Der evangelische Theologe Prof. Dr. Reinhard Achenbach erläutert im Gespräch, was Menschen heute noch an heiligen Stätten fasziniert, welche politischen Interessen sich mit ihnen verbinden und warum sich der Erhalt von Gräbern, Tempeln und Kirchen lohnt.
„Heilige Orte“ stehen im Mittelpunkt der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ im Wintersemester. Der evangelische Theologe Prof. Dr. Reinhard Achenbach hat die Reihe des Exzellenzclusters gemeinsam mit Forschern des Centrums für Geschichte und Kultur des östlichen Mittelmeerraums (GKM) organisiert. Im Gespräch erläutert er, was Menschen heute noch an heiligen Stätten fasziniert, welche politischen Interessen sich mit ihnen verbinden und warum sich der Erhalt von Gräbern, Tempeln und Kirchen lohnt.
Herr Professor Achenbach, viele antike Orte, um deren Geschichte es in der Ringvorlesung geht, sind religiösen Menschen auch heute noch heilig. Die Stätten ziehen Millionen von Gläubigen an. Was fasziniert daran?
Heilige Orte wie Medina, Rom und Jerusalem haben bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Juden reisen nach Jerusalem, um an der Klagemauer zu beten. Katholiken besuchen Rom, um dem Zentrum und der Tradition der katholischen Kirche nahe zu sein. Muslime pilgern nach Medina, weil sie Mohammed und seiner Offenbarung nah sein wollen. Sie suchen dort nicht nur Deutungen der Vergangenheit, sondern auch Lebensdeutung für die Gegenwart. Woher sie kommen, wer sie sind, wozu sie leben, wohin sie gehen. Welchen Sinn diese Welt hat. Wie sie die Lebensenergien einer unsichtbaren, transzendenten und heiligen Sphäre erfahren. So haben heilige Orte im Laufe der Zeit eine hohe Bedeutung für das Selbstverständnis der Menschen in der Welt gewonnen. Schon die ältesten Heiligtümer der Menschheit dienten der kosmischen Weltorientierung, zum Beispiel das steinzeitliche Bergheiligtum Göbekli Tepe in der Türkei. Sie dienten auch der Legitimation von Herrschern, etwa die heilige Stadt der Sumerer, Nippur, oder sie waren Ausdruck von Jenseitshoffnungen wie die Totentempel im ägyptischen Abydos.
In der Ringvorlesung fragen wir nach den historischen Ursprüngen, Wandlungen und Funktionen der jahrhundertealten heiligen Orte von der Antike bis in die Gegenwart. Wir untersuchen also auch ihre heutigen Wirkungen: Welche Bedeutung hat Medina, der Ort der Befriedungskultur des Islams, heute für die Kultur der Muslime? Wie kann Rom angesichts der wachsenden Säkularisierung europäischer Gesellschaften immer noch eine solche Ausstrahlung haben? Birgt die Tatsache, dass in Jerusalem die drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Islam und Christentum, ihren Erinnerungsort haben, nicht eine Lösung für den Nahost-Konflikt? Wir hoffen, dass die Wissenschaftler Antworten auf solche Fragen geben werden.
Die Tempel der Pharaonen, das Orakel von Delphi oder der Vatikan sind Touristenmagnete. Warum ziehen die Orte auch nicht-religiöse Menschen an?
Weil Reisen bildet! Touristen pilgern nicht nach Delphi, sie reisen dorthin und bestaunen die antiken Überreste. Das Gleiche gilt für Rom, Jerusalem oder Istanbul. Menschen besuchen die Orte ohne tiefes religiöses Bedürfnis, einfach, um sie als Kulturstätten zu entdecken. Dabei werden sie aber zuweilen von den religiösen Dimensionen berührt, die den Orten anhaften. Viele Menschen, auch nicht-religiöse, sind von der langen religiösen Tradition heiliger Stätten fasziniert, ebenso vom tiefen Glauben der Pilger, die sie dort antreffen. Gläubige wie Nicht-Gläubige stellen sich an heiligen Orten häufig existenzielle Fragen – ob und wie nun Religionen wirken, ob und wie transzendente Kräfte wirken, welche Bedeutung Rituale haben oder ob eine Gesellschaft mit oder ohne religiöse Mythen die bessere sei. Ob Pilgerfahrt oder Bildungsreise, beides hat seinen Sinn: Die eine dient der Religionspraxis, die andere dem Verständnis der Zusammenhänge von Kultur und Religion.
