Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Jasser Abou Archid über die Normativität sunnitischer Überlieferungen.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Jasser Abou Archid: Ich bin 1980 als Sohn syrischer Eltern in Aachen zur Welt gekommen. Nach dem Abitur hegte ich großes Interesse für die islamische Theologie, die mich dazu verleitete, um 2004 einer Immatrikulationszusage der islamischen Universität in Medina nachzugehen. Dort studierte ich an einer Fakultät, deren Studieninhalte auf die Bereiche Normen- und Methodenlehre (Al-Fikh wa Usûlu“) fokussiert waren. Zudem besuchte ich eine Reihe von theologischen Lehrzirkeln in der Prophetenmoschee.
Nach Deutschland kehrte ich 2009 zurück und arbeitete für eine kurze Zeit als Religionslehrer in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, bevor ich mich 2011 nach Münster begab, um einen Masterstudiengang der islamischen Theologie im Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der WWU Münster anzutreten. Eine bereichernde Erfahrung für mich in dieser Zeit war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Islam aus einer bekenntnisneutralen, islamwissenschaftlichen Perspektive, welche sich von der konventionellen, innertheologischen Lehrweise zu einem großen Teil unterschied.
Beide Perspektiven – sowohl die bekenntnisorientierte als auch bekenntnisneutrale – erfahren und auf diese Weise den persönlichen Wissenshorizont auf vielfältige Weise erweitert zu haben, empfinde ich für meine tägliche wissenschaftliche Arbeit als Theologe an der Universität als sehr förderlich. Während der Studienzeit in Münster wurde mir 2013 die erfreuliche Gelegenheit zuteil, am Institut für Islamische Theologie in Osnabrück eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter anzutreten, die ich bis heute innehabe. Meine Tätigkeiten in Osnabrück fixieren sich zu einem großen Teil auf Forschung und Lehre im Bereich Hadith- und der arabischen Sprachwissenschaft.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Abou Archid: An meinem aktuellen Dissertationsthema arbeite ich seit ca. Ende 2015. Die Arbeit behandelt den modernen theologischen Diskurs (20./21. Jahrhundert) um die Normativität sunnitischer Überlieferungen, welche auf die verschiedenen Funktionen hinweisen, die der Prophet Muhammad in seinem Leben einnahm. Aus seiner Biografie sowie einer Vielzahl seiner tradierten Aussagen und Handlungen wissen wir nämlich, dass er nicht nur als Offenbarungsverkünder resp. Heilslehrer fungierte, sondern v.a. innerhalb seiner medinensischen Gemeinde der Funktion eines Regenten, Feldherrn und Richters nachkam und somit profane Entscheidungen traf, welche scheinbar nicht der direkten göttlichen Weisung entstammten. Zudem zeichnete er sich durch eine Reihe natürlicher Eigenschaften aus, die denen gewöhnlicher Menschen glichen. Angesichts dieser Ausgangssituation stellen sich folgende Fragen: Welche dieser Facetten des Propheten Muhammad sind Bestandteil der islamischen Religion und somit auf direkte oder indirekte Weise offenbarungsgebunden und welche nicht? Welche normative Aussagekraft – bindende, religiös-praktische Relevanz – besitzen Hadithe, welche diesen Facetten zugeordnet werden, für einen in der Gegenwart lebenden Muslim? Unter zeitgenössischen Theologen verschiedener Couleur führten diese Fragen zu spannenden Abhandlungen mit ziemlich diametralen Positionierungen, welche ich gerne theoretisch untersuchen und hinsichtlich ihrer Anwendung auf praxisbezogene theologische Fragestellungen untersuchen möchte.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Abou Archid: Ich bin bereits in meiner Masterarbeit mit dieser Thematik in Berührung gekommen und habe festgestellt, wie enorm wichtig sie für die Religionspraxis eines jeden Muslims ist. Nach traditioneller sunnitischer Auffassung besitzen die Überlieferungen des Propheten neben dem Koran einen sehr bedeutenden epistemologischen Stellenwert für die Begründung von religiösen Normen, die sich in der muslimischen Religionspraxis in signifikanter Weise widerspiegeln. Die Positionierung eines zeitgenössischen Theologen zu dieser Thematik ist jedoch entscheidend dafür, welche Bedeutung den Hadithen beigemessen wird.
Geht man bspw. aufgrund einer bestimmten Argumentation davon aus, dass das Gros der Hadithe historisch zu kontextualisieren oder gar als nicht normativ zu klassifizieren ist, hat dies zur Folge, dass den tradierten Aussagen und Handlungen des Propheten für das Leben eines Muslims nur noch eine geringe Bedeutung zugesprochen wird. Das kommt einer von der traditionellen sunnitischen Auffassung divergierenden Vorstellung von Religion sowie ihrer Marginalisierung für das Individuum und die Gesellschaft (jedenfalls auf Ebene der Hadithe) gleich. Hingegen wird der Religion eine große Bedeutung für das Individuum und die Gesellschaft beigemessen, wenn man davon ausgeht, dass die Hadithe einen größtenteils überzeitlichen normativen Charakter besitzen. Die Thematik ist also allein wegen ihrer praktischen Relevanz und der enormen Dialektik der Positionen höchst spannend und verdient demnach eine eingehende Untersuchung.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Abou Archid: Was ich bei künftigen Projekten durch ein optimales Zeit- und Arbeitsmanagement vermeiden würde, ist die Langwierigkeit, welche meine Arbeit an diesem Projekt begleitet hat und mitunter auf die partiell zu umfassende Literaturrecherche zurückzuführen ist. Nichtsdestotrotz habe ich in den letzten vier Jahren Arbeit enorm viel Erfahrung und wissenschaftliche Reife hinzugewonnen, was mich dazu veranlasst, theologische Problemlagen künftig nicht oberflächlich, sondern tiefgreifend, systematisch und damit kompetent anzugehen. Was mich bei dieser Arbeit wesentlich antreibt, ist die Brisanz, Wichtigkeit und praktische Relevanz des Dissertationsthemas, das – so hoffe ich – einen wichtigen Beitrag für die hiesige Forschung leisten wird.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Abou Archid: Durch die Doktorarbeit erhoffe ich mir in erster Linie einen akademischen Nutzen für die Forschung, denn ich betrachte sie als eine von mehreren Pionierarbeiten zur Entwicklung von Normativitätskonzepten für einen adäquaten hermeneutischen Umgang mit Koran- und Hadithtexten, welche derzeit an mehreren Standorten der islamischen Theologie in Deutschland entstehen. Ebenfalls bietet sie einen Einblick in die Heterogenität des modernen muslimischen Denkens, welches sich durch eine Vielfalt an Interpretationen der Quellentexte sowie theologischen Konzipierungen auszeichnet. Zudem könnten die Ergebnisse meiner Arbeit eine Orientierung für die Klärung von hiesigen theologisch-rechtlichen Fragestellungen bieten, in denen Hadithe eine gewichtige Rolle spielen, denn die Arbeit ist nicht ausschließlich im theoretischen Spektrum verhaftet.