Salafismus ist ein modernes Ereignis. Die heutzutage als extrem bezeichneten Strömungen kommen laut Prof. Abdurrahim Kozalı nur dann zur Besinnung, wenn sie ihre Traditionen kennenlernen und sich ihnen gegenüber öffnen.
Als erstes werden wir uns dem Begriff „Salaf“ widmen. In den klassischen Wörterbüchern wie Lisān al- ͑Arab, al-Qāmūs al-Muḥīṭ findet man für „Salaf“ die wörtliche Bedeutung „Wegbereiter, Vorgänger“. ((Al-Fīrūzābādī, al-Qāmūs al-Muḥīṭ, B. 3, S. 138, 139; Ibn Manẓūr, Lisān al-͑Arab, Qāhira B. 3, S. 2068.)) Obwohl der Begriff in den tradierten islamischen Wissenschaften sehr häufig vorkommt, kann man nähere Erläuterung, vermutlich wegen seines Bekanntheitsgrades, nicht antreffen. Demzufolge wird die erste Generation nach dem Propheten Muhammad, bestehend aus den Sahaba und Tabiun, als „Salaf (as-salaf aṣ-Ṣāliḥūn)“ bezeichnet. Ferner wurden die Begründer der religiösen, moralischen und rechtlichen Schulen, wie auch seine Schüler, als „Salaf“ benannt. Beispielsweise sind Abū Ḥanīfa (150/767) und seine ersten Schüler Abū Yūsuf (182/798) und Šaibānī (189/805) die ersten „Salaf“ der hanafitischen Rechtsschule. In Anbetracht der Lobung der ersten drei Generationen seitens des Propheten in den Hadith-Überlieferungen (((خيركم قرنى ثم الدين يلونهم ثم الدين يلونهم) siehe Buḫārī, Šahāda, 9)), haben die „Salaf“ im Islam eine besondere Stellung.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das/die islamische Geschichts-verständnisses/-methodologie/-prägung eingehen. Grundsätzlich sind diejenigen Ereignisse bzw. Personen, die der Offenbarungszeit des Koran und dem Propheten temporer näher waren, primäer wertvoller; der oben angeführte Hadith bringt genau dies zum Ausdruck. Trotz alledem ist bei der Quellenheranziehung und -verwendung, die letztere/jüngere die wertvolleren. Hierzu ein Beispiel: Unter den Rechtsgelehrten gilt das erstgeschriebene Werk Tafsīru ḫamsi miatin min al-Qurʾān al-Karīm ((Muqātil b. Sulaiman’ın (150/767), Tafsīru ḫamsi miatin min al-Qurʾān al-Karīm, (hrsgb: Isaiah Goldfeld), ??)) von Muqātil b. Sulaiman’ın (150/767), im Gegensatz zu den Werken von Ğaṣṣāṣ (370/981) ((Ğaṣṣāṣ, Abū Bakr Aḥmad b. ͑Aliy, Aḥkām al-Qurʾān, Bayrūt 1985.)), İbn ͑Arabī (543/1148) ((İbn ͑Arabī, Abū Bakr Muḥammad b. ͑Abdullāh, Aḥkām al-Qurʾān, Qāhira 1974.)) und Qurtubī (671/1273) ((Qurtubī, Abū Abdullāh Muḥammad, al-Ğāmī͑ li Aḥkām al-Qurʾān, Riyād 2003)), eher als zweitrangig. Dieser Zustand laesst jedoch die ältere Quelle nicht weniger Wert sein. Vielmehr dienen die jüngeren Quellen als Ergänzung, Bewertung usw. der vorhergegangenen Werke und stellen eine Bereicherung dar.
