Die Rezension von Engin Karahan zum Buch „Scharia – Der missverstandene Gott“ wird derzeit im Netz stark diskutiert. Karahan wirft darin dem Autor Mouhanad Khorchide vor unbarmherzig gegenüber Andersdenkenden zu sein. Dina El Omari antwortet in einer Replik auf die Vorwürfe von Karahan.
In seiner Rezension „Scharia – der missverstandene Gott“ fährt der Verfasser, Engin Karahan, gleich zu Beginn harte Geschütze auf, umso mehr lohnt es sich einmal genauer hinzuschauen und zu eruieren, ob er seinen eigenen Anforderungen, die er an seine Rezension stellt, gerecht wird, denn schließlich lässt er verlauten, Khorchides Buch würde „Eine Vielzahl von inhaltlichen Widersprüchen, nicht zu Ende gedachten Gedankengängen und methodisch mit Vorsicht zu genießende Auslegungen und Interpretationen“ beinhalten. Vorab sei schon einmal so viel gesagt: Die Argumentation von Herrn Karahan kann dabei leider nicht überzeugen, denn dem Rezensenten fehlt zum einen eine theologische Expertise, was, wie weiter unten ersichtlich, anhand zahlreicher Stellen seiner Rezension deutlich wird, zum anderen hat er ganz offensichtlich keine neutrale Perspektive bei seiner Lektüre eingenommen, sondern geht mit einer vorurteilsbeladenen Einstellung an den Text, wie immer wieder ersichtlich ist. So tut er genau das, was er Khorchide vorwirft: Er selektiert, indem er nämlich eine selektierende Leseperspektive einnimmt, die zwangsläufig dazu führt, dass er in seiner Argumentation ebenso selektiv einige Textstellen aus dem „Scharia“-Buch für seine Intentionen nutzt.
Diese selektierende Leseperspektive, die von einer negativen Grundhaltung dem Buch gegenüber zeugt, wird bereits in dem einleitenden Teil der Rezension deutlich. So spricht er von einem Werk „das mehrheitlich von der muslimischen Gemeinschaft abgelehnt wird“. Der Bezug zu Khorchides Buch, so implizit er auch sein mag, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, denn schließlich leitet der Autor ja seine Rezension zu dem Buch Khorchides mit diesen Worten ein. Ebenso wenig lässt sich der verallgemeinernde Charakter dieser Aussage negieren, der von einer gewissen Überschätzung der eigenen Kompetenz des Rezensenten zeugt, denn er maßt sich in der Tat an, über vier Millionen Muslime in Deutschland zu urteilen. Es ist sicherlich nicht die Aufgabe eines Rezensenten zu beurteilen ob ein Werk, egal welches, eine breite Zustimmung findet oder nicht. Das liegt auch gar nicht in seiner Kompetenz, denn dies ist eine Wissenschaft für sich und würde intensive empirische Studien erfordern. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass der Rezensent diese im Vorfeld unternommen hat, daher wäre es durchaus empfehlenswert, er würde sich mit solch vereinnahmenden Aussagen zurückhalten, denn die verraten wie gesagt mehr über seine Gesinnung, als der Rezensent sicher kundtun wollte. Interessant ist hierbei, dass er dem Autor des Scharia-Buches eben dies vorwirft: „Die Aussagen sind generalisierend, bleiben jedoch nur auf die persönlichen Erfahrungen des Autors selbst beschränkt. Empirische Daten zur Überprüfung der Behauptungen fehlen.“.
Seine Gesinnung entlarvt der Rezensent dann auch im Folgenden, wenn er ähnlich selektiv bei der Wiedergabe der Zielsetzung des Werkes vorgeht, denn diese reduziert er auf einen Satz, den er wohl gemerkt den letzten Seiten des Buches entnommen hat, dort schreibt Khorchide: „Ich wollte mit diesem Buch keine Fatwas (Rechtsgutachten) formulieren, auch keine konkreten Antworten auf vereinzelte Fragen geben, sondern eine Perspektive zeigen, wie man Scharia jenseits einer dogmatischen oder juristischen Auffassung verstehen kann, um der islamischen Botschaft möglichst gerecht zu werden.“Warum der Rezensent die Zielsetzung auf diesen Satz beschränkt, der dadurch, dass er aus seinem Kontext gerissen wurde, nur einen Teil von Khorchides Zielsetzung wiedergibt, und nicht die genauere Definition aus der Einleitung wählt, ist fragwürdig, denn dort (S.18) heißt es: „Im vorliegenden Buch möchte ich ein neues Verständnis von Scharia darlegen: Scharia nicht als Schema, das die Gott-Mensch-Beziehung über juristische Kategorien definiert, sondern als Beschreibung eines Weges zu Gott, als ein Weg des Herzens, der nah an der koranischen Vorstellung ist. Das Praktizieren des Islams beginnt mit dem Praktizieren des Herzens.“ Es geht Khorchide also nicht bloß darum, den Scharia-Begriff jenseits einer dogmatischen und juristischen Perspektive zu entwerfen, sondern vor allem darum, das bei einem Praktizieren des Islams stärker das Herz einbezogen wird, d. h. bei der Ausübung der Rituale muss auch immer das Herz dabei sein, sodass der Mensch sich durch einen ständigen Prozess der Läuterung vervollkommnen kann. Für das Lesen der weiteren Rezension ist das gezielte Ausblenden dieser sehr wichtigen Intention, die sich durch das gesamte Buch wie ein roter Faden zieht, von elementarer Bedeutung, denn der Rezensent blendet diese konsequent innerhalb seiner gesamten Rezension aus und kann auf diese Weise nur zu falschen Auswertungen kommen. Gleichzeitig offenbart er uns erneut mit dieser selektiven Haltung, dass er mit gewissen Vorurteilen an den Text tritt.
