamed Abdel Samad sind sich uneinig darüber, ob eine Reform des Islams gelingen kann – dass eine solche notwendig ist und dass sie entlang der Maßgaben der europäischen Aufklärung zu erfolgen hat, steht für alle außer Frage. Dabei wird die Sinnhaftigkeit der Forderung nach einer islamischen Aufklärung nicht nur von muslimischen Gelehrten, sondern auch in der Islamwissenschaft schon länger bestritten.[1]

Abgeschlossener Text, endlose Deutung

Solange der Koran den Muslimen als Gottes Wort gelte, sei der Islam unveränderlich – diesem häufig vorgetragenen Kurzschluss widersprechen durchaus nicht nur „liberale“ Theologen, sondern auch die früheren klassischen und heutigen traditionsorientierten Gelehrten.

Der Koran als Text ist abgeschlossen, nicht aber seine Deutung.

Thomas Bauer verweist in seinem Standardwerk „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ auf den Korangelehrten Ibn al-Dschazari (gest. 1429), dem zufolge keine Generation aufhören werde, im Koran neue, zuvor unbekannte Bedeutungen zu entdecken und aus ihm neue rechtliche Urteile abzuleiten. Der Koran als Text ist abgeschlossen, nicht aber seine Deutung.

Wie sich Deutungen verändern, zeigt sich besonders gut an der vieldiskutierten Frage der Gewalt: Weil im Koran Verse mit Aufforderungen zur Gewaltanwendung zu finden seien, argumentieren Ourghi und andere, habe der Islam per se ein Problem mit Gewalt. So weit, so kurzschlüssig. Die Verse im Koran stehen im Kontext spezifischer historischer Situationen und liefern daher weder allgemein gültigen Handlungsanweisungen noch eine Theorie des Krieges. Muslimische Gelehrte entwickelten ein Kriegsrecht aus den Texten des Korans und der Hadithe in Auseinandersetzung mit ihren (vormodernen) Kontexten. Ihre Konzepte genügen unseren heutigen Ansprüchen nicht mehr, aber die Gelehrten von damals wären wohl selbst erstaunt gewesen, wenn ihre Ansichten unverändert bis ins 21. Jahrhundert Gültigkeit behalten hätten: „Die Änderungen der Regelungen aufgrund der Änderungen der Zeiten darf nicht abgelehnt werden“, lautet eine allgemein anerkannte Maxime des islamischen Rechts.

Diese Stimmen, die weder Beifall heischend nach Aufklärung rufen, noch medienwirksam den Westen verdammen, sondern eine Jahrhunderte alte diskursive Tradition fortführen, gehen im hiesigen Diskurs weitgehend unter.

Heute gehen die Gelehrten in der ganz überwiegenden Mehrheit davon aus, dass militärischer Dschihad nur im Verteidigungsfall zur Anwendung kommen darf.[2] Neue Rahmenbedingungen wie das internationale Völkerrecht und nationalstaatliche Beziehungen führten dazu, dass die klassischen Konzepte überdacht wurden. Der Gelehrte Abdullah Bin Bayyah nennt diese Herangehensweise „islamisches Recht im Kontext“ (fiqh al-waqiʿ). Bekannte traditionsorientierte Gelehrte wie Bin Bayyah, Said Ramadan al-Buti oder die zahlreichen Unterzeichner der verschiedenen Fatwas gegen religiösen Extremismus lehnen jegliche Gewalt gegenüber Andersgläubigen oder auch Apostaten ab – nicht indem sie sich von der traditionellen Lehre distanzieren, sondern indem sie diese weiterdenken und neu kontextualisieren. Diese Stimmen, die weder Beifall heischend nach Aufklärung rufen, noch medienwirksam den Westen verdammen, sondern eine Jahrhunderte alte diskursive Tradition fortführen, gehen im hiesigen Diskurs weitgehend unter. Ungleich mehr Aufmerksamkeit erhalten extreme Deutungen. Die Tatsache, dass sich radikale Gruppen für ihre Taten auf den Koran berufen, verleiht ihren Deutungen jedoch keine Gültigkeit – es sei denn, wir akzeptieren Extremisten als maßgebliche Repräsentanten einer Religion, aber dann müssen wir uns auch das Christentum von der Lord’s Resistance Army erklären lassen und den Buddhismus von Mördern in Myanmar.

