Wie ein europäischer Islam aussehen könnte und wie der derzeitige Stand der Muslime beim Thema ist, darüber diskutierten rund 130 Experten aus verschiedenen Ländern in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ein Rückblick.
Wie könnte ein europäischer Islam aussehen? Könnte er bosnisch, türkisch, vielleicht deutsch oder doch anders geprägt sein? Darüber diskutierten über 130Experten aus über 10 Ländern vom 15.-16. November in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Auch Vertreter der muslimischen Religionsgemeinschaften gingen während der Tagung der Frage nach, welche Rahmenbedingungen eine konstruktive Diskussion über einen europäischen Islam begünstigen bzw. verhindern können.
Eine konstruktive Diskussion über einen europäischen Islam wird aus der Sicht der Tagungsteilnehmer vor allem dadurch verhindert, dass der Islam in Europa vorherrschend als Sicherheitsproblem angesehen wird. Beklagt wurde auch eine verbreitete Fremdbestimmung des Islams im politischen und öffentlichen Diskurs. Islamdiskurse fungierten vielfach als Ersatzdiskurse für die noch nicht akzeptierte und verarbeitete Pluralisierung der Gesellschaften in Europa.
Der Dialog-Beauftragte der Akadamie der Diözese, Hans-Jörg Schmid, machte bereits im Vorfeld zur Veranstaltung deutlich, dass es nicht darum gehe, den Muslimen vorzugeben, wie sie ihre Religion begreifen oder auslegen sollen. Gerade inhaltliche Propaganda für eine bestimmte Lesart des Islam sollte laut Schmid nicht stattfinden. Der Akademie gehe es darum, den muslimischen Religionsgemeinschaften eine Plattform zu bieten, um die Inhalte und Möglichkeiten eines europäischen Islam zu diskutieren. Gerade das Verständnis des vorbelasteten Begriffs „Euro-Islam“, der quasi einen areligiösen Kultur-Islam darstellt, wurde von den meisten Teilnehmern als Grundlage für die Muslime in Europa weitestgehend abgelehnt.
Die Verortung der Muslime in Europa muss aus der Sicht der Teilnehmer auch auf theologischer Ebene erfolgen. Nach einigen Fachleuten fehlt es hier an einer grundlegenden Selbstkritik bei den Muslimen. Es würden zwar Debatten über die eigene Verortung geführt, aber diese bewegten sich oft in einem zu engen Raum. Gerade viele Muslime fänden in den bestehenden Organisationsstrukturen der Religionsgemeinschaften keinen Platz, so die Sicht einiger Teilnehmer.
Das Spezifische an Europa sei die gemeinsame Verarbeitung von Erfahrungen der Spaltung, erklärte Heinz-Jürgen Axt, Vize-Präsident der Südosteuropagesellschaft. Er sieht Europa als eine „Normengemeinschaft“, die als Fundament Werte wie Freiheit, Toleranz und Solidarität hat. Muslime könnten aber hier gleichermaßen Zugang finden und seien ein Teil Europas, so Axt.
Bekim Agai, Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islams (Universität Frankfurt), erklärte, dass sich Muslime verstärkt als Fremdkörper in Europa sehen. Dies liege daran, dass die Identität Europas oft nach außen hin als „nicht-islamisch“ präsentiert werde. Agai machte darauf aufmerksam, dass Erwartungen und Versuche von verschiedenen europäischen Ländern in Bezug auf einen Euro-Islam falsch seien, wenn man sich nur die Pluralität innerhalb des Islam ansehe. Bestimmte Sorgen und Probleme Europas liegen laut Agai auch an der Tatsache, dass die Politik keine Antworten und Lösungen präsentieren kann. Der Islam in Europa sei auf dem Weg der Institutionalisierung. Was dies aber am Ende genau bedeute für den Islam in Europa, könne noch nicht mit absoluter Sicherheit gesagt werden.
Kerem Öktem von der Universität Oxford kritisierte entsprechend, dass vielfach von „europäisch“ gesprochen werde, wenn „deutsch“ oder „französisch“ gemeint sei. Er sieht die Notwendigkeit für eine gerechtere und nicht-stigmatisierende Atmosphäre für Debatten zum Thema Islam. In letzter Zeit gebe es zwar solche Bestrebungen, allerdings werde in den Gesellschaften und in den Medien der Islam immer noch als Gefahr oder gewalttätige Religion wahrgenommen und diskutiert.