Nachdem nun der Rezensent seine doch sehr harsche Kritik an Khorchides Buch in den Raum gestellt hat, nimmt er sich vor, diese auch zu belegen. Dies versucht er zunächst einmal unter der Überschrift „Unkritische Wiedergabe der Wissenschaftstradition“. Die Betonung liegt auf „versucht“, denn leider gelingt es dem Rezensenten nicht einmal, seiner Überschrift gerecht zu werden. Erhofft sich der Leser aufgrund des Titels genauere Informationen über die „Unkritische Wiedergabe“, so wird er lediglich mit einer schwammigen Aussage abgespeist: „bei aller Kritik an der islamischen Wissenschaftstradition auf den ersten 100 Seiten“ bestünde „die zweite Hälfte des Buches fast nur noch aus der fast unkritischen Wiedergabe gerade dieser Tradition“. Die Oberflächlichkeit dieser Aussage sei dem Rezensenten vielleicht noch nachzusehen, nicht aber ihre Falschheit. Schaut man sich Khorchides Buch bezüglich dieser Kritik genauer an, dann muss man nämlich zunächst feststellen, dass er ein Drittel des Buches (S. 72-155) der islamischen Normenlehre widmet (man achte auf die Seitenzahl). Welche Zielsetzung er dabei verfolgt, erklärt er direkt in der Einleitung: „Dabei geht es nicht darum, das traditionelle islamische Recht bzw. Teile davon zu dekonstruieren, weil das eine oder andere aus unserer heutigen Sicht anstößig wirkt, sondern darum, eine deskriptive Darstellung der Instrumente und Methoden, mit denen muslimische Gelehrte gearbeitet haben, zu liefern. Daran anschließend werden Überlegungen angestellt, wie diese Methoden und Instrumente weiterentwickelt werden können, um den Geist des Korans und der islamischen Botschaft auch für uns heute fruchtbar zu machen, indem die Lebenswirklichkeit der Menschen heute ihre Berücksichtigung findet.“ Weiter heißt es im Scharia-Buch: „Daher ist eine konstruktive Kritik notwendig, die nicht darauf abzielt, das islamische Recht zu disqualifizieren, sondern diesem einen Anstoß zu geben, sich weiterzuentwickeln.“.
Dem Autor geht es also nicht darum, die komplette Tradition auf den Kopf zu stellen oder zu kritisieren, sondern sie kritisch zu reflektieren und das fruchtbar zu machen, was den Muslimen hier und heute in Deutschland hilft, ihre Religion lebensnah zu verwirklichen. Genau dies tut er nicht nur auf den insgesamt 83 Seiten über die islamische Normenlehre, innerhalb derer es zahlreiche Reflexionen gibt (als konkrete Beispiele seien da nur die Ausführungen zur Hadithliteratur, die Maqasid-Diskussion und die Notwendigkeit einer Reform des islamischen Denkens zu nennen), sondern durchwebt sein ganzes Werk. Das betrifft auch Quellen, die er selbst für seine Argumentation nutzt. So z. B. al-Ghazali, von dessen Ausführungen der Autor einiges für sein Werk fruchtbar macht, mit dessen Überzeugungen er aber auch nicht immer übereinstimmt, wie im Falle des Kapitels 4.5.3, in dem es um die Auflistung der Maqasid geht. Wenn man nun die Perspektive und Intention des Autors einfach ausblendet und dem Text seine eigene vorbelastete Sicht aufzwingt, kann es nicht verwundern, dass man zu solch einem falschen Schluss wie der Rezensent kommt, der Khorchide gleichermaßen zu Unrecht eine Kritik an der islamischen Wissenschaftstradition sowie der unkritischen Wiedergabe vorwirft.