Wie wird ein Ort heilig?
Heilige Orte entstehen an markanten Stellen in der Natur, wo Menschen eine existenzielle Stärkung ihrer Lebensenergie erfahren und diese als Einwirkung von transzendenten Kräften empfinden. Das kann eine Quelle sein, von deren Wasser eine heilsame Wirkung ausgeht, eine Wüste, in der der Mensch seine Vergänglichkeit angesichts der Weite des Raumes besonders spürt, oder ein Berg, auf dem die Kräfte der Natur besonders eindrücklich und machtvoll erkennbar werden. Oft bilden sich an solchen Orten religiöse Gemeinschaften, die mit ihnen mythische Erzählungen und magische Rituale verbinden, und wo Menschen Geborgenheit und Erweiterung ihres Bewusstseins erleben.
Vom Ursprung heiliger Orte zu ihren Wandlungen: Reiche und Religionen haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Wie wandlungsfähig sind die Orte?
Dass ältere heilige Orte durch neue Religionen überformt wurden, ist oft geschehen. Denken Sie etwa an die Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee. Phönizier und Griechen haben im Zuge ihrer Kolonisationsbewegung ihre alten Lokalkulte in andere Regionen mitgenommen. Auf Reisen führten Menschen zu allen Zeiten Amulette oder kleine Götterbilder mit sich und hatten so gleichsam einen transportablen „heiligen Ort“. Im kleinasiatischen Doliche deuteten römische Soldaten die Gestalt eines altsyrischen Wettergottes als eine besondere Manifestation des Gottes Jupiter. Im alten Jerusalem verschmolzen die ursprünglich verschiedenen Kulte der Kanaanäer und der alten Israeliten miteinander, im Laufe der Jahrtausende ist die Stadt zur heiligen Stätte für drei Weltreligionen geworden. In Rom überformte das Christentum die antike Kultur. Andere Orte wiederum verloren ihre Heiligkeit im Laufe der Zeit: So büßte das Orakel von Delphi seine Rolle als eine der wichtigsten Weissagungsstätten der antiken Welt durch die Christianisierung ein. Die Vorlesung untersucht Entstehung, Wandlung und auch das Ende Heiligtümern im Laufe der Menschheitsgeschichte.
Wer hält die Vorträge der Ringvorlesung?
Zu Wort kommen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Altertumswissenschaften: der Altorientalischen Philologie und Vorderasiatischen Altertumskunde, der Ur- und Frühgeschichte, der Ägyptologie und Alten Geschichte, der Klassischen Archäologie und Philologie, der Bibelwissenschaften und Byzantinistik sowie der Religions- und Islamwissenschaften. Neben Experten der Uni Münster sind namhafte Gastwissenschaftler eingeladen, deren Forschung eng mit prominenten heiligen Orten verbunden ist: Max Küchler aus Freiburg in der Schweiz hat Standardmonografien zu Jerusalem geschrieben, Werner Ende steht für die aktuelle, moderne Islamdeutung, Ulrich Sinn ist als Archäologe mit Delphi bestens vertraut und Klaus Schmidt hat das Heiligtum auf dem Göbekli Tepe ausgegraben. Eine Besonderheit der Ringvorlesung ist, dass Studierende und Forscher der WWU sich zusätzlich mit den Referenten in einem interdisziplinären Seminar austauschen können.
Geht es in den öffentlichen Vorträgen ausschließlich um die Antike?
Die meisten heiligen Orte haben ihren Ursprung in der Antike. Im ersten Block der Ringvorlesung untersuchen wir diese „Ursprünge und Wandlungen“ – von der Antike bis heute. Der zweite Block ist mit „Politische Interessen“ überschrieben. Im dritten Teil geht es um „Erinnerungskulturen“. In diesem Zusammenhang wird sich der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg mit der Gegenwartsbedeutung heiliger Orte befassen.
Was ist mit „Politische Interessen“ gemeint?
