Antisemitismus und Muslime?! Der amerikanische Historiker Mark. R. Cohen hat die jüdisch-muslimische Beziehungen bewertet und ein Buch geschrieben. Ergebnis: die Judenfeindlichkeit im Islam ist nicht theologisch begründbar. Eine Buchkritik von Naved Johari.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird in Dialogveranstaltungen zwischen Juden, Christen und Muslimen irgendwann unweigerlich zum Thema. Strittige Übergänge vom Politischen zum Religiösen und umgekehrt belasten die Begegnungen ebenso wie der schmale Grat zwischen fundierter Kritik und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Alle Parteien untermauern ihre jeweilige Sichtweise gern mit dem Verweis auf die Geschichte. Fundiertes Wissen über die historischen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen ist deshalb unabdingbar, um vorurteilsbehaftete Geschichtsmythen nicht auf Kosten des Miteinanders weiterzutragen.
In seinem jüngst erschienenen Buch „Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter“ untersucht der US-amerikanische Historiker Mark R. Cohen die jüdisch-muslimischen Beziehungen zwischen dem 7. und 13. Jahrhundert. Diese werden mit der Situation jüdischer Minderheiten unter christlicher Herrschaft kontrastiert.
Anhand religiöser, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren zeigt Cohen auf, wie die Intoleranz gegenüber Juden und Jüdinnen in islamischen Gesellschaften zurückging, sich in christlichen Gesellschaften dagegen verschärfte. Bei seiner Suche nach den Ursachen räumt Cohen zugleich mit zwei wesentlichen historischen Irrtümern auf. So weist er die besonders von Arabisten betonte Idee eines „Goldenen Zeitalters“ zurück. Ein interreligiöses Utopia habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Auch in islamischen Gesellschaften hätten Juden stets in einer „Randposition“ gelebt. Diesen Begriff will er aber nicht als Synonym für einen Pariastatus verstanden wissen:
„Unabhängig davon, wo Juden lebten, wurde ihr Status von einem einheitlichen Recht bestimmt – von den Pflichten und Rechten der dimma, die selbst Teil der universellen Scharia waren. So nahmen sie innerhalb der Hierarchie der islamischen Gesellschaft zwar eine Randposition ein, waren aber weder ausgeschlossen noch von Vertreibung bedroht – und das sollte auch so bleiben.“¹
Der Sechstagekrieg und der arabisch-israelische Konflikt hätten hingegen einen anderen ahistorischen Aberglauben begründet, wonach Juden und Muslime niemals friedlich miteinander gelebt hätten. Diese Deutung des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens als permanente „Zeit der Diskriminierung und Unterdrückung“ werde von der Wahrnehmung begleitet, dass der „arabische Antisemitismus“ seinen Ursprung in den religiösen Quellen der Muslime habe.²
Eine spezifisch arabische Judenfeindschaft sei Cohen zufolge jedoch erst im 19. Jahrhundert aufgetreten, propagiert von christlichen Arabern.³ Cohen zitiert hier den jüdischen Orientalisten Claude Cahen:
„Es gibt im mittelalterlichen Islam nichts, was man konkret als Antisemitismus bezeichnen könnte. […] Die Objektivität verlangt, einen Vergleich zwischen christlicher und muslimischer Intoleranz anzustellen, die zum Teil Ähnlichkeiten aufweisen, zum Teil aber auch voneinander abweichen. Der Islam hat – trotz vieler chaotischer Veränderungen – gegenüber den Juden, die in muslimischen Ländern blieben, mehr Toleranz bewiesen als Europa.“⁴
Dieser „Gegenmythos“ eines ewigen Antagonismus zwischen Juden und Muslimen werde laut Cohen von den sogenannten Mizrachim, nach Israel ausgewanderten orientalischen Juden, gefördert. In ihrem Bemühen, sich an die israelische Gesellschaft zu assimilieren, und Eigenidentität gegenüber den Opfern des Holocaust und ihrer Nachfahren zu erlagen, betonten diese ihre eigene historische Verfolgung oder stellten diese mitunter gar verzerrt dar. Cohen zitiert hierzu den israelischen Forscher Yossi Yonah, selbst orientalischer Jude.⁵
Der anti-muslimische „Gegenmythos“, der heute von zahlreichen jüdischen Autoren vertreten werde, beruhe laut Cohen hauptsächlich auf den Darstellungen des Maimonides. Mit Haim Hillel Ben Sasson argumentiert er aber, dass Maimonides Aussagen in ihren zeitlichen Kontext einzuordnen seien. Zu dessen Lebzeiten im 12. Jahrhundert habe es tatsächlich schwere Verfolgungen gegeben. Maimonides habe zudem über die Lebensbedingungen der Juden unter christlicher Herrschaft keine Kenntnis gehabt.
Welche Ursachen und Faktoren waren letztlich aber ausschlaggebend für die relativ bessere gesellschaftliche Stellung der Juden unter muslimischer Herrschaft? Cohen führt hier acht wesentliche Gründe an.