Das selektive Leseverhalten des Rezensenten wird besonders in dem zweiten Abschnitt deutlich, innerhalb dessen er sich mit der Thematik der Beigesellung beschäftigt, die Khorchide in seinem Buch intensiv bespricht. Vorab sei Folgendes gesagt: In der islamischen Theologie gibt es die weitverbreitete Unterscheidung zwischen der großen Beigesellung (ash-Shirk al-Akbar) und der kleinen Beigesellung (ash-Schirk al-Asghar). Während erstere Form die direkte Anbetung eines anderen Gottes neben dem einen Gott bedeutet, sieht die zweite Form in jeder Form des unhinterfragten Folgens von Menschen oder Ideen, eine Form der Beigesellung, die anderes als die erste Form nicht den Austritt vom Glauben als Konsequenz hat. Es geht Khorchide also keineswegs darum „andersdenkende Muslime […] als außerhalb des Islams stehend“ zu bezeichnen, sondern darum, dass der Mensch sich von jeglicher Form der Bevormundung befreit, da diese seinen Geist einschränkt und den Menschen zu einem unmündigen Wesen macht. Khorchide spricht an keiner einzigen Stelle seines Buches jemandem den Islam ab. Dies wird ihm lediglich von Rezensenten in den Mund gelegt. Kann der Einsatz für die Mündigkeit eines Menschen wirklich negativ ausgelegt werden? Vielleicht in einem unterdrückenden Diktatorenstaat, der geprägt ist von patriarchalischen Strukturen, nicht aber in einer Gesellschaft, die vernunftsorientiert ihren Weg nach vorne gehen will.
Hier sei zudem angemerkt, dass der große Gelehrte al-Ghazali in seinem Werk „Ihya ulum ad-din“ innerhalb des Abschnittes über die „reine Absicht“ ebenfalls von Beigesellung spricht, wenn der Mensch zwar in all seinen Handlungen die Intention verfolge, Gottes Nähe zu erlangen, aber dabei noch eine weitere Intention anstrebe, denn so verlasse er, laut Ghazali, die Grenze von Ikhlas (die reine Absicht zu Gott) und sei durch Schirk befallen. Khorchide zeigt in seinem Appell an Ikhlas, den angestrebten Idealzustand auf, auf dem Weg der Vervollkommnung des Menschen (siehe „Islam ist Barmherzigkeit“ S. 78).
Dass dem Rezensenten nun die oben genannte durchaus bekannte Unterscheidung zwischen großer und kleiner Beigesellung nicht geläufig ist, führt auch zu einem völlig falschen Textverständnis von Khorchides Buch. Das zeigt sich deutlich an den von ihm angeführten Textbeispielen, die er völlig aus dem Zusammenhang, also selektiv, zu deuten sucht. So führt er folgenden Auszug von Seite 33 des Scharia-Buches mit dem oben genannten Vorwurf an, für Khorchide wäre „eine andere Art des Koranverständnisses“ mit dem Stehen außerhalb des Islams gleichzusetzen: „»Beigesellung» (Schirk) kann also im Kopf eines Menschen stattfinden, indem er die ihm von Gott verliehene Vernunft, mit der er den Geist des Korans verstehen kann, zugunsten des Scheinbaren, also des gelesenen statt des verstandenen Wortes ausschaltet.“ Bereits das Wort „also“ lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Zitat um ein Fazit handelt und in der Tat: Schaut man in das Buch, stellt man schnell fest, dass es das Ergebnis aus einer langen Argumentation ist, die der Rezensent völlig ausgeblendet hat, denn es geht hier keinesfalls darum, eine „andere Art des Koranverständnisses“ als „unislamisch“ zu bezeichnen. Vielmehr zeigt Khorchide anhand einer Anekdote über den Vorschlag eines muslimischen Gelehrten, dass Frauen wie damals die Sklavinnen einen Eigentumsvertrag abschließen sollen, um so dem Kopftuchgebot zu entgehen, dass „ein wortwörtliches Verständnis einiger Aussagen“ Gefahr läuft, „dem koranischen Geist entgegenzuwirken“, denn es ist sicherlich nicht im Sinne des Korans, dass, wie die Moderatorin in der Anekdote bemerkt, Frauen barbusig durch die Straßen Deutschlands laufen. Da muss wohl auch der Rezensent zustimmen.