„Salaf“ ist als ein gewisser Prozess zu betrachten, als eine Art Tradition. Im türkischen hat es die zutreffliche Bedeutung „gelenek/gelen-ek“ (Kommender Zusatz) gefunden. ((Das Wort “تقليد” aus dem arabischen, ist ebenfalls eine durchaus schöne Bedeutung.)) D.h. einerseits etwas aus der Ferne, Geschichte kommender, und andererseits jedoch in der Gegenwart erfolgter Zusatz. Demzufolge ist „Salaf“ nicht etwas statisches, sondern etwas dynamisches, dass, auch wenn nicht immer in der jeweils darauffolgenden Dekade, doch innerhalb von zwei bis drei Dekaden eine Wandlung stattfinden kann. Es werden neu Werke verfasst, die auf vorherige Schriften basieren, somit diese als „naṣṣ“ und schließlich die aelteren als „Salaf“ etablieren. Dies führt dazu, dass sich das Augenmerk auf die neuen Werke richtet und sich hiermit als renommierte Werke (Muḫtaṣar) einrangieren. Dies wiederum bedeutet, dass neue Kommentare und Glossen verfasst werden und die neu entstandenen Werke literarisch inhaltlich bewertet werden. Kommentatore sowie Glossatoren ist geläufig, dass nicht nur der Text verdeutlicht wird, sondern ebenfalls vom jeweiligen Kommentatoren oder Glossatoren Kritik mit einfließt. Man möchte damit die Integrität zwischen dem neuen und dem alten Werk prüfen. Und nur solche Werke, die konstruktiven Kritiken standhalten, gewinnen eine Gewisse autorität. ((Nach der schafiitische Rechtsschule ist Salaf die „Ansicht der Vorderer” in Bagdat (al-Qawl al-Qadῑm)” angefangen mit al-Imām Šāfi͑ī (204/820) und weitergeführt durch Namen wie: Abῡ Ṯawr (240/854), Aḥmad b. Ḥanbal (241/855), Karᾱbisῑ (248/862), Za’farᾱnῑ (260/874). In Ägypten geht es weiter mit den „Ansichten der Neuen’’ (al-Qawl al-Ğadῑd)” wie: Buwaytῑ (231/846), Muzanῑ (264/878), Rabi’ al-Murᾱdῑ (270/884). Als naṣṣı anerkannt gilt das Werk von Muzanῑ, al-Muḫtaṣar aṣ-Ṣaġῑr. Folgend als neue Autorität gilt Ibn Surayğ (306/918). Ferner Ğuwaynī (478/1085) und sein Schüler Ġazzālī (505/1111), Ġazzālīs Werk al-Wağīz’i etablierte sich zur neuen Autorität dieser Rechtsschule. Weiterhin als eine nächste Größe Nawawī (926/1520) mit seinem WerkRawḍa at-tālibī .von Šāfi͑ī bis Ġazzālī sind alle Gelehrten alle der Salaf zugehörig. Nach Nawawī kommende Autoritäten die sich mit al-Minhāğ beschäftigten, sind Namen wie Ibn Ḥağar al-Haytamī (974/1567) und Ḫaṭīb aš-Širbīnī (977/1570). Diese Kette und Autorität ist bis heute bestehend. Aufgrund dieser Wechselseitigkeit, wird im Zuge eines modernen Falles primär Ansichten und Werke Nawawīs, Ibn Ḥağar al-Haytamīs und Ḫaṭīb aš-Širbīnīs zur Hilfe genommen.)) Demzufolge kann man sagen, dass „Salaf“ aus dem Ursprung entstammt und auf dem Konsens ((Basierend auf den Hadith (Ibn Māğa, Fitan, 8) (ان امتى لاتجتمع على ضلالة) „Meine Umma/Gemeinschaft vereint sich nicht im Irrtum“.)) der Umma/Gemeinschaft basiert und somit aus seiner dynamik resultiert. ((In unserer heutigen Zeit kann man sagen, das Salafis nicht mehr ihrer Traditionskette folgen und entsprechen, sondern viel mehr eine neue Richtung einschlagen.))
Zwar geht es hauptsächlich um „Salaf und Salafismus’’, jedoch ist es aus Gründen der Verstaendlichkeit und Vollstaendigkeit wichtig kurz auch auf den Begriff „Salafiyya’’ einzugehen. “Salafiyya” gibt den Hinweis auf diejenigen, die ein beschrenktes Denken im Bezug auf religiöse Texte haben und in der Relation Vernunft versus Überlieferung, das Gewicht auf Überlieferungen legt.
Der Gedankengut der Salafiyya ist in drei Epochen zu gliedern. 1. Gründungsphase, dazu gehört Ahmad b. Hanbal (241/855). 2. Die Phase der Systematisierung, wie zB. der Vertreter Ibn Taymiyya (728/1328). 3. Die Phase der Neu-Salafiyya im 19. Jh., durch westliche Einflüsse enstanden.