Vor allem waren Juden nicht die einzige nicht-muslimische Gemeinschaft im islamischen Herrschaftsraum. Der Anthropologe Carleton S. Coons prägte in diesem Zusammenhang die Metapher vom „Mosaik der Vielfalt“ in der islamischen Welt. ⁶
Judenfeindlichkeit werde zudem nicht theologisch begründet. Der für seine dem Islam gegenüber mitunter nicht unkritische Haltung bekannte Historiker Bernhard Lewis stellt hierzu fest:
„In der islamischen Gesellschaft ist die Judenfeindlichkeit nicht theologischer Natur. […] Es handelt sich vielmehr um die übliche Haltung des Herrschenden gegenüber dem Untergebenen, der Mehrheit gegenüber der Minderheit ohne jene zusätzliche theologische und somit psychologische Dimension, die dem christlichen Antisemitismus seinen einzigartigen, besonderen Charakter verleiht.“⁷
Als weiterer Faktor ist das jeweils geltende Recht zu nennen:
„Das „Judenrecht“ im christliche Bereich mit der ihm innewohnenden Dualität von weltlichem und kirchlichem Recht und seiner häufig willkürlichen Anwendung stellte einen Entwurf dar, der in starkem Gegensatz zur Einheitlichkeit und relativen Beständigkeit des islamischen Rechts, der dimma stand.“⁸
Trotz aller Einschränkungen seien Dimmis innerhalb der politischen Sphäre immer präsent gewesen. Dies habe ihnen ein hohes Maß an Partizipation, Ansehen und Einfluss verschafft, ein Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Minderheitengemeinden entstehen lassen und den Herrschenden ihre Loyalität gesichert.“⁹
Auch die umfassende wirtschaftliche Teilhabe sei den Juden möglich gewesen. Als Kaufleute hätten sei sogar hohes Ansehen unter den Muslimen besessen. Selbst ihre Tätigkeit im Kreditwesen riefen keine der negativen Assoziationen hervor, die das jüdisch-christliche Verhältnis im Westen belastet hätten.¹⁰
Cohen weist aber auch darauf hin, dass eine wirklich egalitäre Assimilation auch unter den Juden, u. a. aus identitätsstiftenden bzw. identitätssichernden Gründen, gar nicht gewünscht wurde:
„Egalitäre Assimilation war nicht möglich, doch weder die herrschende Gruppe noch die untergeordneten Juden wünschten überhaupt Integration. Erstere betrachtete diese als Verstoß gegen die „rechte Ordnung“, letztere sahen darin eine Bedrohung ihrer Solidarität als Gemeinschaft und Religion. Dennoch bot die mit der Hierarchie zusammenhängende marginale Situation zahlreiche Gelegenheiten der positiven Interaktion.¹¹
Weiterhin nennt Cohen die „Selbstverständlichkeit jüdischer Urbanität in der islamischen Welt“ als Grund der besseren Situierung der Juden:¹²
„Jüdische Stadtbewohner in der islamischen Welt waren Teil einer Institution, die ein ursprüngliches Element der Gesellschaftsordnung darstellte, nicht ein Teil eines Organismus, der als Neuerung und Beeinträchtigung der Macht der traditionellen Obrigkeit galt.¹³
Cohens explizites Anliegen ist es „historische Tatsachen klarzustellen.“ Dies ist ihm mit seinem Buch teilweise gelungen. Dennoch ist gerade aus meiner Sicht als aktiv am christlich-jüdisch-muslimischen Dialog Beteiligter in manchen Punkten Kritik geboten.
So geht Cohen bspw. nicht auf die historisch verbriefte Situation von Christen und Muslimen unter jüdischer Herrschaft ein. Dieser Lücke ist er sich anscheinend durchaus bewusst, wenn er einleitend fragt, ob die „islamische Wut gegen Israel, die Vereinigten Staaten und Europa“ eine „alte Erscheinung“ sei.¹⁴
Auch geht Cohen in seinem Buch offenbar nicht ganz wertfrei und unvorbelastet an einen Teil seines Gegenstandes heran, wie er vorgibt. Dies wird z. B. in seiner häufigen Verwendung klischeebehafteter Termini oder Ideen („Heiliger Krieg“, „Isolation der Frauen im Islam“) deutlich. Eine orientalistische bzw. eurozentrische Sichtweise kommt immer wieder zum Tragen. Auch die muslimische Perspektive auf das Scheitern des Zusammenlebens in Medina wird allenfalls am Rande gewürdigt.
Positiv hervorzuheben ist aber zweifellos, dass Cohen eine akkurate Geschichtsschreibung beabsichtigt und vornimmt. Vielfältige, auch einander widersprechende Quellen werden behandelt, in einer Gesamtsystematik dargelegt und auf verständliche Weise in Kontexte gesetzt. Die Ergebnisse des so entstandenen Werks sind für alle Parteien gleichermaßen unbequem. Damit macht sich Cohen womöglich wenige Freunde, bietet jedoch für alle Seiten ausreichend Stoff zum Nachdenken. Gerade für diejenigen, die sich im Dialog engagieren, kann sein Buch ein Mittel sein, historisches Wissen heilend und verbindend einzusetzen und im Sinne eines friedlichen Miteinanders weiterzutragen.
Der Text ist eine überarbeitete und für IslamiQ gekürzte Version. Er kann in voller Länge auf www.monajo.de gelesen werden.