Das zweite Textbeispiel (S. 27f) führt der Rezensent dann mit dem Vorwurf an, dass Khorchide Interpretationsunterschiede ebenfalls als unislamisch bezeichnen würde, wobei völlig unklar ist, wie der Rezensent auf eine derartige Interpretation des Textauszuges kommt, denn innerhalb dieser Passage betont Khorchide auf der Grundlage des Korans (z. B. 9:31-32), dass die geistige Bevormundung in dem Sinne eine Form der Beigesellung ist, als dass sie das Wort der Gelehrten auf eine Stufe mit dem Wort Gottes stellt, denn die Aussagen vieler Gelehrter werden als unhinterfragte Wahrheiten übernommen. Der Mensch solle, so fordert Khorchide im Sinne des Korans, seinen Verstand einsetzen. Inwiefern Interpretationsunterschiede angeblich von Khorchide kritisiert worden sind, ist völlig unklar und nicht nachvollziehbar. Vielleicht schaut der Rezensent noch einmal genauer in den Text.
Seine zu einem völlig falschen Textverständnis führende vorbelastete Leseperspektive hält der Rezensent bis zuletzt aufrecht, wenn er Khorchide vorwirft, dass sich die „Theologie der Barmherzigkeit“ „gegenüber muslimischen Andersdenkenden als eher unbarmherzig“ zeige. Als „unbarmherzig“ muss wohl viel eher das Aufzwingen einer bestimmten Leseperspektive auf den Text gelten, der sämtliche Inhalte verdreht und dekontextualisiert, wodurch ein der eigenen Intention passendes Konstrukt entsteht. Eine Vorgehensweise, die man nicht nur in der islamischen Geschichte sehr häufig findet (man schaue sich nur einmal die politisierende Koranexegese an), sondern auch sehr gerne von Korankritikern angewandt wird, die einzelne Verse aus ihrem Kontext herausreißen, um sie so gegen den Islam zu verwenden. Interessanterweise wirft der Rezensent genau diese Art der Dekontextualisierung auch dem Autor des Scharia-Buches am Ende seiner Rezension vor, dazu aber später mehr.
Ein weiterer großer Kritikpunkt des Rezensenten ist die von Khorchide vorgestellte Gott-Mensch-Beziehung, die von einem restriktiven Gottesbild weg, hin zu einem dialogischen Modell, in dem Mensch und Gott miteinander kooperieren, führen möchte. Nun fragt man sich, was mag hieran verwerflich sein? Nun laut dem Rezensenten einiges, denn dieser wirft Khorchide vor, er würde das „Bild eines passiven Gottes“ zeichnen, der nur „für den „Abnehmer“, den Menschen, immer wieder neue Angebote“ produziere. Auch würde Khorchide nicht darauf eingehen, welche Folgen eine Ablehnung der Angebote für den Menschen habe. Auch hier wird der aufmerksame Leser von Khorchides Buch sicherlich schnell merken, dass der Rezensent seinem fehlerhaften Verständnis des Textes unterliegt. Um die Gedanken Khorchides im Scharia-Buch noch einmal genau zu erklären: Gott und Mensch befinden sich in einem ständigen Dialog, der Mensch erhält Angebote von Gott, deren Realisierung nicht nur der Erlangung seiner eigenen Glückseligkeit, sondern auch dazu dient, Gottes Intention in der Welt zu verwirklichen. Es handelt sich also hierbei um ein gegenseitiges „Geben“ und „Nehmen“ (s. den Hadith: „Ich war krank …“), keineswegs um einen passiven Akt Gottes. Khorchide macht dabei deutlich, wenn Gott handelt, dann tut er das nicht direkt, sondern durch den Menschen: „Gott greift nicht direkt in die Welt ein, sondern durch den Menschen. Denn er würdigt die Freiheit des Menschen und zwingt den Menschen daher zu nichts, er macht ihm lediglich und immer wieder von Neuem Angebote. Auch wenn der Mensch diese Angebote ablehnt, hört Gott auf keinen Fall auf, dem Menschen immer und immer wieder Angebote zu machen und die Situation neu zu kalkulieren, sodass Gott – egal wie oft der Mensch diese Angebote ablehnt – stets das nächstbeste mögliche Angebot greifbar macht. Der Glaube an das göttliche Schicksal bedeutet daher den Glauben daran, dass Gott nicht einfach tatenlos zuschaut, sondern er begleitet die Menschen und lenkt die Ereignisse im Sinne der Menschen, jedoch ohne die Freiheit des Menschen in irgendeiner Weise einzuschränken, und daher greift er hauptsächlich durch den Menschen selbst ein, aber nur wenn sich dieser in Freiheit zur Kooperation mit Gott entscheidet. Gott greift aber nicht nur durch den Menschen, sondern ebenfalls durch die Naturgesetze in die Welt ein.“ (S. 69). Der Widerspruch, den der Rezensent zwischen dem „Lenken der Ereignisse“ und dem „Eingreifen Gottes durch den Menschen“ sieht, kann im Lichte dieses Textabschnittes nicht nachvollzogen werden, denn diese beziehen sich unmittelbar aufeinander, wie Khorchide in seinem Buch ganz deutlich formuliert: „er begleitet die Menschen und lenkt die Ereignisse im Sinne der Menschen, jedoch ohne die Freiheit des Menschen in irgendeiner Weise einzuschränken, und daher greift er hauptsächlich durch den Menschen selbst ein, aber nur wenn sich dieser in Freiheit zur Kooperation mit Gott entscheidet.“ Dabei ist Gott natürlich weiterhin allmächtig, denn er hat ja in seiner Allmacht die Schöpfung so konzipiert, dass sie nach diesem System funktioniert. Ein einfaches Beispiel dafür ist, die Mutter, die ihrem Säugling Trost spendet, denn hier greift Gott durch die Mutter in die Welt ein. Von einem Abhängigkeitsverhältnis Gottes kann also im eigentlichen Sinne überhaupt keine Rede sein, vielmehr hat Gott die Welt so geschaffen, dass er als oberste Instanz alle Fäden in der Hand hält, indem er ständig alle Faktoren neu berechnet und dementsprechend dem Menschen immer wieder neue Angebote macht und somit indirekt in die Welt eingreift.