Besonders in den Anfängen der „Salafiyya”, ging es viel mehr um emotionale Intelligenz, als um die Intellektualität. Deshalb ist die „Salafiyya” auch eher mit ihrer aktionären und politischen Seite im Vordergrund. Diese Haltung wurde beibehalten, so dass die Heranziehung von Eschârischen und Mu’tezilîschen Werken in hanbalitischen Rechtswerken seitens der „Salafiyya” damit begründet werden kann. ((Als Beispiel: Das Werk al-Mustaṣfā von dem schafiitisch-escharitischen Gelehrten Ġazzālī (505/1111) wurde mit dem Werk Rawdat an-Nāẓır wa Gunnat al-Muāẓır des hanbalitischen Gelehrten İbn Qudāma (620/1223) und das Werk al-Mu ͑tamad fī Uṣūl al-Fıqh des mu’tezilischen Gelehrten Abu’l-Ḥusayn al-Baṣrī (436/1044) mit dem Werk ’Udda fῑ Uṣūl al-Fıqh des hanbalitischen Gelehrten Abū Ya’lā al-Farrā’nın (458/1066) inhaltlich verglichen.)) Obwohl die „Salafiyya” von Anbeginn besonders mit den Mutezilis, aber auch mit den Esch’ariten Auseinandersetzungen hatte. Auch wenn sie gewisse Traditionen führte, wurde sie von der Umma/Gemeinschaft/Allgemeinheit immer wieder mit Skepsis betrachtet.
Salafismus ist ein modernes Ereignis, denn die Modernität ist ebenfalls in gewisser Weise seiner Tradition entrissen. In diesem Zusammenhang schreibt Taha Abdurrahman in seinem Buch al-͑Amal ad-Dīnī wa Tağdīd al-͑Aql, dass die Wurzeln bishin zu Descartes (1666) moderner Rationalität zurück führt. Auch wenn die Modernität versucht sich eine Tradition aufzubauen, bleibt sie von der Tatsache der Tradition entrissen zu sein nicht unberührt. Mit dem Versuch ein Tradition aufzubauen, in dem sie aristotelische Schriften neu deuten (Humanismus), ist ebenfalls ein Beweis dafür. Jedoch hat die aristotelische Philosophie einen Fokus auf die Götter, die Ähnlichkeiten mit der christlischen und islamischen Philosophie auffeist, so dass schon hier auch die Tradition abbricht, da die Modernität die Göttlichkeit ein sehr geringen Wert beimisst bzw. an den Rand drängt.
Das der Salafismus aus der Tradition entrissen ist, wurde bereits erwaehnt, man könnte sogar sagen, dass sie traditionslos ist. Der Begriff „gelenek’’ wie bereits oben erwähnt könnte im Allgemeinen auch als die Wurzeln und Generationen von Glaubens- und Denksystemen sowie auf deren Grundlage entstandene Werte- und Moralvorstellungen, Rechtsauffassungen, politische und gesellschaftliche Leitideen sowie das althergebrachte kulturelle Erbe verstanden werden. Die Angemessenheit einer Tradition zeichnet sich durch ihre Resistenz und ihr erfolgreiches Überdauern aus. Beispielsweise kann für die Osnabrücker, für Deutschland und Europa der Westfälische Frieden (1648) als eine bewährte Tradition gelten, die lehrt, wie ein harmonisches Miteinander zwischen andersdenkenden Menschen über Generationen hinweg gelingen kann. Ich denke, dass Tradition, über Generationen hinweg, ihre Erfahrungen wie Toleranz, Frieden, Moral an die Nächsten weitergibt und somit eine Reife und Identität gewährt. . Und genau das ist der Problempunkt, dem der Salafismus und alle anderen Strömungen die fern ihrer Traditionen sind unterliegt. Die Anhänger des Salafismus jedoch, blenden Traditionen völlig aus. Solche Menschen leiden unter einem Identitätskonflikt, sind unerfahren, möchten sich beweisen und suchen nach Anerkennung. Der einfachste Weg der Anerkennung ist es, eine extreme und zugespitzte Haltung einzunehmen. Menschen wie Salafisten sind nicht in der Lage Traditionen zu erfassen. Deshalb bleiben sie in ihrem Denken und Glauben sehr oberflächlich. In Europa, auf dem Balkan und in Mittelasien, wo sie fern von der Tradition sind, ist es einfacher für sie zu expandieren. In Orten die eine fundierte Tradition haben und sowohl den Orient als auch den Okzident eine Plattform bieten, wie beispielsweise die Türkei, könne solch Strömungen kaum einen Platz finden.
Meines Erachtens, werden die heutzutage als extrem zu bezeichnenden Strömungen nur zur Besinnung kommen, wenn sie ihre Traditionen kennenlernen und sich ihnen gegenüber öffnen. Ansonsten werden ihre Handlungen nichts weiter sein als ein aggressives Sich-beweisen-Wollen.