Die Landesregierung in Niedersachsen verhandelt mit den muslimischen Religionsgemeinschaften über einen eigenständigen Staatsvertrag. Fatma Çamur sprach mit Ministerpräsident Stephan Weil über den geplanten Staatsvertrag.
In Niedersachsen verhandelt die Landesregierung mit den muslimischen Religionsgemeinschaften Schura und Türkisch-Islamische Union (DITIB) über einen eigenständigen Staatsvertrag. Niedersachsen wäre damit das erste Flächenland in der Bundesrepublik, dass mit den Muslimen einen Staatsvertrag beschließt. Es geht auch um die Anerkennung des Islam in Niedersachsen. Wir sprachen mit dem Ministerpräsidenten des Landes, Herrn Stephan Weil (SPD), über den geplanten Staatsvertrag.
Die Verhandlungen für einen Staatsvertrag mit Muslimen in Niedersachsen haben begonnen. Die Staatsverträge, die in Bremen und Hamburg unterzeichnet wurden, hatten einen deklaratorischen Charakter, sie waren eine Bündelung bestehender Regelungen. Wird der Vertrag in Niedersachsen ähnlich aussehen oder wird man einen Schritt weitergehen?
Auch die Verträge des Landes Niedersachsen mit den beiden großen christlichen Kirchen enthalten viele verfassungsrechtliche Regelungen, so z. B. den Schutz der Religionsfreiheit, die letztlich Wiederholungen unserer Verfassung darstellen. Durch die Vertragsform mit ihrer Klarheit und Verlässlichkeit erhalten sie jedoch einen ganz anderen Stellenwert! Auch der Hamburger wie der Bremer Vertrag fassen Regelungen zusammen, die ohnehin schon gängige Praxis sind – aber eben nicht nur das: Sie bieten auch neue Garantien wie etwa im Hinblick auf das Feiertagsgesetz oder das Bestattungswesen.
Wie der Vertragstext letztlich aussehen wird, bleibt den Verhandlungen vorbehalten. Die Verbände haben eine Vielzahl von Themen benannt – von Moscheebauten über Wohlfahrtspflege bis hin zu staatlichen Zuwendungen – über die zu sprechen sein wird. Wie auch immer das Ergebnis sein mag, ist doch eines ganz wichtig: Der Islam wird durch einen solchen Staatsvertrag als wichtige Religionsgemeinschaft in Niedersachsen wahrgenommen! Die Augenhöhe zu den anderen Religionsgemeinschaften wird damit hergestellt.
Muslimische Gemeinschaften bieten schon jetzt vielfältige Wohlfahrtsarbeit (bspw. Jugend- und Bildungsarbeit etc.) an, doch sie kritisieren, dass es bisher an der Anerkennung und entsprechenden Unterstützung fehlt. Wird der Staatsvertragsprozess auch die Öffnung der Wohlfahrtsstrukturen für muslimische Wohlfahrtsträger ermöglichen?
Noch einmal: Ich kann den Verhandlungen nicht vorgreifen. Aber selbstverständlich nehmen wir die Bedürfnisse der Menschen mit muslimischem Glauben sehr ernst. Es gibt den Wunsch nach eigenen Altenpflegeeinrichtungen, Kindergärten und Behinderteneinrichtungen. Dafür müssen die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten gelten, wie für andere auch. Wir möchten, dass eine neue Normalität des Islam in Niedersachsen entsteht, ein Miteinander in einer Atmosphäre des Vertrauens und Respekts voreinander. Dazu wird sicherlich auch gehören, dass z. B. bei der Pflege eine größere Sensibilität gegenüber den verschiedenen Kulturen und ihren Bedürfnissen an den Tag gelegt wird.
Niedersachsen machte unter der früheren Landesregierung oft von sich Reden mit Themen wie „Islamisten-Checklisten“, mit der man Radikale erkennen soll, oder den verdachtsunabhängigen Moscheekontrollen. Wieso hätte es so etwas unter Ihrer Verantwortung nicht gegeben?
