Der Tawâf, das Umrunden der Kaaba, gehört zu den elementaren Gottesdiensten und Handlungen bei dem Hadsch. Wer sie durchführt, kann zur Erkenntnis über sein eigenes Dasein und sein persönliches Verhältnis zu Allah gelangen.
Am Tag vor dem Aufbruch in das gesegnete Land ist die Aufregung bei den Hadsch-Anwärtern am größten. Der Hadsch ist die Kurzfassung der Lebensreise eines Menschen, seinem Sterben und seinem Jenseits. Bevor sich der Reisende auf den Weg macht, überprüft er seine Absicht (Niyya), überlässt seine Geliebten dem Schutze Allahs, zieht sein Ihrâm-Gewand an und tritt seinem Schöpfer gegenüber.
Durch kleine und große Prüfungen wird dem Pilger bewusst, dass ihm nichts mehr nützt, außer seinem Glauben. Hier gibt es keinen Platz für Farben, Ethnien, sozialen Status oder politische Konstrukte. Dies ist der Ort der Dienerschaft. Hier gibt es keine Unterschiede, außer in der Stärke des Glaubens. Der Pilger versteht hier erneut, dass jeder Mensch auf die gleiche Art und Weise auf die Barmherzigkeit Allahs angewiesen ist.
Fern von Zier und Abseits von Armut und Reichtum die Kaaba zu umrunden (Tawâf) ist das Eingeständnis, dass Allah der Schöpfer von allen Dingen ist. Während des Tawâfs beschäftigen sich die Menschen damit, dass Wohlgefallen Allahs zu erreichen. Und der Gläubige hat mit seinem Tawâf auch ein Versprechen gegeben: „Mein Schöpfer! Meine Absicht und meine Taten sind nur dann bedeutungsvoll, wenn sie dich zum Ziel haben. Wenn ich es bis jetzt nicht tun konnte, so werden ab jetzt meine Absicht und meine Taten als einziges Ziel dein Wohlgefallen haben.“
Um diese Gefühle und Gedanken auch nach dem Hadsch in das tägliche Leben einfließen zu lassen, muss der Tawâf gut verstanden werden. Die Worte des Pilgers „Labbayk, Allâhumma labbayk”, die er unentwegt spricht, bedeuten soviel wie „Ja, o Allah!“ oder „Bitte, befehle mir!” und „Ich bin gekommen, um dir zu dienen!” haben. Dies ist der Grund, warum man während dem Tawâf keine weltlichen Dinge bespricht, niemanden verletzt oder schubst; der Mensch wendet sich in Stille, im Gedenken Allahs und in einem Zustand der Erkenntnis mit seiner gesamten Hilflosigkeit an Allah.
Um auf den Geschmack des Tawâfs zu kommen, muss man wie auch bei anderen Gottesdiensten, diesen bewusst durchführen. Sonst hilft es auch nicht allein, im gesegneten Land zu sein. Beispielsweise war das Haus von Abû Dschahl in der Nähe der Kaaba. Er hat dort gelebt, er ist dort gestorben. Aber es hat ihm nicht genützt, der Kaaba nahe zu sein.
Aus diesem Grund muss für den Hadsch, der auch eine Probe für das Ende der Welt ist, sowohl der Geist als auch das Herz vorbereitet werden. Anderenfalls verliert jeder Gottesdienst die Möglichkeit der Erziehung (Tarbiyya), der sich von seinem Ursprung entfernt hat. Die Hadsch-Anwärter müssen ab dem Moment, in dem sie ihren Ihrâm angezogen haben, auch alle weltlichen Gefühle und Gedanken abgelegt haben.
Ein Pilger, der sein Ihrâm-Gewand angezogen hat, muss vor dem Aufbruch seiner Reise, allen Streit und Neid beenden und hinter sich lassen. So wie jemand, der ins Jenseits geht, darf kein Diener ein Anrecht auf Wiedergutmachung bei ihm haben, noch er selbst ein Anrecht bei einem Diener auf Wiedergutmachung haben. Wer aufbricht, um Vergebung zu erhalten, muss auch vergebend sein. Der Pilger muss sich bewusst sein, dass auf dieser Reise sowohl sein wahres Gesicht, als auch der seiner Mitreisenden offengelegt werden.
Er darf mit niemandem seine Gottesdienste und ihre Anzahl teilen, denn beim Gottesdienst gibt es keine Rechnung. Er muss sich bewusst sein, dass er eine große Pein für die Zeit erleiden wird, die er vergeudet. Er darf auch nicht vergessen, dass ein jeder der Geschwister vor Ort ein Gast Allahs ist. Er muss sie wenigstens mit einem Lächeln bedienen. Schließlich sind der Glaube, die Ehre und die Handlungen aller Pilger Allah anvertraut worden. Und Allah rührt das ihm Anvertraute nicht an.
Sebahat Özcan