Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer sieht in arabischen Ländern Säkularisierungstendenzen. Eine komplette Säkularisierung sei aufgrund der historischen Erfahrung jedoch nicht mehrheitsfähig. Die zukünftige Frage für die Gesellschaften sei daher, ob die Gestaltung der Gesellschaft durch säkulare Mittel erfolgen sollte oder nicht.
Die Berliner Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Gudrun Krämer hielt am Montagabend im Schloss der Universität Münster beim 32. Deutschen Orientalistentags den öffentlichen Vortrag „Spannungsbögen: Islam, Säkularisierung und das säkulare Prinzip“. Krämer erklärte, dass sich in arabischen Ländern eine konsequente Trennung von Religion und Staat nach wissenschaftlicher Einschätzung zurzeit nicht durchsetzen lasse. Das säkuläre Prinzip werde weithin abgelehnt. Wer sich in den Ländern des „arabischen Frühlings“ oder im Iran für Säkularität einsetze, finde bislang keine Mehrheit.
Die Trennung von Religion und Politik werde von vielen mit Atheismus assoziiert. Und wer gottlos sei, habe weder Werte noch Anstand. So scheuten sich auch säkulare Kräfte, offen für Säkularismus zu plädieren. Dabei seien Religion und Staat im Islam „nicht zwingend eins“, so die Expertin. „Koran und Sunna lassen das säkulare Prinzip durchaus zu – jedoch nicht in der Lesart, die heute im Mittleren Osten vorherrscht.“
Faktisch lassen sich der Wissenschaftlerin zufolge längst „reale Prozesse der Säkularisierung“ in arabischen Gesellschaften feststellen – in Politik, Recht, Wirtschaft, Kultur und Bildung. Umso mehr müsse die Ablehnung des säkularen Prinzips erstaunen. Sie werde gemeinhin nicht nur religiös begründet, sondern auch politisch: „Säkularismus wird als Ideologie autoritärer Regierungen dargestellt, die ihn gewaltsam gegen die eigene Gesellschaft durchsetzen“, so die Forscherin der Freien Universität Berlin.
Beispiele seien die Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), Tunesien unter Habib Bourguiba (1903-2000) und Irak unter Saddam Hussein (1937-2006). „Zugleich werden Säkularisten als Agenten des Westens denunziert.“ In dieser Sichtweise sei die Trennung von Religion und Staat ein Mittel der „Kolonisierung und kulturellen Entfremdung“. Das wiege für viele Muslime ebenso schwer wie die Furcht vor einer sinkenden Bedeutung des Islams.
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Krämer analysierte verschiedene Beispiele für bereits bestehende Prozesse der Säkularisierung in arabischen Gesellschaften: So seien sich Muslime in Saudi-Arabien, Ägypten oder den Golfstaaten weitgehend einig, dass der Islam im öffentlichen Raum Regeln setzen solle und alle Muslime ihre Zugehörigkeit zu ihm durch eine entsprechende Lebensführung öffentlich sichtbar machen sollten. Doch wenn auch das Privatleben reguliert werden soll, regte sich auch der Unwille selbst frommer, praktizierender Muslime. Diese wollten nicht ständig von Sittenwächtern zur Ordnung gerufen werden.
Die Grenze zwischen privat und öffentlich sei zudem in Bewegung, sagte Prof. Krämer unter Verweis auf das Internet: „Soziale Netzwerke eröffnen Muslimen im Schutz der Cyber-Anonymität Räume für Inhalte, die im öffentlichen Diskurs nicht geduldet werden.“ Zugleich bleibe nach außen, gegenüber Autoritäten und Nachbarn, der Schein gewahrt. „Wie dies dauerhaft auf die Trennung von privat und öffentlich in der arabischen Welt wirkt, der vor allem Frauen unterworfen sind, ist offen.“ Parallel dazu entwickle sich ein „islamischer Markt“, der islamische Medien, Konsum- und Unterhaltungsgüter bis hin zu Wellness anbiete. Das sei eine Dimension, „die den staatlichen Bereich weit hinter sich lässt.“ Ob sich ein freier Markt mit verschiedenen Religionsangeboten wie in Amerika, Westeuropa und Teilen Ostasiens ausbilde, werde sich zeigen.
Mit Blick auf das Rechtswesen erläuterte die Expertin: „Nirgends in der arabischen Welt wird die Scharia heute exklusiv angewandt, auch nicht in Staaten wie Saudi-Arabien und Iran, die dies nach eigenem Bekunden tun.“ Die Scharia sei weitestgehend kein Gottesrecht, sondern Juristenrecht, denn Juristen hätten sie aus Koran und Sunna heraus entwickelt und dabei stets gesellschaftliche Realitäten berücksichtigt. So habe die Scharia weder in der Vormoderne, noch in der Moderne je uneingeschränkt gegolten. Heute werde etwa das Strafrecht, das in manchen Ländern drakonische Körperstrafen für Diebstahl oder illegalen Geschlechtsverkehr vorsehe, nicht konsequent eingehalten.
„Angesichts nicht zu übersehenden Prozessen der Säkularisierung lautet die Frage nicht, ob Muslime in einer säkularen Ordnung leben können“, so Prof. Krämer. „Sie ist hinlänglich beantwortet, indem Millionen von Muslimen dies tun, die ihre Gesellschaften nicht im Sinne der Scharia umgestalten wollen – und zwar nicht nur in Europa, Amerika, Australien und in der Russischen Föderation, sondern auch in Ländern wie Indien, in denen Muslime eine große Minderheit stellen.“ Die Frage laute nun vielmehr, ob Muslime in der arabischen Welt das säkulare Prinzip als legitimes und erstrebenswertes Instrument zur Organisation ihrer Gesellschaften sähen.
(vvm/exc/islamiQ)