Vor zwanzig Jahren wurden beim Brandanschlag von Solingen Gülüstan Öztürk (12), Gürsün Ince (27), Hülya Genç (9), Hatice Genç (18) und Saime Genç (4) von Rechtsextremisten ermordet. Wir sprachen mit Mevlüde Genç, die ihre Kinder, Enkelkinder und Nichte verlor, über das Leben nach der Tat.
Der rechtsextrem motivierte Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç am 29. Mai 1993 in Solingen, bei dem fünf Familienmitglieder starben, war in ganz Europa verurteilt worden. Die Schuldigen wurden verurteilt, verbüßten ihre Strafe und setzen nun ihr Leben fort. Doch für Mevlüde Genç, die ihre Kinder, Enkelkinder und Nichte verlor, sind die Wunden noch nicht verheilt. Trotz des großen Schicksalsschlags, hat sie eine beeindrucke Lebenshaltung und betont bei jeder Gelegenheit die Wichtigkeit des gesellschaftlichen Friedens/Harmonie und ruft zum friedvollen Miteinander auf. Ihre Enkelkinder sind unter anderem die Quelle für ihre Lebensfreude. Sie machte es sich zur Lebensaufgabe, anderen in ähnlichen Situationen Mut zu geben. Wir besuchten Mevlüde Genç, die aufgrund ihrer guten Beziehungen zu ihren Nachbarn und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber allen Menschen, ungeachtet ihrer Religion, ein Vorbild ist, für ein Interview.
Frau Genç, was hat sich nach dem Brandanschlag in ihrem Leben verändert?
Leidvolle Tage folgten den Anschlägen, ich wünsche diese Schmerzen nicht einmal meinen Erzfeinden. Unsere Welt brach zusammen. Mein jetziges Leben unterscheidet sich sehr von meinem Leben vor dem Anschlag. Ich hatte sieben Kinder, fünf Mädchen, zwei Jungen. Zwei von ihnen sind gestorben. Fünf leben noch. Sie haben geheiratet und versuchen ihr Leben fortzusetzen. Neben meinen beiden Töchtern habe ich zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren. Möge Allah allen, die dasselbe durchmachen, Geduld geben. Was sich änderte, ist der Schmerz, den wir empfanden. Was sich aber nicht geändert hat, ist meine Sichtweise meinen hier lebenden Mitmenschen gegenüber. Nur den vier Schuldigen, die unser Haus zum Grab für meine Familienmitglieder machten, empfinde ich tiefen Hass. Ich möchte sie weder sehen, noch ihre Namen hören. Seit dem Brandanschlag sind 20 Jahre vergangen, und ich lebe immer noch in Solingen, in Deutschland. Mir ist seitdem nicht Negatives wiederfahren in Deutschland. Menschen erkundigen sich immer wieder nach meinem Wohlergehen.
Haben sie nach dem Vorfall Hilfe von der türkischen und deutschen Regierung erhalten? Wessen Unterstützung haben sie am meisten gespürt?
Unser damaliges Haus war unser Eigentum und es war versichert. Wir erhielten von beiden Regierungen Hilfe bezüglich unserer vorübergehenden Bleibe nach dem Unglück. Die Stadt Solingen hat uns beim Bau unseres jetzigen Hauses geholfen und Wachleute zur Verfügung gestellt, um einen weiteren Anschlag zu verhindern. Bis zur Fertigstellung des neuen Hauses wurde uns von der Stadt für ein Jahr eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Einer meiner Söhne wurde zwei Jahre in einem Krankenhaus in Aachen behandelt, da er schwere Brandverletzungen hatte. Meine anderen Kinder wurden in einem umliegenden Krankenhaus behandelt. Am Tag nach dem Unglück wurde uns direkt in der Nähe dieses Krankenhaus eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Innerhalb weniger Stunden wurde das Haus eingerichtet und in einen bewohnbaren Zustand gebracht. Alle unsere Bedürfnisse wurden erfüllt. Die Stadt Solingen war uns eine große finanzielle Stütze. Auch die Türkei half uns. Noch heute bekommen wir regelmäßigen Besuch von türkischen Politikern, die sich nach unserem Wohlbefinden erkundigen. Zuletzt besuchten uns im letzten Jahr Metin Külünk, Mehmet Aydin, Hikmet Sami Türk sowie weitere Minister, Abgeordnete und Konsuls, an deren Namen ich mich im Moment nicht erinnern kann. Sie ließen und nie allein. Möge Allah mit der türkischen Regierung zufrieden sein. Außerdem luden sie mich in die Türkei ein, empfingen mich in ihren Ämtern, gaben mir die Gelegenheit, mein Heimatdorf in der Türkei zu besuchen und stellten mir einen Wagen zur Verfügung. Ich erfuhr von vielen Menschen Hilfe. Im letzten Jahr besuchte uns eine Gruppe von türkischen Studenten, die sich auf Studienfahrt in Deutschland befanden. Sie wollten uns treffen, also empfingen wir sie und unterhielten uns mit ihnen. Beide Regierungen stehen uns seit 20 Jahren zur Seite. Wir sind gläubige Menschen. Da wir reine Herzen haben, können wir sehen, dass Allah uns hilft.