Natürlich steht es dem Menschen bei all den Angeboten frei auch nein zu sagen, das eruiert Khorchide sehr genau in seinem ersten Werk „Islam ist Barmherzigkeit“ an, welches das Scharia-Buch anknüpft (siehe dazu „Islam ist Barmherzigkeit“ z. B. S. 83). Es wäre daher sicherlich empfehlenswert gewesen, der Rezensent hätte dieses Buch im Vorfeld seiner Rezension gelesen, dann hätten einige seiner Fragen nicht gestellt werden müssen. So führt diese Unkenntnis von Khorchides erstem Buch dann zwangsläufig zu der in diesem Kontext nicht schlüssigen Frage: „Wieso soll der Mensch nicht eine eigene, völlig konträre Intention entwickeln können, die sich mit seiner nicht deckt?“ Dies spricht Khorchide dem Menschen ja in keiner Weise ab, ganz im Gegenteil, er betont ja immer wieder, dass der Mensch die Freiheit hat, sich zu entscheiden, verweigert er Gott allerdings die Kooperation, dann wird Gott, wie Khorchide mehrfach betont „Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben“. Den angesichts seines eigenen selektiven Lese- und Argumentationsverhaltens doch etwas absurden Vorwurf, Khorchide würde diese Aussage aus ihrem Kontext reißen, werden wir zum Ende hin besprechen. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass eine schlüssige und in sich stimmige Argumentation geboten wird, anhand derer der Rezensent seine Fragen eigentlich hätte beantwortet sehen müssen.
Eine weitere eher irritierende Frage, die der Rezensent innerhalb seiner Rezension stellt, lautet: Woran habe sich denn der Mensch zu messen am Tage des Gerichts? Diese Frage wirft zwangsläufig eine andere Frage auf: Hat der Rezensent den Text, den er rezensiert, wirklich gelesen und verstanden? Denn um nichts anderes geht es ja auf den 230 Seiten! Khorchide zeigt auf, dass es die Pflicht eines jeden Menschen sei, sich selbst zu läutern und die Rituale, wie Beten, Fasten und Zakat, in diesem Sinne zu praktizieren. Denn »An dem Tag werden weder Geld noch Kinder helfen, erfolgreich sein wird der, der mit einem gesunden Herzen zu Gott kommt.« (Koran 26:88-89). Khorchide führt diesen Vers wiederholt an, um aus seinem Verständnis der koranischen Botschaft, aufzuzeigen, worauf es am Tage des Gerichts ankommt. Nur wer ständig über sich selbst reflektiere, der werde seine Schwächen und Fehler erkennen und könne so zu einem vollkommenen Menschen werden, um mit reinem Herzen zu Gott zurückkehren zu können. Eine rein mechanische Ausübung von Ritualen könne diese Läuterung nicht erzielen, denn der Mensch beziehe so das Herz nicht mit ein, dieses aber ist laut Koran und Sunna der Ort, an dem der Glaube zum Glauben wird. Der besonders in den Kapiteln über die Säulen und Grundsätze des Islams, aber auch im Rest des Buches angeführte Gedankengang Khorchides ist sicherlich selbst für den Laien selbsterklärend. Jeder Mensch kann Worte von sich geben, auf essen und trinken verzichten oder eine Geldabgabe leisten, eine Bereicherung kann aber nur dann stattfinden, wenn der Mensch sich durch ihre Verrichtung weiterentwickelt und innerlich bereichert wird, indem er eben über sich und sein Handeln reflektiert. Und genau hier sieht Khorchide eines von vielen Angeboten Gottes: Der Mensch kann durch die Rituale zu seiner Glückseligkeit finden. „Praktizierende Muslime“ sind also in dem Buch von Khorchide keineswegs negativ konnotiert, so wie es der Rezensent in dem Abschnitt unter der Überschrift „Überzeugung durch Abgrenzung“ verlauten lässt. Wie kann es negativ sein, dass