Interview mit Belkıs Ibrahimhakkıoğlu

Über den Umgang mit unserer Umwelt

Die Moderne beeinflusst auch unser Verständnis von Umwelt. Während das traditionelle islamische Umweltverständnis von der Verantwortung des Menschen und der Harmonie in der Natur ausgeht und dies als Ziel hat, orientieren sich heutzutage auch Muslime am kapitalistischen Profitgedanken. Diese Ansicht vertritt Belkıs Ibrahimhakkıoğlu – und zeigt Änderungswege auf.

01
10
2013
0

Belkıs Ibrahimhakkıoğlu wurde im Jahre 1950 in Erzurum geboren. Nachdem sie die Grund- und weiterführende Schule in Erzurum abgeschlossen hatte, studierte sie Wirtschaftswissenschaften an der Universität Istanbul. Sie wurde Chefredakteurin der Zeitschrift Türkische Literatur („Türk Edebiyatı“) und ist Autorin zahlreicher Bücher.

Anders als unsere Großeltern schrecken wir vor allem seit dem letzten Jahrhundert nicht davor zurück, zugunsten des Fortschritts unserer Umgebung Schaden zuzufügen. Nicht nur aus dem Blickwinkel der Türkei, sondern generell aus dem Blickwinkel aller Muslime möchte ich Sie fragen: Haben die Muslime ihre Verantwortung gegenüber der Natur verloren?

Die Industrialisierung ist natürlich ein Faktor, der die Zerstörung vorantreibt. Doch der Hauptgrund liegt sicherlich woanders. Die Zerstörung, die die Menschheit der Umwelt zufügt, fing schon mit der ersten Begegnung des Menschen mit der Natur an. Denn dadurch, dass der Mensch nicht in der Lage ist, ein Gleichgewicht zwischen seiner Neugier, seinem Ehrgeiz und seiner Veranlagung herzustellen, wird sein Blick auf seine Umwelt beeinflusst. Das Thema Umwelt ist eng verbunden mit unserer Beziehung zum Schöpfer. Genauer gesagt, mit dem Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem, was uns vom Schöpfer anvertraut worden ist. Derjenige, der weiß, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht, betrachtet das gesamte Universum mit einer gewissen Weisheit. Diese Betrachtungsweise haben wir verloren. Aus diesem Grund ist unsere Selbstkontrolle geschwächt, unsere Sinnesorgane sind dem Erkennen der göttlichen Harmonie nicht mehr mächtig. Allah, der dieses prachtvolle Gleichgewicht in der Schöpfung erschaffen hat, weist jedoch auf unsere Fehler hin, die diese Harmonie zerstören. Wir aber wenden uns Handlungen zu, von denen uns unser Herr abgeraten hat und sind damit selbst an den Problemen schuld, die wir haben.

Unserer traditionellen Haltung lag das Verständnis zugrunde, dass der Glaube in alle Lebensbereiche eingreift. Also bildete sich die Kultur auf Basis der Verinnerlichung des Glaubens aus. Von der praktischen Umsetzung dieser Verinnerlichung haben wir uns nun abgewendet. Dennoch ist es möglich, sich von diesem Fehler zu befreien. Wichtig ist hierbei, die Abwendung als Fehler zu sehen und die Gründe, aus denen sie erfolgte, zu diskutieren.

Was der Westen in der Vergangenheit an Problemen hinsichtlich der Umwelt erlebt hat, erleben nun mit einer Verspätung von einem Jahrhundert die Muslime. Sind denn einige praktische Maßnahmen ausreichend, um denselben Umweltkatastrophen wie der Westen sie erlebt hat, zu entgehen und so eine bessere Zukunft aufzubauen?

Der Westen beschreibt und verhält sich als die bestimmende Weltmacht, sodass er praktisch behauptet, die Umwelt sei sein Eigentum. Dieses Verständnis hat den Westen dazu veranlasst, in die Umwelt einzugreifen. Da die ästhetische Wahrnehmung sich mit dem Äußeren der Dinge begnügt, hat man sogar bei Früchten und Gemüsesorten jeweils gleiche Größen und Farben als Standard festgelegt. Dies hat auch den Weg zur Genmanipulation bereitet. Der Kapitalismus hat es darauf abgesehen, alles sofort auf den Markt zu bringen, um von allem sofort zu profitieren, ohne dabei abzuwägen, ob dies der Menschheit auf Dauer einen Schaden zufügt oder nicht. Aber nun klopfen die Folgen dieser Fehler sozusagen an der eigenen Tür. Zudem ist es absurd, dass gerade die Unternehmen, die die Umweltverschmutzung vorantreiben, Organisationen unterstützen, die sich für den Umweltschutz einsetzen.