Mit heiligen Orten verbanden sich häufig politische und auch wirtschaftliche Interessen. Dieses Spannungsfeld zwischen Religion und Politik wollen wir in den Vorlesungen aufdecken. Häufig nutzte die Politik heilige Stätten zur Legitimation ihrer Herrschaftssysteme. Stämme versammelten sich zum Kriege um das Heiligtum, Könige ließen ihre Herrschaft durch Orakel und religiöse Inthronisationsrituale bestätigen, Parlamente eröffnen ihre Sitzungsperioden mit Gottesdienstbesuchen. Oft kam es im Laufe der Geschichte dazu, dass Eroberer die Heiligtümer und damit ein zentrales Symbol der Identität der unterworfenen Völker zerstörten und die Ruinen als Mahnmal stehen ließen oder eben mit einer neuen Deutung versahen. Nachdem das Christentum die altrömischen und altorientalischen Religionen abgelöst hatte, versuchten Christen, die alten Kulturen auszulöschen. Dies als Verlust zu begreifen, gelingt erst durch eine rationale Betrachtung der Kulturgeschichte. Genau darum graben Archäologen heute aus, was unsere Vorfahren zerstört haben. Auch in der Gegenwart werden religiöse Stätten im Machtkampf zwischen konkurrierenden Ethnien, politischen und religiösen Gruppierungen zerstört.
Heilige Orte werden heute oft mit viel Geld bewahrt. Warum ist der Erhalt sinnvoll?
Der Erhalt heiliger Orte ist erstens zum Schutz der Religionsfreiheit sinnvoll, wenn Gläubige die Stätten noch als heilig empfinden und besuchen. Insofern impliziert der Schutz heiliger Stätten, wie zum Beispiel der der Synagogen in unserem Lande, die Bewahrung eines fundamentalen Menschenrechts. Zweitens ist er aus kulturellen Gründen sinnvoll, denn heilige Stätten sind, wie gesagt, Symbole der Identität und der kulturellen Gemeinschaft; ihre Erhaltung dient der Wahrung kultureller Vielfalt und geistigen Reichtums.
Die Ringvorlesung behandelt Orte, an denen es keine lebendige Religionskultur mehr gibt, den türkischen Steinzeitort Göbekli Tepe, den ägyptischen Totentempel der Pharaonen und die Stadt Nippur, die Teil der 3.000 Jahre währenden sumerischen Kultur und Religion war, die das Leben Mesopotamiens über viele Jahrhunderte hinweg bestimmt hat. Obwohl heute niemand mehr an Götter wie Ea, Enlil und Ninlill glaubt, lehrt uns dieser Ort etwas über die Stabilität einer Religionskultur, ihre Anfälligkeit und Vergänglichkeit: Religionen können zu einem Ende gelangen, wenn sich die politischen und kulturellen Bedingungen ändern. Der Erhalt der antiken Stätten ist unerlässlich für das kulturelle Gedächtnis der Menschheit.
In heutigen westlichen Gesellschaften nimmt die Säkularisierung zu. Christliche Kirchen – heilige Orte – werden profaniert. Trotz dieser Umwidmung erhält man vielerorts die Erinnerung daran wach, dass es sich bei den Gebäuden einst um religiöse Orte handelte. Das ist der Politik auch oft viel Geld für Restaurierungen und den Erhalt der Bausubstanz wert. Die Stadt Lüttich hat im 19. Jahrhundert im Zuge der napoleonischen Aufklärung ihre Kathedrale abgerissen. Heute erhält sie die Ruine der Kirche mitten im Zentrum. Das religiöse Bewusstsein ist indirekt auch hier wirksam geblieben. Vielleicht hat es die lebenswichtige Funktion, unsere Gesellschaft daran zu erinnern, dass sie auf einer Tradition von Werten und Normen aufbaut, die sie sich ohne die Wahrung der religiösen Dimension nicht gewährleisten kann. Zugleich lehrt die Auseinandersetzung mit der wechselhaften Geschichte heiliger Orte, dass auch die Strahlkraft religiöser Überzeugungen an ein Ende kommen kann und dass die religiösen Absolutheitsansprüche immer wieder zerbrochen sind. Die Ringvorlesung soll somit verschiedene Perspektiven eröffnen auf die Religionsgeschichte der Menschheit.
(exc / Das Interview führte Sarah Batelka vom Zentrum für Wissenschaftskommunikation)