Rituale der Vervollkommnung des Menschen dienen? Das der Mensch durch sie zu einem besseren Menschen wird? Diese Kernaussage des Buches wird vom Rezensenten nicht nur nicht verstanden, er ignoriert sie auch völlig. Seine selektive Argumentation zeigt sich auch anhand des von ihm zitierten Textauszuges, auf dessen Grundlage der Rezensent behauptet, Khorchide habe ein Problem mit „Praktizierenden Muslimen“: „Die Praxis sehr vieler sogenannter praktizierender Muslime, die sich lediglich an Äußerlichkeiten halten, sieht leider so aus: Fast jeder geht davon aus, dass ihm die ewige Glückseligkeit längst garantiert ist.“ (S. 45). Nicht nur, dass der Begriff „sogenannt“ darauf hindeutet, dass hier nicht die Rede von praktizierenden Muslimen generell ist, sondern von denen, die sich für praktizierend halten, es aber nicht sind, definiert Khorchide zudem deutlich in dem nachfolgenden Satz, den der Rezensent dem Leser vorenthalten möchte, wen genau er damit meint: „Er sucht nicht mehr die Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern setzt sich mit anderen Menschen auseinander und sucht nach Verfehlungen bei ihnen, nicht bei sich selbst. Jeder will die Verfehlungen anderer verbessern, dabei geraten die eigenen aus dem Blick. Und so verstummt das Herz, während man glaubt, sich für das Gute einzusetzen.“ (S. 45f). Von einer allgemeinen „Verteufelung“ praktizierender Muslime kann also in gar keinen Fall die Rede sein. Das gilt auch für die vom Rezensenten nachfolgend genannten Textstellen der Seiten 14 und 15, in denen Khorchide nicht praktizierende Muslime verurteilt, sondern das Problem aufzeigt, welches entsteht, wenn ein Muslim eine religiöse Autorität so aufwertet, dass er als für Gott stellvertretend sprechend angesehen wird: „Zusätzlich zu der selbstverantworteten emotionalen Unterdrückung kommt nun eine selbst auferlegte Bevormundung. Und genau diese beiden Aspekte verhindern die Entwicklung einer selbstverantwortlichen und aufrichtigen persönlichen Beziehung zu Gott. Denn wenn man seine Beziehung zu Gott über juristische Kategorien definiert, braucht man zwangsläufig einen Juristen, der einen über die Urteile Gottes aufklärt. Dann ist es aber vorbei mit einer direkten persönlichen Beziehung zu Gott. Nun ist der Jurist dazwischen. Er spricht für und anstelle von Gott. Gott spricht nicht mehr. Der Muslim setzt sich nicht mehr mit Gott auseinander, sondern mit dem Juristen bzw. mit seinen Aussagen und Urteilen.“ (S. 15). Nach dem Verständnis des Rezensenten, der diese Aussagen als einen Angriff auf praktizierende Muslime ansieht, würde dies im Umkehrschluss bedeuten, dass der Rezensent einen praktizierenden Muslim daran ausmacht, dass er religiösen Autoritäten seine Verantwortung überträgt, indem er deren Antworten als unreflektierte Wahrheiten übernimmt, sich seines eigenen Verstandes also nicht bedient, sondern einfach Instruktionen folgt, die eben diese Gelehrten festgelegt haben und keineswegs eine persönliche Beziehung zu Gott anstrebt. Eine Idee, die eine stark patriarchalisch geprägte Haltung zeigt und im völligen Widerspruch zum Geist des Korans steht, der an zahlreichen Stellen den Menschen dazu auffordert seinen Verstand zu benutzen: „Und wenn man zu ihnen sagt, sie sollen dem folgen, was Allah herabgesandt hat, sagen sie: ‚Nein, wir folgen dem, was wir als Glauben und Brauch unserer Väter überkommen haben.‘ Wenn nun aber ihre Väter nichts verstanden haben und nicht recht geleitet waren?“ (Koran 2:170).