Diesem Zustand kann nur die Einheit der muslimischen Länder Einhalt gebieten. Meiner Meinung nach sollten die Muslime sich daher ohne Bedenken an allen mit guter Absicht realisierten Umweltprojekten beteiligen, egal wo auf der Welt. Denn sie müssen ihre Existenz bemerkbar machen. Sie könnten mit ihrer konsequenten Haltung ein gutes Vorbild für die gesamte Menschheit darstellen. Aber vorher ist es wichtig, dass wir dieses Bewusstsein selber verinnerlichen.

Unser Problem liegt aber in der geistigen Verfassung, in der wir uns tatsächlich befinden. Wir haben unseren Glauben sehr eingeengt. Unsere Sicht beschränkt sich nur auf das Oberflächliche und erreicht die tieferen Bedeutungen er Dinge nicht mehr. Wenn wir jedoch das Ziel verfolgen würden, verantwortungsbewusste Generationen zu erziehen, könnten die traditionellen ethischen Werte wieder hervorgebracht werden. Zumal das Umweltbewusstsein auch zu diesen Werten gehört.

Der Modernismus (bzw. der imperialistische Kapitalismus) duldet nichts, was außerhalb seiner Vorstellungen liegt. Solange man nicht so und soviel wie er produziert, solange man sich nicht mit seinen Waffen ausstattet, ist es kaum möglich, dass ein Land eigenständig existieren kann. Dies wird von manchem sogar als ein wichtiger Grund für den Untergang des Osmanischen Reichs angesehen. Weil die Osmanen ihr Verantwortungsbewusstsein für die Umwelt nicht aufgeben wollten, zogen sie die bittere Konsequenz daraus. Heute aber scheinen wir uns von unseren Reflexionen befreit zu haben. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, ob die Muslime, die teilweise gezwungenermaßen zur modernen Lebensweise übergingen, einen Weg finden können, modern zu leben und dabei gleichzeitig die Umwelt zu schonen?

Wir dürfen uns das Produktions- und Konsumverhalten der Moderne nicht als Beispiel nehmen. Denn diesem liegt eine Ungerechtigkeit zugrunde, die zuweilen Menschenleben nicht ernst nimmt. Dies widerspricht in erster Linie dem Humanitätsverständnis und erst recht unserem Glauben. Der Modernismus ist ein Produkt des Positivismus, also eines Systems, welches den rationalen Verstand in den Mittelpunkt stellt. Deswegen reicht seine Sicht nicht besonders weit und ist auf das diesseitige, vergängliche Leben beschränkt. In der Sure Ibrahim wird Satan zitiert: „Ich bin nichts besseres als ihr, Allah hat euch einiges versprochen, ich habe euch einiges versprochen.“ Und genau dies ist das System der satanischen Versprechen. Was den Modernismus gedeihen lässt, sind vor allem unsere Schwächen. Wir kehren immer zum Anfangspunkt zurück, und zwar zu der Frage, wie bewusst und aufrichtig wir glauben.

Werden es die Muslime ihrer Meinung nach schaffen, ihre traditionelle Sichtweise wiederzubeleben und eine gewissenhafte Haltung einnehmen, bevor die islamischen Länder ernste Umweltkatastrophen erleben? Werden wir es rechtzeitig schaffen, unseren Verstand zu benutzen, ohne uns einem von Gier bestimmten Fortschrittsstreben zu ergeben und mit verschiedenen Umweltproblemen konfrontiert zu werden? 

Die Muslime müssen erst einmal zu sich kommen. Wir müssen uns selber ernsthaft kritisieren. Wir müssen fragen, an was wir glauben, wie wir glauben. Wir müssen unsere Schwächen und Erwartungen aus unserem individuellen wie auch gesellschaftlichen Blickwinkel konstruktiv kritisieren. Ich glaube fest daran, dass Muslime für alle bestehenden Probleme der Menschheit eine Lösung finden können. Aber die Frage ist, welche Muslime? Vielleicht müssen wir unsere Religion, über eine Paradies-Hölle-Abwägung hinaus, in einer verständlichen Art und Weise erlernen. Es würde beispielsweise sogar ausreichen, ausgewählte Verse und Aussprüche über die Umwelt zu lesen und über sie nachzudenken, um den Wert des Lebens besser verstehen zu lernen. Das Wort Umwelt benutze ich hier im physikalischen wie moralischen Sinne. Wir brauchen eine Erziehung, die den Interessen der Gesellschaft Vorrang vor denen des Einzelnen gibt.

Menschen, die sich an Komfort und Vergnügen gewöhnt haben, sind relativ schwer davon abzubringen. Des Weiteren gibt es in einigen Kreisen den Vorschlag einer sogenannten Genügsamkeits-Ökonomie. Sind sie der Meinung, dass so etwas verwirklicht werden kann?

Allah hat den Menschen so erschaffen, dass er allen Bedingungen standhalten kann. Wenn der Mensch zu der Überzeugung gelangt, dass die ihm angebotenen Alternativen besser sind, kann er durchaus von seinen schlechten Angewohnheiten ablassen. Wahrscheinlich ist hierfür aber eine Staatspolitik vonnöten. Der Staat kann alle Kommunikationsmittel dazu nutzen, die Bevölkerung in dieser Hinsicht zu sensibilisieren. Zudem kann er zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen. Der Staat sollte dabei aber nicht nur politisch agieren, sondern einen Diskurs auf der Basis von Geist und Verstand verfolgen.