Mangelnde Kenntnis der Tradition

Das zweite Lieblingsthema der Islamkritik ist das Verhältnis der Geschlechter. Ein patriarchales Geschlechterverhältnis mag über weite Strecken der Geschichte und in vielen Regionen der islamischen Welt auch bis heute vorherrschend sein. Das heißt aber nicht, dass innerhalb des Islams andere Entwürfe nicht möglich sind und es diese nicht auch gegeben hat und gibt. Einige unbekannte Fakten: Muslimische Frauen spielten vor der Kolonialzeit über den Stiftungssektor eine bedeutende Rolle in der Gestaltung ihrer Gesellschaften; zwischen 30% und 50% der Stiftungen in den islamischen Kernländern wurden von Frauen nicht nur gestiftet, sondern auch kontrolliert.

Gleichberechtigung lässt sich leicht von anderen fordern, eigene Privilegien abzugeben ist ungleich schwieriger.

Biographiensammlungen enthalten tausende Beispiele von Frauen, die in den Bereichen Dichtung, Politik oder Wissenschaft anerkannt waren. Die Kenntnis davon hätte es den GründerInnen der „Ibn Rushd-Goethe-Moschee“ – in der immerhin der Koran feministisch ausgelegt werden soll – ermöglicht, ihr Projekt nicht nur nach Männern zu benennen. Frauen beteiligten sich auch an der religiösen Lehre: Der Anteil der Frauen unter den Hadithgelehrten lag im sogenannten Mittelalter bei 15% – eine Quote, die heutzutage unbefriedigend wäre, für die sich aber z.B. das 35-köpfige Herausgeberteam von „Aufklärung und Kritik“, das 2017 die erste Frau aufgenommen hat, immer noch mächtig ins Zeug legen muss. Gleichberechtigung lässt sich leicht von anderen fordern, eigene Privilegien abzugeben ist ungleich schwieriger.

Liberale Eindimensionalität

Freiheitlich demokratische Grundwerte könne ein Muslim, der sich nicht einem radikalen Reformprojekt verschreibe, nicht widerspruchsfrei vertreten. So ein weiterer häufig geäußerter Vorwurf. Gläubige Muslime erscheinen so als insgeheime Antisemiten, Homophobe, Feinde der Menschenrechte und der Gleichberechtigung. Solche Annahmen sind in mehrfacher Hinsicht problematisch:

Zunächst sind Einstellungen wie Antisemitismus oder Homophobie – beides europäische Exportgüter – zwar unter zeitgenössischen Muslimen vorhanden, diese sind jedoch gerade nicht Merkmale des traditionellen Islams, wie etwa Thomas Bauer und Khaled Rouayheb zur Homophobie, Stephan Wild und Marc Cohen zum Antisemitismus gezeigt haben.[3] Wer beides dem Islam pauschal vorwirft, hält derzeitige Gesichter des Islams, wie sie sich in autoritären Staaten im Osten und unter Druck stehenden Minderheiten im Westen darstellen, für sein essentielles Wesen. Außerdem sind Musliminnen und Muslime ohnehin – wie alle anderen Menschen in Deutschland auch – gar nicht zu mehr verpflichtet, als sich an die Rechtsordnung zu halten. „Kein Glaube muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, aber nicht alles, was ein Glaube fordert, darf unter dem Grundgesetz verwirklicht werden“, schrieb Dieter Grimm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, in einem Gastbeitrag für die FAZ.[4] Man muss keine Widerspruchsfreiheit behaupten, wie es liberale Theologen oft tun, denn sowohl das Grundgesetz als auch gläubige Musliminnen und Muslime können solche Widersprüche aushalten. Unbequeme Koranverse lassen sich nicht einfach „für ungültig erklären“, wie Ourghi es unter großem Beifall fordert, da sie aufgrund der Tatsache, dass sie aufgeklärten Sensibilitäten widersprechen, nicht aufhören Teil der Rede Gottes zu sein.