Der Rezensent bleibt bis zum Ende des Absatzes seiner Linie treu und verdreht die Aussage Khorchides in solch einem Maße, dass er zu dem Schluss kommt, dieser würde den praktizierenden Muslimen vorwerfen „den Islam juristisch wahrzunehmen, frei von jeglicher Moralität und Spiritualität“. Dem aufmerksamen Leser des Scharia-Buches wird sicherlich gleich auffallen, dass diese Auswertung keineswegs richtig ist, denn in dem Zusammenhang mit dem oben zitierten Textauszug des Scharia-Buches erklärt Khorchide weiter: „Eine noch fatalere Folge wäre, dass auch die Juristen bestimmen, was moralisch vertretbar ist und was nicht. Moral wird von außen aufgesetzt. Moralisches Handeln ist demnach nichts anderes als die Befolgung von Instruktionen, die die Juristen ausarbeiten und bestimmen.“ (S. 15). Der Autor greift seinen vorherigen Gedanken auf und entwickelt ein mögliches, die Betonung liegt auf „mögliches“, Szenario, dass eine unhinterfragte Befolgung von Instruktionen ebenfalls zur Folge haben könnte: Wenn moralisches Handeln auf der Grundlage von vorgegebenen Instruktionen, die der Mensch unhinterfragt akzeptiert, basiert, dann führt er dieses nur mechanisch und nicht aus einer inneren Überzeugung heraus aus. Es fehlt ihm also die Fähigkeit über sein Handeln zu reflektieren und demnach wird ihm die Möglichkeit entzogen, sich weiterzuentwickeln. Khorchide geht es also in keiner Weise darum praktizierenden Muslimen ihre Moral abzusprechen, sondern um die große Chance, sich im Laufe seines Lebens durch Selbstreflexion weiterzuentwickeln, die er aber dann in Gefahr sieht, wenn der Mensch in eine „selbstverantwortete emotionale Unterdrückung“ und „Selbst auferlegte Bevormundung“ begibt (S.15).
Hat der Rezensent eigentlich schon lange seine Kompetenz verloren, das Buch Khorchides zu beurteilen, so wird man spätestens am Ende dieses Absatzes nicht darum herumkommen ihm diese endgültig abzusprechen, denn dort heißt es: „die jedoch ein Ausblenden der Vielfalt der muslimischen Geisteswelt, insbesondere ihrer spirituellen Interpretationen mit sich bringt.“ Der aufmerksame und unvoreingenommene Leser kann hier nur heftigst mit dem Kopf schütteln, denn hier beweist der Rezensent mit seinen eigenen Worten: Er hat das Buch nur selektiv gelesen. Denn wie bereits oben angeführt, der Gedanke der Spiritualität, der Bereicherung des Herzens und der Läuterung des Menschen, ist mitunter eines der zentralen Themen in dem Werk Khorchides und wird von ihm immer wieder aufgegriffen. In diesem Zusammenhang definiert er ja gerade den Begriff „Scharia“ als den Weg des Herzens zu Gott und zitiert mehrfach der große Mystiker und Gelehrte Al-Ghazali. Wenn nun das Herz eine so wichtige Rolle in der Argumentation Khorchides spielt, dann fragt man sich zwangsläufig, wieso der Rezensent dieses mit keiner Silbe in seiner Rezension erwähnt? Das Wort „Herz“ kommt tatsächlich kein einziges Mal in der Rezension vor (!!) Und wie ist es möglich, dass der Rezensent davon spricht, Khorchide würde die Vielfalt der muslimischen Geisteswelt ausblenden, wo dieser doch eine lange Liste an Quellen der islamischen Tradition aus den unterschiedlichsten Lagern zitiert?
Abschließend soll nun noch der letzte große Vorwurf des Rezensenten an Khorchide durchleuchtet werden: Khorchide, so der Rezensent, würde dem Salafismus vorwerfen, dass dieser den Koran wörtlich auslegen würde, dies aber selbst tut. Dafür bringt der Rezensent zwei Beispiele, von denen eines in dieser gekürzten Replik besprochen werden soll. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um den sehr häufig von Khorchide zitierten Ausspruch Gottes (Koran 5:54): „Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben.“ Der Rezensent interpretiert den Vers so, dass es sich hierbei um den Zorn Gottes gegenüber den Heuchlern handeln würde. Die muslimischen Exegeten waren sich keineswegs einig, wer mit diesem Vers gemeint ist. Die meisten favorisieren jedoch (vgl. Ibn Kathir, At-Tabari, Al-Baghawi usw.), dass damit diejenigen gemeint sein könnten, die nach dem Tod des Propheten zu Abu Bakrs Zeit, dem islamischen Staat ihre Loyalität gekündigt haben. Diese Exegeten führen jedoch zudem eine Menge anderer wahrscheinlich gemeinter Gruppen an. Genau weiß man also nicht, wer mit diesem Vers in seinem historischen Kontext gemeint ist. Khorchide, der zwischen theologischen und gesellschaftlichen koranischen Versen (s. „Islam ist Barmherzigkeit“ S. 135f) unterscheidet, liest in diesem Vers eine theologische Aussage über das Handeln Gottes. Der Offenbarungsanlass, über den wir kaum etwas wissen, ist nur, wie es das Wort selbst schon sagt, der Anlass der Offenbarung dieses Verses, was keineswegs heißen sollte, dass dieser Vers nur in seinem historischen Kontext etwas auszusagen hat, sondern auch darüber hinaus. Folgt man dem Rezensenten mit seiner impliziten Aufforderung, den Vers lediglich in seinem historischen Kontext als Aussage, die nur die Erstadressaten betrifft, zu verstehen, würde dies heißen, dass der Koran für die Nachfolgegenerationen, auch für uns heute, überflüssig geworden ist. Man kann aus diesem Vers jedoch eine Aussage über die Gott-Mensch-Beziehung ableiten. Und da bleibt Khorchide konsequent: Solche theologischen Aussagen im Koran, die etwas über Gott bzw. über die Gott-Mensch-Beziehung beschreiben, behalten ihre Bedeutung unabhängig vom historischen Kontext. Anders sieht es bei gesellschaftlichen koranischen Aussagen aus, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln (z. B.: Körperstrafen), aus diesen müssen Prinzipien, wie Gerechtigkeit und Würde des Menschen, abgeleitet werden, die auch für uns heute religiös verbindlich bleiben, nicht jedoch die einzelnen juristischen Maßnahmen, die sich mit dem gesellschaftlichen Wandeln, auch selbst wandeln (s. „Islam ist Barmherzigkeit“ S. 162f).