Viele Umweltschutzorganisationen meinen, dass man industrielle Zukunftspläne nun aufgeben und sich der Landwirtschaft zuwenden sollte. Kann dieser Vorschlag auch von Entwicklungsländern als Alternative in Betracht gezogen werden? Ist es denn realistisch, dass Entwicklungsländer ihre industriellen Pläne in den Hintergrund stellen und sich der Landwirtschaft zuwenden, wenn doch gerade sie die Industrialisierung zum Überleben brauchen?

Um am Leben zu bleiben, braucht man vorerst Luft, Wasser und Lebensmittel. Jene Industrialisierung, die dies zunichtemacht, kann die Menschheit nicht aufrechterhalten. Da man der Industrialisierung aber auch nicht ausweichen kann, sollte man sich den Maßnahmen zuwenden, die ein gewisses Gleichgewicht schaffen können. Zum Beispiel werden im System des Kapitalismus eigentlich über Jahre hinweg brauchbare technologische Waren so hergestellt, dass sie schon in kürzester Zeit nicht mehr funktionieren. Der Hintergedanke ist hierbei, ähnliche Waren immer wieder neu zu produzieren und zu vermarkten, um den fortdauernden Profit sicherzustellen. Was die Welt zuerst machen sollte, ist, sich von den Fesseln des Kapitalismus zu befreien und sich den Alternativen, die der Menschheit von Nutzen sind, zuzuwenden.

Zum Thema der Rückkehr zur Landwirtschaft kann man sagen, dass alles Schöne auf dieser Welt den Duft der Erde trägt. Der Mensch fühlt sich unvollkommen, wenn er nicht die Erde unter seinen Füßen fühlt. Und ohne fruchtbare Erde ist die Industrialisierung sowieso nicht möglich. Was absolut inhuman ist, ist die Tatsache, dass die Industrieländer die armen Länder ausbeuten, wobei sie selber so etwas nie akzeptieren würden. Sie fühlen sich keineswegs dafür verantwortlich, die Natur der armen Länder aus Eigennutz zerstört zu haben. Bevor die Industrieländer nicht ihre Hände von diesen Ländern lassen, ist es schwierig, dass diese ihren Boden nutzen können. Dementsprechend hat eine Landwirtschaft, dessen Grundlage im Kapitalismus liegt, auch keinen Nutzen, weil so dem Boden aus kurzfristigen Interessen seine natürlichen Eigenschaften entzogen werden. Deswegen müssen Organisationen weltweit miteinander kommunizieren, um Projekte zu erarbeiten, die dazu dienen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Wenn man von Umwelt und Umweltschutz spricht, kommen einem in erster Linie die Begriffe Baumbepflanzung oder mehr Grün in den Sinn. Es scheint jedoch so zu sein, dass angefangen bei den Städten voller Betonbauten, unserem Umgang mit Tieren, unserer Bekleidung, unseren Häusern, bis hin zu den alltäglichen Gebrauchsgegenständen, alles miteinander in Verbindung steht. Was wären ihre Vorschläge, wie wir diese Lebensart, die wir mittlerweile ohne zu hinterfragen als normal akzeptiert haben, an unsere natürliche Schöpfung anpassen können?

Ich glaube mit ganzem Herzen daran, dass der globale Plan in den Händen Allahs liegt. Wir als Individuen stehen in der Verantwortung, das zu tun, was uns in unserer Macht steht. Alles andere ist unserem Schöpfer überlassen. Er kennt ja sehr wohl die Geschöpfe, die er erschaffen hat. Unser Problem liegt darin, dass wir uns den schlechten Gegebenheiten sofort ergeben. Wir rufen uns nur selten gegenseitig zur Wahrheit und Geduld auf. Ganz im Gegenteil rücken wir unsere menschlichen Schwächen in den Vordergrund. Die Umwelt formt sich mit der Vorstellung, die eine Person von sich selber hat. Für was also fühle ich mich als Mensch, den Allah zu seinem Stellvertreter auf Erden gemacht hat, zuständig? Dies müssen wir ständig hinterfragen. In einem Bittgebet unseres Propheten ist der Kernpunkt dessen ausgedrückt, was unsere Sichtweise gegenüber der Umwelt formen sollte: die Wahrheit in den Dingen zu erkennen. Die Reise auf der Suche nach dieser Wahrheit in den Gegenständen wird uns gewiss zu unserem Propheten führen und uns dazu anhalten, in unserem Fühlen und Handeln das Wohlgefallen Allahs anzustreben. Diese Reise ist es, auf die wir uns begeben müssen.

Das Interview führte: Muazzez Tümay
Übersetzung: Hacer Çakmak
Erstveröffentlichung: Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Perspektif“