Viele Antworten der im Bundestag vertretenen Parteien auf die Fragen in den Wahlprüfsteinen sind ähnlich. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede. Mustafa Yeneroğlu hat die Ergebnisse zusammengefasst und spricht eine klare Empfehlung aus: Wählen gehen!
Die Entscheidung, welche Partei die Stimme bekommen soll, fällt nicht leicht. Wie komplex die Entscheidungsfindung sein kann, soll im Folgenden exemplarisch dargelegt werden. Denn nicht nur junge oder eingebürgerte Erstwähler sind oft überfordert. Das kann vielerlei Gründe haben. So etwa die Tatsache, dass die offiziellen Positionen der Parteien in vielen Punkten nah beieinanderliegen, wie man auch an den bevorstehenden Wahlprüfsteinen sehen kann. Schon bei der ersten Frage könnte man meinen, dass die rechtliche Integration des Islams in Deutschland parteiübergreifend gewollt ist.
Erst mit einem gewissen Hintergrundwissen erschließt sich dem Wähler, was er von den Parteiaussagen, die zudem oft in blumige Worte verpackt sind, halten kann. Und selbst dann, liegen die Unterschiede meist so weit im Detail, dass selbst informierte Wähler überfordert sein können.
Mal abgesehen davon, dass Muslime bei den Parteien noch nicht gebührlich als relevante Wählergruppe anerkannt sind, so dass man ihr Potential achtend besondere Wahlversprechen erwarten könnte, wäre es auch nicht richtig, sich allein von den Versprechen in Wahlkampfzeiten leiten zu lassen. Wichtig ist auch, ob das Versprochene auch realistisch ist. So fällt es den großen Parteien mit Regierungsverantwortung schwieriger, etwas zu versprechen, dass sie nach den Wahlen nicht einhalten können.
Auch im Anbetracht weitreichender Ressentiments gegen Muslime in der Bevölkerung sollte man von den größeren Volksparteien nicht allzu viel an Wahlversprechen erwarten dürfen, da die Achtung muslimischer Sensibilitäten bei anderen Wählergruppen Stimmen kosten könnte. Kleine Parteien hingegen brauchen sich keine Gedanken über die Realisierung ihres Versprechens zu machen bzw. haben geringere Chancen, sich in den Koalitionsgesprächen durchzusetzen. Dennoch ist es nicht zu unterschätzen, wenn kleinere – auch kleinste – Parteien Themen ansprechen, die für Muslime von Bedeutung sind. Denn oftmals erreichen sie erst über diesen Weg Beachtung in der Öffentlichkeit und mit zeitlicher Verzögerung auch bei den großen Parteien.
Hinzu kommen sollte der Blick auf die Vergangenheit. So mag beispielsweise den Einen die inhaltliche Ausrichtung der Deutschen Islamkonferenz von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) auf sicherheitspolitische Themen enttäuscht haben, den Anderen wiederum die Haltung des Grünen-Abgeordneten Memet Kılıç in der Beschneidungsdebatte. Er hatte sich mit seiner Partei gegen die religiös motivierte Beschneidung ausgesprochen.
Auf der anderen Seite kann man das von der CDU/CSU und FDP Regierung verabschiedete Betreuungsgeld positiv finden, wonach Mütter, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause betreuen, einen monatlichen Zuschuss erhalten – wird u.a. von der SPD und den Grünen abgelehnt – oder aber die von der Linkspartei vehement geforderte Abschaffung des Verfassungsschutzes im Lichte der NSU-Morde, wogegen sich wiederum die CDU/CSU sträubt.
Kurz: Jeder Wähler hat seine Themen, die ihm besonders wichtig sind. Insofern ist auch jeder Wähler angehalten und aufgefordert, sich selbst ein Bild von den jeweiligen Positionen zu machen. Aus der Perspektive eines Muslims, der sich für die rechtspolitische Integration des Islams in Deutschland interessiert und nach der Partei sucht, die am ehesten muslimische Interessen anspricht, ist die Situation wesentlich komplizierter. Im Grunde kann festgestellt werden, dass die fachliche Kompetenz für spezifische Themen von Muslimen parteiübergreifend äußerst mangelhaft ist.