Vielleicht ändere sich deshalb nicht das Bild des Islam in den Köpfen der Menschen. Auch Öktem machte darauf aufmerksam, dass die Debatten die derzeit über den „europäischen“ oder Euro-Islam geführt werden, nicht mit Festsetzungen dazu führen können, dass dieser wirklich europäisch wird. Die Diskussionen in dieser Richtung bewertet Öktem als von der „Realität entfernt“ und als eine Grenzüberschreitung, da die Diskussionen auch von außen gelenkt würden, um Inhalte zu bestimmen und Diktionen vorzunehmen.
Jorgen Nielsen von der Universität Kopenhagen stellte dar, dass mit dem Islam die Frage des Verhältnisses von Religion, Ethnizität und Kultur in Ost- und Westeuropa neu aufgebrochen sei. Ein europäischer Islam könne nur ein selbstbestimmtes Projekt der Muslime sein und der Islam sei längst, obwohl es anderslautende Debatten gebe, ein Teil Europas.
Levent Tezcan von der Universität Tilburg zeigte auf, dass dem Begriff „Euro-Islam“ vielfach eine quasi heilsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben werde. Eine Europäisierung etwa der Organisationsstrukturen habe jedoch schon weitgehend stattgefunden.
Die Erlanger Professorin Riem Spielhaus betonte, dass Organisationen und Interessenvertretungen auf europäischer Ebene noch weitgehend ein Projekt für die Zukunft seien.
Aus dem Kosovo, aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina stellten Wissenschaftler Länderanalysen und moderne Islaminterpretationen vor, die für den europäischen Kontext insgesamt von Bedeutung sein können. Vielfach wurden gegenläufige Entwicklungen im Islam wie Nationalisierung und Globalisierung diagnostiziert, die einander überlagern. Weitere Beiträge widmeten sich transnationalen muslimischen Netzwerken und der türkischen „Diasporapolitik“, die den Islam in Europa entscheidend mitprägen.
Im Rahmen der Tagung wurden auch gebräuchliche Kategorien wie „Migranten“ oder „Herkunftsländer“ kritisch hinterfragt. Sie träfen vielfach nicht mehr auf die multiplen Identitäten von Muslimen in der dritten oder vierten Generation zu. Mehrere Beiträge wiesen darauf hin, dass Muslime durch Islamdebatten erst zu Muslimen gemacht würden und es dadurch zu einem „religious turn“ käme.
In der Abschlussdiskussion meldeten sich auch Vertreter von Religionsgemeinschaften zu Wort. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Diskussion um den europäischen Islam einen elitären Charakter habe und mit der Lebenswirklichkeit der Muslime wenig zu tun habe. Im Übrigen sei der politische Steuerungswille eine erhebliche Bremse für kulturelle Ausformungen des Islams in Europa. Auch seien erhebliche Adaptionsprozesse seitens der islamischen Religionsgemeinschaften im Gange, die so nicht gewürdigt würden. „Der Prozess der Verortung wird vor allem über den Weg einer stärkeren Partizipation erreichbar sein, doch die Politik behindert diesen Prozess, soweit sie ihre Neutralität negierend eingreifend reguliert und damit versucht, einen durch die muslimische Gemeinschaft selbstzubestimmenden Prozeß fremdzubestimmen“, so der stellvertretende Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), Mustafa Yeneroglu, auf dem Podium. „Auch die Annahme, dass Identitätsfragen eindeutig geklärt werden müssen, damit Muslime hiesige Normen und Regeln einhalten, ist ein Produkt überholter nationalstaatlicher Vorstellungen“, sagte Yeneroglu, denn sie zeugten nicht von Freiheitlichkeit, sondern einem dem zuwiderlaufenden Homogenisierungszwang.
Die Tagung wurde von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart gemeinsam mit dem European Studies Centre der Universität Oxford, dem Institut für Studien der Kultur und Religion des Islams der Universität Frankfurt und der Südosteuropa-Gesellschaft veranstaltet und von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Mit dieser Tagung führte die Akademie erstmals den Strang ihrer Tagungen zum bosnischen Islam mit dem türkei- und deutschlandbezogener Veranstaltungen zusammen. Die Tagung soll laut den Veranstaltern als interdisziplinäre und länderübergreifende Plattform zur Diskussion über den Islam in Europa weitergeführt werden.
(Akademie der Diözese/ars/kwh/IslamiQ)