Haben sie nie daran gedacht, in die Türkei zurückzukehren? Vielen wäre das sicherlich als Erstes in den Sinn gekommen.
An Rückkehr habe ich nie gedacht. Denn meine gesamte Familie ist hier, meine Kinder sind hier. In der Türkei habe ich niemanden. Meine Eltern sind gestorben. Meine Geschwister leben nicht mehr in meinem Heimatdorf, sondern sind überall in der Türkei verstreut. Ich bin eh gealtert, wenn ich jetzt in die Türkei zurückkehren würde, würde ich vereinsamen. Ich möchte in der Nähe meiner Kinder bleiben.
Sie haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Was können sie uns darüber sagen?
1995, also zwei Jahre nach dem Anschlag, bin ich deutsche Staatsbürgerin geworden. Ich habe mich niemals dagegen gesträubt. Das Recht dazu war uns damals auch schon zuerkannt worden. Also habe ich von diesem Recht Gebrauch gemacht.
Sie leben immer noch in Solingen. Auch ihre Wohnstadt hat sich nicht geändert.
Ich habe nie daran gedacht, woanders hinzuziehen. Seit 1973, also seit 40 Jahren, lebe ich nun schon in Solingen. Ich betrachte die Stadt als meine zweite Heimat. In einer anderen Stadt würde ich mich fremd fühlen. Ich bin mit 28 Jahren nach Solingen gekommen und habe die Stadt lieben gelernt. Jetzt bin 70 Jahre alt und möchte weiterhin hier bleiben. Ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht, deswegen ist die Stadt meine zweite Heimat.
Besuchen Sie ihre frühere Wohngegend?
Der Unglücksort ist nur ein Kilometer von unserem jetzigen Haus entfernt. Manchmal fahren wir daran vorbei oder besuchen Nachbarn. Ich habe dort 13 Jahre gelebt. Meine Nachbarn waren gute Menschen. Nur eine unserer Nachbarn war eine türkische Familie, die restlichen waren Deutsche. Sie alle sind uns damals zur Hilfe geeilt. Sie haben uns Kleidungsstücke und Geld in Briefumschlägen gebracht. Sie haben mit uns geweint und unser Leid geteilt. In der Unglücksnacht, als ich aus Panik schrie, gab mein deutscher Nachbar mir Wasser zu trinken. Ich war barfuß aus dem Haus geeilt und meine Nachbarin gab mir Pantoffeln, und versuchte zu helfen. Mittlerweile sind die meisten umgezogen. Doch ich kann meine frühere Wohngegend unmöglich vergessen.
Rechtsextrem motivierte Angriffe kommen leider immer noch vor. Es gibt Angriffe auf Wohnhäuser und Moscheen. Was denken sie darüber?
Wie auch der der stellvertretende türkische Premier sagte, wieso sind immer Türken von Stromunfällen betroffen? Über etwas zu reden, wovon man wenig Ahnung hat, gehört sich für einen Muslim nicht. Unsere Regierung ist für die Aufklärung dieser Fälle zuständig. Uns kommt die Aufgabe zu, diese Angriffe vorzubeugen, indem wir mit den Menschen reden. Das Gute zu verbreiten, erfordert viel Arbeit. Ich erinnere die Jugendlichen seit Jahren daran, auf ihr Verhalten zu achten und gute Freundschaften zu bilden, so dass die Zahl dieser Anschläge abnimmt. Ich gebe mein Bestes, um diese Botschaft zu verbreiten.
Haben sie nach dem Anschlag irgendwann noch mal Diskriminierung erfahren?
Nein. Etwas in der Art haben wir danach nicht erlebt. Der Brandanschlag war das erste und letzte Mal.
Konnten sie als Familie ihre Wunden heilen?
Das ist nicht möglich. Ähnlich der Redewendung „Von der Wiege bis ins Grab“, werde ich immer den Schmerz spüren. Das Erlebte ist immer in meinem Gedanken.
Aufgrund Ihres Einsatzes für ein friedvolles Miteinander wurde Ihnen ein Verdienstorden verliehen und sie wurden zur Mutter des Jahres ernannt. Außerdem wurde sie im letzten Jahr von der CDU als Wahlfrau in die Bundesversammlung gewählt.