Die Partei, die sich wohl am ehesten mit der Thematik beschäftigt, ist – für viele vielleicht überraschend – die CDU. Diese Feststellung bedeutet natürlich noch lange nicht, dass die CDU auch eine Linie befürwortet, die den religionsverfassungsrechtlichen Vorgaben der Grundgesetzes entspricht bzw. Muslime als Minderheit anspricht . Die im Verhältnis zu den anderen Parteien noch kenntnisreichere Suche nach Wegen der rechtlichen Integration islamischer Religionsgemeinschaften erkennt die Herausforderung der rechtspolitischen Integration des Islam zwar grundsätzlich an, wird aber wohl die bisherige Politik der rechtlichen Ungleichbehandlung, also der Erhaltung kirchlicher Privilegien bei gleichzeitiger Anwendung pragmatischer Lösungsansätze am unteren Limit für Muslime möglichst fortführen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass im Parteiprogramm der CDU Muslime nur im Zusammenhang mit angeblichen islamischen Sondergerichten und Parallelgesellschaften erwähnt werden. Wo es diese Sondergerichte gibt und warum sie eine solche Popularität bei Teilen der CDU genießen, können wohl nur Rechtspopulisten in der Union beantworten. Dagegen wissen liberale Kräfte in der CDU, dass diese antiquierte Haltung zur Bemühung von Phantomdiskussionen und Bedienung von Ressentiments gegen Muslime ein großes Hindernis für die CDU selbst darstellt.
Die SPD spricht sich für die religionsverfassungsrechtliche Offenheit aus und will auch wie die anderen Parteien – bis auf die CDU – die Islamkonferenz zukünftig auf die rechtliche Integration fokussieren, jedoch zeigt ihre zögerliche Haltung und teils widersprechende Ansätze in den Ländern eher geringes Interesse wenn nicht sogar fehlende Kompetenz. Die Grünen wiederum unterstützen zwar den Verlautbarungen nach grundsätzlich gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten für Muslime, allerdings verantworten sie aber auch den bisher schlechtmöglichsten Ansatz wie am Beispiel NRW mit der Änderung des Schulgesetzes. Vor allem die Befürwortung von sogenannten Zwischen- bzw. Übergangslösungen ohne Notwendigkeit führt zu Entwicklungen, die sowohl dem Religionsverfassungsrecht, als auch den Interessen der Muslime widersprechen. Die FDP erkennt die bisherigen Versäumnisse zwar an und betont die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Staatskirchenrechts hin zum „modernen Religionsverfassungsrecht“, allerdings fehlen vernehmbare Schritte und Konzepte hierzu. Die Linke schließlich will die Ungleichbehandlung der Religionen zwar überwinden, tritt aber für ein laizistisches Modell mit konsequenterer Trennung von Staat und Religion ein.
Erfreulich ist, dass der Anstieg von Islamfeindlichkeit parteiübergreifend anerkannt wird, allerdings mit unterschiedlichen Ansätzen zur Bekämpfung desselben. Die CDU etwa will den Abbau von Ängsten und Vorurteilen fördern, sowie das Wissen über den Islam und den Dialog verbessern. Alle anderen Parteien wollen die finanziellen Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus erhöhen. Die Grünen wollen zudem die Grauzonen zwischen rechtskonservativer und rechtsextremer Ideologie ausleuchten und die Linkspartei problematisiert die Instrumentalisierung der Ängste gegenüber Muslimen. Während die CDU die gesonderte Erfassung islamfeindlicher Straftaten ablehnt, die SPD sich geschlossen zeigt, die FDP einen solchen Schritt prüfen will, setzen sich Die Grünen und Die Linke dafür ein.