Die von Ihnen angesprochenen Dinge sind zu Recht oft kritisiert worden. Für die von mir geführte rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen gilt, dass wir die Werte unseres Grundgesetzes sehr hoch einschätzen, dazu gehören insbesondere die Menschenwürde, Religions- und Meinungsfreiheit. Wir haben deswegen nach dem Regierungswechsel auch einen Richtungswechsel vorgenommen. Wir wollen eine Willkommenskultur in Niedersachsen. Die Verfassung ist die Basis, auf der die nun laufenden Gespräche mit den muslimischen Verbänden geführt werden.
In vielen Bundesländern werden Integrationspolitik oder auch der Dialog mit den islamischen Religionsgemeinschaften von den zuständigen Innenministerien mehr im Schatten der Sicherheitspolitik gestaltet als im Lichte einer teilhabeorientierten Sozialpolitik. In Niedersachsen sollen die Vertragsverhandlungen zwischen Landesregierung und den islamischen Religionsgemeinschaften (überraschend) unter der Federführung des Kultusministeriums geführt werden. Ist das ein erster Schritt hin zu einer Verlagerung der bisherigen Zuständigkeiten?
Es ist gute Tradition in Niedersachsen, dass Themen dort geklärt werden, wo sie hingehören. Und das ist bei Fragen des Religionsverfassungsrechts nun einmal das Kultusministerium. Dieses Ressort ist zuständig für die Beziehungen zwischen dem Land Niedersachsen und den dort ansässigen Religionsgemeinschaften und das wollen wir auch weiterhin so halten. Selbstverständlich sind aber auch andere Ressorts und die Staatskanzlei in die Vertragsverhandlungen eingebunden und bringen ihr Fachwissen ein.
Trotz positiver Entwicklungen gibt es in Niedersachsen immer noch das Kopftuchverbot für Lehrerinnen. Dieses Verbot, so neuere Studien, ermutigt private Arbeitgeber, Bewerberinnen mit Kopftuch ebenfalls nicht einzustellen, weil sie sich das gesetzliche Kopftuchverbot für Lehrerinnen als Vorbild nehmen. Wird es einen Schritt in Richtung Aufhebung des Kopftuchverbotes geben?
In Niedersachsen gilt für Lehrkräfte kein generelles Kopftuchverbot. In unserem Schulgesetz ist geregelt, dass das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften in der Schule keine Zweifel an der Eignung der Lehrkraft begründen darf, den Bildungsauftrag überzeugend erfüllen zu können. Es gilt das Neutralitätsgebot und unsere Regelungen orientieren sich an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Während des Islamischen Religionsunterrichts dürfen Lehrerinnen jedoch das Kopftuch tragen und die Schulen suchen pragmatische Lösungen im Alltag.
Im Bundesrat stellen SPD und Die Grünen nach wie vor die Mehrheit. Unabhängig von der neuen Bundesregierung sind sie in der Lage, bei vielen bundespolitischen Initiativen mitzuwirken. Werden sie auch in der neuen Legislaturperiode verstärkt Themen wie doppelte Staatsbürgerschaft oder das kommunale Wahlrecht für nicht EU-Ausländer anstoßen?
Die Positionen der niedersächsischen Landesregierung bezüglich einer modernen Zuwanderungs- und Integrationspolitik, die echte Teilhabe ermöglicht, haben sich nach den Bundestagswahlen nicht verändert. Die Relevanz der von ihnen angesprochenen politischen Fragen ist ebenso unverändert. Warum sollten wir also auf einmal diese Themen vernachlässigen? Niedersachsen ist so wie ganz Deutschland darauf angewiesen, zukünftig für Zuwanderer attraktiv zu sein. Ich persönlich habe großes Verständnis für den Wunsch mancher Menschen mit Migrationshintergrund, die eigene, ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu behalten, und ich freue mich aber auch sehr über die Bereitschaft, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Und kommunales Wahlrecht muss auch für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger eine Selbstverständlichkeit sein.
Erstveröffentlichung in der November-Ausgabe der Zeitschrift Perspektif.
Das Interview führte Fatma Çamur.