Wir sind Muslime. Wir wissen, dass das Leben vergänglich ist und wir mit Hass und Schuldzuweisung nichts erreichen. Unsere Kinder wachsen in diesem Land auf, wir müssen ihnen zu Vorbildern werden, so dass sie Gutes tun. Denn das Gute kommt nur von guten Menschen. Hasserfüllt Menschen können nichts Gutes erreichen. Daher müssen wir den Hass aus unseren Herzen verbannen. Das Leid, das mir vor Jahren zugefügt wurde, hat mich nie veranlasst schmähvolle, hasserfüllte Dinge zu sagen. Ich habe immer wiederholt, dass wir in Deutschland lebende Türken, Teil der Türkei und Deutschlands sind. Also wurde ich zur Wahlfrau gewählt. Infolge dessen war ich eine der wenigen Menschen, die mit Kopftuch an der Bundesversammlung teilgenommen haben. Ich habe als Muslima niemanden schlecht gemacht, sondern habe jeden zur Freundschaft und Geschwisterlichkeit aufgerufen. Mein einziger Wille ist, dass wir in Einigkeit zusammenleben. Wir brauchen einander, unsere Kinder gegen zusammen zur Schule und arbeiten zusammen. Sie sollten sich einander annähern, die Sorgen des Anderen verstehen und zur Hilfe eilen. Ich habe keine schlechten Absichten und möge Allah jedem mit schlechten Absichten Verstand geben. Das ist mein Wunsch. Wir leben zusammen in diesem Land. Das Leid des anderen betrifft uns auch. Der Schmerz, den ich durchlebte, ist unser aller Schmerz. Wir müssen einander Wert schätzen. Ich danke auch den Zuständigen dafür, dass sie uns nie vergessen. Sie zeigen uns mit verschiedenen Verleihungen, dass sie meinen Einsatz schätzen.
Obwohl Interviews Sie sicherlich jedes Mal aufs Neue an den Schicksalsschlag erinnern, lehnen sie diese nie ab. Was ist der Grund dafür? Auch auf Anfragen von Instituten antworten sie positiv. Zuletzt hielten Sie eine Rede in einer Abendschule in Remscheid.
Menschen sind beeindruckt, dass ich und meine Familie, trotz der Geschehnisse positiv geblieben sind und positive Botschaften geben. Es gibt einen Unterschied zwischen Gut und Böse. Menschen möchten sich vom Schlechten entfernen, und suchen sich vielleicht ein Vorbild dafür. Ich werde zu diesen Veranstaltungen eingeladen, weil ich ausgesagt habe, dass wir einander Respekt zeigen und uns vorbildlich verhalten müssen. Ich habe gelitten. Damit nicht mehr Menschen leiden müssen, erzähle ich meine Geschichte. Vor einiger Zeit wurde ich beispielsweise dazu eingeladen, vor Oberstufenschülern zu sprechen. Eine deutsche Schülerin war dermaßen angetan, dass sie mir einen Brief schrieb. Da sie mich sehr friedensfördernd und standhaft finde, sei ich ihr zum Vorbild geworden. „Ich möchte von nun an liebevoll und hoffnungsfroh wie Mevlüde Genç werden. Allem mit Geduld begegnen“, schrieb sie. Das sind natürlich positive Entwicklungen. Auch wenn wir mit unserer Botschaft für ein friedliches Miteinander nur eine Jugendliche erreichen sollten, reicht und erfreut uns das.
Was Gefühle hegen Sie gegenüber den Tätern?
Ich hasse alle Vier und möchte nicht einmal ihre Namen hören. Allah wird mit ihnen abrechnen.
Die Schuldigen wurden zu 10-15 Jahren Haft verurteilt. Für deutsche Verhältnisse ist das eine hohe Strafe. Waren sie zufrieden mit dem Urteil?
Im Jugendstrafrecht werden keine längeren Strafen verhängt. Einer der Täter war volljährig und wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, die anderen zu jeweils zehn Jahren. Seit zehn Jahren sind die Täter auf freiem Fuß. Täter haben die Möglichkeit nach der Haft ihr normales Leben fortzuführen, die Opfer leiden jedoch ein Leben lang darunter.
Haben Sie die Täter gesehen? Haben sie sich jemals bei Ihnen entschuldigt oder Reue gezeigt?