Die im Koran genannten Strafen verdeutlichen die Schwere der jeweiligen Vergehen, ihre Anwendung steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Daraus folgt aber weder, dass es notwendig ist, den Koran nicht mehr als Offenbarung zu verstehen, noch dass die Einführung von Körperstrafen das Ziel aller gläubigen Muslime sein muss. Nicht erst die aufgeklärte Moderne verspürt ein Unbehagen gegenüber drastischen Strafen, das war schon in der islamischen Geschichte so: Man bemühte sich um ihre Abwendung, zu der es auch einen prophetischen Auftrag gibt: „Wendet die Strafen durch Ungewissheiten ab!“ Untersuchungen von Chroniken zeigen z.B., dass Steinigungen praktisch nicht vorkamen – ganz im Gegensatz zu einigen sogenannten islamischen Ländern heute. Die im Koran genannten Strafen verdeutlichen die Schwere der jeweiligen Vergehen, ihre Anwendung steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Im Unterschied dazu kennt die Moderne – zu der auch extremistische Strömungen gehören – nur Alles-oder-Nichts-Lösungen: Strafen können nur angewandt oder abgeschafft werden, dazwischen gibt es nichts. Für die Fähigkeit der islamischen Tradition, Mehrdeutigkeiten auszuhalten und unterschiedliche Register nebeneinander existieren zu lassen, hat Thomas Bauer den treffenden Begriff der Ambiguitätstoleranz eingeführt. Wer diese Toleranz als einen Hinweis auf mangelnde Islamkonformität wertet, macht sich das Deutungsschema der Extremisten zu eigen, die in der klassischen Tradition nur den Verfall sehen können.

Hat die liberale Moderne einen Platz für religiöse Menschen?

Das Grundgesetz und die meisten religiösen Menschen können mit diesem Spannungsverhältnis leben, die Frage ist, ob unsere säkulare Gesellschaft insgesamt es kann. Religiöse Menschen – nicht nur Muslime! -, die ihre Religion nicht entsprechend dem aufgeklärt-protestantischen Paradigma als rein innerlichen, privaten Glauben auffassen, stellen den postulierten Pluralismus auf die Probe.

Darf Säkularismus auch durch Religiöse kritisiert werden oder geht das nur umgekehrt?

Können praktizierende Muslime, orthodoxe Juden oder freikirchliche Christen ihre Lebensentwürfe leben ohne sich ständig vorwerfen lassen zu müssen, sie seien rückständig? Dürfen Menschen die große Erzählung des stetigen Fortschritts anzweifeln und auf dem Wert religiöser Traditionen bestehen, ohne aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden? Darf Säkularismus auch durch Religiöse kritisiert werden oder geht das nur umgekehrt? Ein Papst oder Bischof kann das wohl in verträglichen Dosen tun, für Angehörige einer als fremd wahrgenommenen Religion ist das ungleich schwieriger. Damit wird jedoch die freiheitlich-demokratische Gesellschaft ihren eigenen Prinzipien nicht gerecht und die diskursethischen Ansprüche auf gleichberechtigte Teilhabe fallen in der Praxis in ein Selbstgespräch unter Gleichgesinnten zusammen.

[1] Vgl. z.B. den Beitrag von Frank Griffel in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Mai 2016, „Eine Reform des Islams ist sinnlos“, URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/geschichte-der-toleranz-alles-ausser-aufruhr-1.3008818

[2] Diese Position wird dargestellt in der Broschüre „Jihad and the Islamic Law of War“ (2009) des Royal Islamic Strategic Studies Centre, Amman, Jordanien, URL: http://rissc.jo/jihad-and-the-islamic-law-of-war/

[3] Vgl. ein Interview mit Stefan Wild in Der Freitag vom 07.05.2004, „Wie antisemitisch ist der Islam?“, URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wie-antisemitisch-ist-der-islam

[4] FAZ vom 22.04.2016, URL: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/islam-vs-grundgesetz-debatte-ueber-religionsfreiheit-14191706-p2.html