Parteiübergreifend wird die Benachteiligung von kopftuchtragenden muslimischen Frauen auf dem Arbeitsmarkt problematisiert. Einstimmig sprechen sich die Parteien für die strukturelle und finanzielle Stärkung der Antidiskriminierungsstelle aus. Zusätzlich fordern Die Grünen wie Die Linke weitergehende Maßnahmen. Während die CDU die Ablehnung des Kopftuchs auf dem privatrechtlichen Arbeitsmarkt als Diskriminierung anerkennt und problematisiert, will sie weiterhin am Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen festhalten. Einzig Die Linke ist ausdrücklich gegen das Kopftuchverbot. Auch die FDP spricht sich mit Verweis (!) auf „einen toleranten Islam“, welcher „das Tragen von Kopftüchern im Schuldienst untersagt“ für das Verbot aus. Die SPD hält sich bedeckt, im Zweifel scheint sie sämtliche religiösen Erkennungsformen bzw. Kleider bei Lehrerinnen abzulehnen, Die Grünen verweisen auf unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Partei, also im Zweifel auch für den status qou, welches Fortführung des Verbots bedeutet.
Auf die Frage nach der bisher unzureichenden Aufklärung der NSU-Morde antworten die Parteien teilweise höchst unterschiedlich. So zieht die Union aus diesem Versagen der Sicherheitsbehörden schwerpunktmäßig nur den Schluss, den besseren Austausch der Behörden untereinander zu verbessern. Die SPD geht einen Schritt weiter und spricht von „institutionellen Reformen“, ohne näher zu erläutern, was damit gemeint sein soll. Die Grünen sind in der Wortwahl entschiedener und sprechen von einer „klaren Zäsur und einem Neustart“ der Sicherheitsbehörden. Anders versucht die FDP zu punkten und verweist auf ihre Forderung, die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses fortzusetzen, zu einer möglichen Neugestaltung oder Neuausrichtung der Sicherheitsbehörden schweigt sie. Entschieden tritt in dieser Frage die Linkspartei auf. Sie spricht sich klar für die „Auflösung des Verfassungsschutzes und seine Ersetzung durch eine zivilgesellschaftliche Beobachtung der Naziszene“ aus. Sicherlich wirft auch das Letztere Fragen auf.
Die Parteien sind zu ihren Positionen bzgl. des Kommunalwahlrechts von Nicht-EU-Bürgern, zur doppelten Staatsbürgerschaft, zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung oder auch der Medien befragt worden. Vorab: Die Union hat sich zu keinem dieser Fragen geäußert. Daraus könnte man schließen, dass sie hier im Hinblick auf die Zielgruppe nur schwer punkten kann. So ist allseits bekannt, dass die Unionsparteien die doppelte Staatsbürgerschaft klar ablehnen während SPD, Die Grünen, FDP und Die Linke eine klares „Ja“ als Antwort geben. Ähnlich sind die Parteipositionen auch in Bezug auf das kommunale Wahlrecht. Auch hier dürfte hinreichend bekannt sein, dass allein die CDU/CSU dagegen ist.
Auf die Frage, welche konkreten Maßnahmen die Parteien einleiten werden, um den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst zu erhöhen, verweisen SPD und Die Linke auf die Möglichkeit der anonymisierten Bewerbungsverfahren, ohne jedoch verbindlich zu werden. Zudem geben Die Grünen und Die Linke an, die Mehrsprachigkeit mehr als bisher beim Einstellungsverfahren zu gewichten. Unterm Strich sprechen sich aber alle Parteien dafür aus, den Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der öffentlichen Verwaltung zu erhöhen.