Ich habe sie natürlich vor Gericht gesehen. Ich habe sie geduldig angeguckt. Ich habe Hilfe bei Allah gesucht. „Allah gib mir Geduld. Ich bin in der Fremde und habe sonst keine Stütze“, habe ich gesagt. Und Allah hat mir Geduld gegeben. Wenn du gläubig bist und Hilfe bei Allah suchst, gibt er dir Kraft. Die Täter haben keine Reue gezeigt. Sie sind hasserfüllt und gehirngewaschen. Wenn sie in der Lage wären, Reue zu zeigen, hätten sie eh nicht diesen Anschlag verübt.
Haben Sie die Familien der Täter kennengelernt? Haben diese sich entschuldigt?
Nein! Von den Familien habe ich auch nichts gehört. Die Mutter von einem der Täter wollte während der Verhandlungen mit uns reden und sich für ihren Sohn entschuldigen. Doch ich wies sie zurück. Soll jeder bleiben, wo er ist. Ich wollte nicht mit ihr reden.
Zwei Jahre nach dem Vorfall haben sie mit deutschen Kindern eine Schwarzmeerreise unternommen. Was war der Grund für diese Reise?
Die Stadt Solingen und die Türkei boten ein Austauschprogramm für deutsche und türkische Kinder an, um die Kultur des jeweils anderen Landes kennenzulernen. Die türkischen Schüler haben bei den deutschen Schülern übernachtet und diese bei den Austauschfamilien in der Türkei. Auch wir haben sie bei uns zu Hause empfangen. Aus Deutschland sind 27 SchülerInnen nach Amasya gereist. Kinder sind überall gleich. Weil ich nicht wollte, dass sie sich dort allein fühlen, habe ich mich ihnen angeschlossen. Ich wollte nicht, dass sie sich dort so fremd fühlen, wie mich fühlte, als ich nach Deutschland kam. Also bin ich mit ihnen gereist. Wir haben zusammen mit den Austauscheltern für sie gekocht und haben mit ihnen Sachen unternommen. Sie blieben zehn Tage in Amasya. Sie alle sagten „Mama“ zu uns. Es war während des Ramadans und sie wollte zusammen mit uns fasten. Sie standen auf, um zu Sahur zu essen und fasteten an dem Tag mit uns. Ich habe zwar meine Kinder verloren und sehr großes Leid erlebt, doch dies stellte kein Hindernis für mich dar, diese Schulkinder dort zu empfangen.
Können sie uns auch etwas von dem Genc-Preis erzählen?
Dieser Preis wird seit acht Jahren alle zwei Jahre von Dr. Yasar Bilgin verliehen. Er wurde bisher in Solingen sowie Frankfurt verliehen und wird in diesem Juni in Berlin verliehen. Mit dem Preis werden Personen ausgezeichnet, die in ihrem öffentlichen Wirken den Geist des Respekts und der Versöhnung vorbildhaft leben. Im letzten Jahr wurde ein Iraner ausgezeichnet. Ich bemühe mich, an diesen Preisverleihungen teilzunehmen.
Sie setzen sich unermüdlich für ein friedvolles Miteinander ein. Sie nehmen jede Einladung an. Dies erfordert Kraft. Wie schaffen sie es, so stark zu bleiben?
Wir sind gläubige Menschen und ich glaube, dass dies meine Aufgabe ist. Wir haben uns unserem Schicksal gefügt und uns in Geduld geübt. Wir haben Allah um Geduld gebeten. Wer glaubt, dem schenkt Allah Geduld.
Eine Ecke des Genc-Hauses ist Preisen, Auszeichnungen und Plaketten gewidmet. Aufgrund ihres Einsatzes wurde sie unter anderem vom ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau und dem jetzigen türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül ausgezeichnet. Am Ende unseres Gesprächs gesellt sich auch Mevlüde Gençs Ehemann zu uns. Sie seien nicht mehr die Jüngsten und zeigten Ermüdungserscheinungen, daher hätten sie in diesem Jahr nur unsere Interviewanfrage akzeptiert, informiert er uns. Während des Gesprächs erfahren wir ferner, dass einige Familienmitglieder in den 20 Jahren seit dem Brandanschlag sich nie zu dem Vorfall geäußert hätten.
Beim Abschied wiederholt Mevlüde Genç die folgende Worte: „Ich bin jetzt alt, aber ich mache das Ganze euch zu Willen. Und ich werde es bis an mein Lebensende tun. Wir haben unter diesem Schicksalsschlag sehr gelitten und möchten nicht, dass anderen dasselbe widerfährt. Wenn du zu den Guten gehörst, musst du versuchen, andere dazu zu bringen, ihr Leben zum Guten zu wenden. Mit umgänglichen und herzensguten Menschen kommt jeder zurecht. Es ist schwerer, die Bösen zum Guten zu wenden.“