Leserkommentare

Dilaver sagt:
Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Dem ist nichts hinzuzufügen.
31.10.17
15:57
grege sagt:
in diesem Artikel wird Islamkritik pauschal als fremdenfeindliches Konstrukt dämonisiert. Mit weiteren Pauschalisierungen, wie die Gleichsetzung gläubiger Muslime mit Homohphobie oder Antisemitismus, wird dem Islam wieder einmal die globale Opferrolle zugedacht, in die er vom bösen Westen getrieben wurde. Viele Muslime mit Verbands- oder anderweitiger Lenkungsfunktion können einfach wahrhaben und einsehen, dass Kritik ein unverzichtbares Instrument für die Beseitigung von Defiziten und Mängeln ist. Bei der Haltung, die die Autoren dieses Artikels wiederspiegeln, ist das desaströse, von Gewalt und Unterdrückung geprägte Erscheinungsbild des Islams und der muslimischen Community kaum verwunderlich. Muslime in führender Position haben bisher versäumt, kritischen Anhängern und Kennern mit abweichenden Ideen entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken.
31.10.17
16:07
Frederic Voss sagt:
Jeder kann aus dem Koran machen, was er will. Die endlosen Textschreibungen seit 1400 Jahren zum Thema Koran zeugen davon. Auch die beiden Gastbeitrag-Schreiber können - wenn sie wollen - dicke Bücher über Islam-Themen schreiben mit vielen Zitaten, Zuschreibungen, Annahmen, Spekulationen, Konstruktionen, Glaubensinhalten, Geschichtsanalysen, Hypothesen, Wertvorstellungen satt. Angesichts täglicher Horror-Meldungen in Zusammenhang mit Bezugnahme auf Koran-Texte wäre es geradezu absurd und weltfremd, dennoch fortwährend von einem friedlichen Islam reden zu wollen und alle kritischen Stellungnahmen & Gewalttätigkeiten als islamfremd und böse hinstellen zu wollen. Vielfach erinnern diese weichgespülten Relativierungsversuche von Kritikern der Islamkritiker an gebetsmühlenartige Reflexantworten der immer gleichen Jetzt-erst-recht-Islam-Befürworter.
31.10.17
22:17
Paul Imhoffe sagt:
Danke für diese Zeilen. Die Doppelmoral der Gesellschaft wird immer klarer. Beim Islam ist man sehr kritisch, bei anderen eher lässig. Schuld ist auch die veröffentlichte Meinung. Denn Satz "Darf Säkularismus auch durch Religiöse kritisiert werden oder geht das nur umgekehrt?" fand ich sehr treffend.
01.11.17
9:54
AS sagt:
Danke für diesen klaren, ehrlichen und vernünftigen Beitrag! Bitte mehr davon und bitte mehr Präsenz in den sog. aufgeklärten Massenmedien! Ourghi & Co haben mit Wissenschaftlichkeit rein gar nichts am Hut, Ates & sonst. Pseudo-Feministinnen haben mit Gleichberechtigung noch weniger am Hut. Diese Leute haben eine düstere Agenda, die der der AfD und FPö näher steht, als dem Islam. Der Glaube ist nur das Feigenblatt. Dahinter lauern freiheitsfeindliche unaufgeklärte, ja radikale Forderungen aus der rechtem Ecke, die sich nicht scheuen, mit dem Saudi Wahabismus schmutzige Allianzen einzugehen. Danke nochmal an die Autoren! Ein großartiges Stück!
01.11.17
12:01
Johannes Disch sagt:
Die Reformdiskussion über den Islam ist keineswegs ein Selbstgespräch. Sicher, die Probleme sind hauptsächlich politischer und sozio-ökonomischer Natur und die Religion (des Islam) wird dabei von Fundamentalisten instrumentalisiert. Aber dennoch einige islamische Dogmen, die nicht mehr zeitgemäß sind und im liberalen Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben. Hier wird der Eindruck vermittelt, als wäre eine Interpretation des Koran-Textes im Islam die Regel. Das ist es aber nicht. Grade der orthodox-schriftgläubige Islam pflegt einen Skripturalismus, d.h. er klebt am Wort. Auch das ist nicht mehr zeitgemäß, so wie einige andere islamische Dogmen auch, auf die ich noch zurückkommen werde.
01.11.17
15:24
Johannes Disch sagt:
@Koranisch-islamische Grundsätze, die in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr tragbar sind... ... und die folglich auch keiner "Reform" bedürfen, sondern von denen sich in Europa lebende Muslime verabschieden müssen. Man trifft bei Diskussionen über das Thema im allgemeinen auf 2 extreme Standpunkte: 1.) Der Islam ist das Problem und an allem schuld 2.) Das sind Einzelfälle und das hat mit dem Islam alles nix zu tun. Beide Standpunkte sind falsch. Standpunkt 1.) ist rassistisch-islamfeindlich, und deshalb abzulehnen. Standpunkt 2.) fehlt es an der nötigen Differenzierung. Wie ich bereits in meinem letzten Post sagte, ist es keineswegs die Regel, dass der Koran-Text interpretiert wird, wie der Artikel glauben machen will. Im Gegenteil: Es herrscht eine orthodox-schriftgläubige Lesart vor, die am Buchstaben klebt. Der Fachbegriff dafür ist ´"Skripturalismus." Historisch kannte der Islam nur eine recht kurze Phase, wo er weltliches und religiöses Wissen trennte. Das war der hellenisierte Islam eines Ibn Rushd und eines Ibn Sina; der "Islamische Rationalismus" (9.-12. Jahrhundert). Dieser wurde von der islamischen "Fiqh"-Orthodoxie vehement bekämpft, und die Orthodoxie hat leider gewonnen. Es gibt einige koranisch-islamische Prinzipien, die nicht ,mehr tragbar sind. Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei nicht um die absurde "Theologie" von Djihadisten a la IS, sondern es sind Prinzipien, die auch von orthodoxen Muslimen vertreten werden. Und es ist solch ein orthodox-schriftgläubiger Islam, dem auch die großen Islam-Verbände anhängen. Diese sind also ein absolut ungeeigneter Partner für Integration. Im Gegenteil: Die großen Verbände wollen Integration verhindern. Muslime sollen sich primär als Teil des islamischen "Umma"-Kollektivs verstehen und nicht als individuelle Mitglieder eines republikanischen Gemeinwesens. Die großen Islam-Verbände betreiben "Iham" ( = "Täuschung"). Die DITIB ist in erster Linie Ankara verpflichtet, und nicht Berlin! Kommen wir nun zu den eingangs erwähnten Prinzipien, die in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr tragbar sind. Dazu ist es nötig, auch einige Fachbegriffe einzuführen. -- "Hidjra" ("Migration") in Verbindung mit "Dawa" ("Missionierung zum Islam"). Migration wird auch als ein Mittel verstanden, den Islam zu verbreiten. Das ist abzulehnen. Religion ist in einem säkularen/laizistischen Gemeinwesen Privatsache. -- "Islamisierung." Das ist keineswegs nur ein Schlagwort rechtsextremer Völkisch-Nationaler. Es ist eine islamische Doktrin, die Welt mittels "Hidjra" ("Migration") und "Dawa" ("Missionierung") zu islamisieren. Auch das ist abzulehnen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist der Islam nur eine (Welt)Religion unter vielen. -- Der Absolutheits- und Überlegenheitsanspruch des Islam... ... die einzig wahre Religion zu sein. In einer pluralistischen Gesellschaft sind alle Religionen gleichberechtigt und gleichwertig. Der Überlegenheitsanspruch des Islam ist also aufzugeben. -- Glaubensfreiheit: Auch da sieht es düster aus. "Riddah" (= "Abfall vom Glauben") gilt im Islam noch immer als eine Todsünde, und die Strafe dafür ist drakonisch. In einer offenen liberalen Gesellschaft ist es aber selbstverständlich, seinen Glauben abzulegen und einen neuen anzunehmen oder erst gar keinen zu haben, also Atheist zu sein. Also auch die Doktrin, jemanden zum "Murtard" ("Abtrünnigen") oder "Takfir" ("Ungläubigen") zu erklären, ist aufzugeben, wollen Muslime wirklich in Europa ankommen. Und sie haben sich zu verstehen als individuelle Mitglieder eines republikanischen Gemeinwesens, das sich durch Werte bestimmt, und nicht durch Ethnizität oder Religion. Man nur Individuen integrieren, und keine Kollektive. Es gibt also durchaus Reformbedarf im Islam, auch im theologischen Bereich. Es gibt koranisch-islamische Prinzipien, die Muslime nicht "reformieren" müssen, sondern die sie aufgeben müssen. Zu "reformieren" ist da nämlich nix. Es kann keine halbe Säkularität geben. Zwischen einem religiösen Absolutheitsanspruch und einem Säkularismus, der alle Religionen als gleichwertig betrachtet, gibt es keinen Mittelweg. Da braucht es weder "Dialog", noch "Reform." Der Säkularismus/Laizismus der westlichen Gesellschaft ist nicht verhandelbar. Ach, zum Schluss noch ein Wort zu gewissen Islamkritikern, die auch in diesem Artikel erwähnt werden: Viele schießen über das Ziel hinaus und pauschalieren. Das gilt besonders für Hamed Abdel-Samad. Dürfen diese Islamkritiker das? JA! Sie dürfen das. Unser Grundgesetz gestattet es Ihnen gemäß Art. 5 GG ("Meinungsfreiheit"). Was aber völlig unerträglich ist, das ist die Tatsache, dass viele dieser Kritiker von obskuren Scheichs mit sogenannten "Todes-Fatwen" belegt werden, und oft monate-oder jahrelang unter Polizeischutz leben müssen. Dagegen ist die Tatsache, dass sich manche Muslime durch die Kritik ihres Glaubens in ihren "religiösen Gefühlen" verletzt sehen eine Lappalie.
01.11.17
17:18
grege sagt:
@ AS ah so, Frau Ates oder Herr Ourghi sind in Wahrheit Agenten des Wahabismus. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass Verschwörungstheorien sich offenbar auch als Epedemie in nicht wenigen Teilen der muslimischen Community ausgebreitet haben. Unangenehme Informationen werden als Propaganda abgetan, so dass man weiter ungetrost nach dem Motto leben kann, was nicht sein darf, kann nicht sein.
01.11.17
19:48
Johannes Disch sagt:
@grege (Ihr Post vom 31.10.17, 16:07) --- "...dass Kritik ein unverzichtbares Instrument ist zur Beseitigung von Defiziten und Mängeln." (grege) Chapeau. Genauso ist es. In einer säkularen Gesellschaft gibt es keine heiligen Kühe, und alles ist dem Primat der Vernunft und der Reflexivität und der Kritik unterworfen.
01.11.17
23:49
Lynxx sagt:
Reformen können nur von innen heraus erfolgen und nicht von außen aufgezwungen werden. Die Äußerungen und Handlungen der drei Personen Abdel-Hakim Ourghi, Seyran Ateş und Hamed Abdel Samad stehen per definitionem außerhalb des Islams. Dagegen blieb der Reformator Martin Luther auf dem Boden der christlichen Religion und war Mönch und studierter Theologe gewesen. Wir haben in der BRD Religionsfreiheit, und es steht jedem frei, eine neue Religion zu gründen, doch sollte er sie nicht „Islam“ nennen, da dieser Name bereits vergeben ist. Es stünde insbesondere den muslimischen Publizisten besser an, nicht mehr über diese drei Möchtegernreformatoren zu berichten, um diesen nicht mehr Gewicht zu verleihen, als ihnen zusteht. Was kümmert es uns, wenn sie sich zusammensetzen, um ein Bier zu trinken und ihre unqualifizierten Äußerungen von sich zu geben? Dagegen bleiben wirkliche islamische Reformatoren, wie Dr. Adnan Ibrahim in Wien, nahezu unerwähnt, weil diese den Boden der islamischen Glaubenslehre nicht verlassen. Die nichtmuslimische Öffentlichkeit ist derzeit so sehr auf eine extreme Form von „Islamkritik“ eingefahren, die den Islam eigentlich nicht reformieren, sondern völlig auseinandernehmen und niederreißen will, daß sie nur „Reformern“ Beachtung schenkt, die dieses letztere Ziel verfolgen. Es bleibt noch darauf hinzuweisen, daß wir im Islam vor noch nicht allzu langer Zeit bereits eine Reform gehabt haben, nämlich die wahhabitische Bewegung im ausgehenden 18. Jh. und die bis heute wirkende salafitische Bewegung, die beide noch am ehesten mit der protestantischen Reformation vergleichbar sind. Was der Islam jetzt braucht, ist daher keine Reformation, sondern eher eine Gegenreformation: zurück zum traditionellen Islam der Rechtsschulen, pluralistischen Meinungsfreiheit und innerislamischen Toleranz.
02.11.17
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