Der anfängliche Vorwurf des Rezensenten, Khorchide würde an einer wörtlichen Interpretation festhalten, kann daher einer genaueren Prüfung nicht Stand halten. Dabei steht seine Interpretation in keinem Widerspruch zu dem Rest des Verses. Um das aufzuzeigen hier noch einmal der Vers in seiner Gesamtheit: „O die ihr glaubt! Wer von euch sich von seiner Religion abkehrt, so wird Gott Leute bringen, die Er liebt und die Ihn lieben, bescheiden gegenüber den Gläubigen, mächtig (auftretend) gegenüber den Leugnern, und die sich auf Allahs Weg abmühen und nicht den Tadel des Tadlers fürchten. Das ist Allahs Huld, die Er gewährt, wem Er will. Allah ist Allumfassend und Allwissend.“. Der Religion kann man sicherlich auf viele Weisen den Rücken zukehren und eine davon ist es eben, die Angebote Gottes nicht anzunehmen, „Nein“ zu Gott zu sagen. Entscheiden sich die Menschen für die Ablehnung, dann bringt Gott andere Menschen hervor, die er liebt und die ihn lieben. Diejenigen aber, die seine Angebote ablehnen, das sind die hier in der Nachfolge beschriebenen Leugner (Khorchide definiert diese in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ detailliert auf S. 89f). Womit man bei der vom Rezensenten aufgeworfenen Frage angekommen wäre, was denn mit denen passiert, die Gottes Angebote ablehnen.
Während nun Khorchides Interpretation auf soliden Füßen steht, kann man das von der des Rezensenten nur schwerlich behaupten, denn schaut man sich den arabischen Originaltext an, so steht dort in der Tat wörtlich, dass „Gott Menschen hervorbringen wird“, arabisch „ya’ti“, dieses wichtige Wort ignoriert der Rezensent aber völlig, geht also abermals selektiv vor (tut also genau das, was er Khorchide vorwirft) und spricht davon, dass es hier „um eine Beschreibung der Gläubigen, die durch ihren Glauben und ihr Handeln ihre Liebe zu Allah bewiesen haben, die deswegen auch von ihm geliebt werden“. Das Ausblenden dieses wichtigen Wortes kann so nur zu einer fehlerhaften Interpretation führen, erst recht, wenn der Autor den Inhalt des Textes dann auch noch zusätzlich verbiegt, denn Gott stellt sich hier als aktiver Gott vor, der nicht nur „hervorbringt“, sondern als Erster den Schritt auf den Menschen mit seiner Liebe zugeht: „die er liebt“ und erst dann folgt „die ihn lieben“, es kann also nicht die Rede davon sein, dass die Menschen zuerst durch ihr Handeln ihre Liebe beweisen und erst dadurch von Gott geliebt werden. Das gibt der Vers so nicht her. Wenn der Rezensent Exegese betreiben möchte, dann sollte er dabei die Richtlinien der Koranauslegung beherrschen, unter denen eine linguistische und rhetorische Kompetenz der arabischen Sprache fundamental sind.
Fazit: Man kann es nur mit ähnlichen Worten wie der Rezensent selbst sagen: Am Ende geht das selektive Vorgehen des Rezensenten auf Kosten der Glaubwürdigkeit, allerdings nicht der der islamischen Theologie in Deutschland, sondern seiner eigenen.