In Bezug auf die Medien sind die Reaktionen ähnlich. Alle Parteien sprechen sich dafür aus, dass der Anteil der Migranten in den Redaktionsräumen der Medien steigen muss – mit unterschiedlichen Ansätzen. Die SPD sieht vor allem die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Pflicht, „die Vielfalt in unserem Land in der Berichterstattung aufzugreifen“. Die Grünen verweisen auf Projekte der Grünen-Nahen Heinrich-Böll-Stiftung, wo der Nachwuchs mit Migrationshintergrund gefördert wird. Die Linke prangert die „oft einseitige und negative Darstellung von Migranten in den Medien“ an, ohne konkrete Maßnahmen anzuführen. Die FDP schließlich meint, die Pressefreiheit nicht mit Einwirkungen „bevormunden“ zu wollen.
Außenpolitische Fragen, die wir hier nicht näher eingehen werden, haben bei den meisten Muslimen auch eine wesentliche Bedeutung für ihr Wahlverhalten. Dabei ist vor allem die Haltung der Parteien zur völkerrechtswidrigen Besatzung Palästinas und der dortigen Menschenrechtslage, die ideologisch motivierte Ablehnung des türkischen EU-Beitritts, die teilweise mit unterschiedlichem Maß beachteten Menschenrechtsverletzungen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, destabilisierende Waffenexporte, die Konsequenzen der weltweiten Antiterrorpolitik und nicht zuletzt die Haltung zum Militärputsch in Ägypten für ihr Wahlverhalten von Bedeutung.
Zusammenfassend lässt sich aus den Antworten Folgendes folgern: Die Parteien stehen erst am Anfang eines langen Prozesses und sind noch lange nicht kompetent genug, um inhaltlich durchdachte und zufriedenstellende Antworten auf Fragen mit muslimischen Interessen zu geben. Das hängt sicherlich auch am mangelnden Interesse und der dürftigen Mitwirkung von Muslimen in entsprechenden Parteiorganen zusammen. So gibt es erst seit einigen Jahren einen Arbeitskreis Grüner Muslime, leider mit eher geringem Einfluss. In der SPD befindet sich ein ähnlicher Arbeitskreis erst noch (!) in der Gründungsphase und in den anderen Parteien hinkt man sogar der SPD noch hinterher. Insofern sind gerade Muslime aufgefordert, sich zu engagieren und stärker am Meinungsbildungsprozess innerhalb der Parteien mitzuwirken. Wie die Antworten zeigen, gibt es an vielen Stellen noch immensen Handlungsbedarf.
Um das Durcheinander zu vervollständigen, sollten wir uns bei der Frage, welche Partei man wählen sollte, auch mögliche Regierungskonstellationen anschauen. Laut den letzten Hochrechnungen kommt die CDU auf knapp über 40 Prozent vor der SPD mit 25 Prozent. Es folgen die Grünen mit etwa 13 Prozent, die FDP mit 5 Prozent und die Linkspartei mit 8 Prozent. Bisher ist keine Partei bereit, mit der Linkspartei zu koalieren. Wer also die Linke wählt, sollte davon ausgehen, dass seine Wunschpartei an der Regierung nicht beteiligt sein wird. Doch ist auch das eine Option, wie man an der teilweise guten Arbeit der Linkspartei in den vergangenen Jahren aus der Opposition heraus beobachten konnte.
Wer beispielsweise die FDP wählt, kann davon ausgehen, dass er damit gleichzeitig auch die CDU/CSU stärkt. Denn sollte die FDP die 5-Prozent-Hürde nehmen und in den Bundestag einziehen, gilt es als sicher, dass die bisherige schwarz-gelbe Regierungskoalition fortgesetzt wird. Schafft es die FDP nicht in den Bundestag, steht den Unionsparteien eine Koalition mit der SPD oder den Grünen noch als Option. Das wiederum wollen Rot-Grün verhindern und gemeinsam regieren. Um das zu schaffen, müssen sie aber noch stark zulegen.
Wichtig ist jedenfalls – wie auch immer die Entscheidung ausfällt, dass jeder Bürger von seinem Wahlrecht Gebrauch macht. Sonst gewinnen am Ende jene Kräfte, die auf dem Rücken und zu Lasten von Minderheiten im Allgemeinen und vor allem Muslimen im Besonderen Politik machen.