Interview mit Kerem Öktem

„Von einem guten Muslim wird erwartet, dass er sein Muslimsein Zuhause lässt.“

Jüngste Debatten haben tiefe Spuren bei Muslimen in Deutschland und Europa hinterlassen. In einem Forschungsprojekt hat sich Dr. Kerem Öktem mit den Auswirkungen dieser Debatten auseinandergesetzt. Wir sprachen mit ihm über Forschungsergebnisse aber auch unangemessene Erwartungshaltungen gegenüber Muslimen in Deutschland und Europa.

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03
2014

Ob Beschneidungsdebatte, Integrationsdebatte, Sarrazin-Debatte oder das Thema Sicherheit. Muslime stehen immer wieder im Zentrum öffentlicher Debatten. Dabei hinterlassen die Diskussionen auch tiefe Spuren bei den Gläubigen. Dr. Kerem Öktem, der moderne Nah-Ost-Forschung in Oxford unterrichtet und research fellow am European Studies Centre des St. Antony’s Colleges ist, leitete hierzu ein Forschungsprojekt. Dabei wurden unterschiedliche Debatten zum Thema Islam und Europa durchleuchtet. Wir sprachen mit Kerem Öktem über die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit, die vor Kurzem in der Studie „Signale aus der Mehrheitsgesellschaft – Auswirkungen der Debatte des Beschneidungsverbotes und der staatlichen Beobachtung der islamischen Organisationen auf die Persönlichkeitsentwicklung und  -anpassung“ veröffentlicht wurden.

IslamiQ: Herr Öktem, können Sie uns einen Einblick in die Gefühlswelt der Juden und Muslime während der sog. Beschneidungsdebatte geben? Was bedeutet die öffentliche Debatte für die jüdischen und muslimischen Gemeinden?

Kerem Öktem: In dieser Angelegenheit haben beide Religionsgemeinschaften etwas gemeinsam. Die Beschneidung ist für beide Gemeinschaften ein sehr wichtiger kultureller und religiöser Bestandteil. Da sie sehr eng mit der persönlichen Identität verknüpft ist, kommt ein Verbot der Nicht-Realisierung religiöser und kultureller Identität gleich. Deshalb haben sich beide Gruppen verletzt gefühlt.

Trotzdem gab es unterschiedliche Reaktionen zwischen Muslimen und Juden. Beispielsweise werden die Muslime schon seit langem mit ächtenden Aussagen über Frauenrechte und das Tragen von Kopftüchern konfrontiert. Gleichfalls gab es vor drei Jahren eine Diskussion, entfacht durch Thilo Sarrazin, über die Minderwertigkeit der Muslime und Türken als „Rasse“. Muslime waren es leid, mit solchen Aussagen konfrontiert zu werden; jedoch waren sie mit solchen vorwurfsvollen Situationen vertraut.

Juden in Deutschland haben solch eine breitangelegte Ausgrenzung zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Bis zur Beschneidungsdebatte dachten sie, dass sie eigentlich seit langer Zeit gleichwertige Staatsbürger waren. Mit der Debatte kam bei Juden der Gedanke auf: „Sind wir vielleicht wie die Muslime keine gleichwertigen Staatsbürger?“

 

IslamiQ: Sie sprechen in ihrer Arbeit über den Umstand, dass Muslime als Sicherheitsproblem dargestellt werden. Die deutsche Islam-Politik ist diesbezüglich schon länger beunruhigt. Was für eine Logik steckt Ihrer Meinung nach hinter solch einer Islam-Politik?

Kerem Öktem: Der Einfluss der Anschläge vom 11. September ist für die Konstituierung einer solchen Politik zweifellos groß. Meiner Meinung nach ist dies ein Wendepunkt für Deutschland. Man kann nicht sagen, dass man vor den Anschlägen den Muslimen oder Türken freundlich gesinnt war, jedoch haben die Anschläge die Sicht mehrerer europäischer Länder auf den Islam von Grund auf verändert. Hinzu kommt, dass ein Teil der Attentäter in Deutschland, genauer gesagt in Hamburg, eine Ausbildung genossen haben. Hier kann man sicherlich ein Trauma der deutschen Mehrheitsgesellschaft beobachten.

„Unter uns leben vier Millionen Muslime, diese sind mit radikalen Mächten verbündet. Diese Menschen sind unter uns, sind unsere Nachbarn und können jederzeit eine Gefahr für uns darstellen.“ Diese Angst besteht und kann nicht beseitigt werden, da keine wirkliche Nähe zu den Muslimen aufgebaut wurde. Diese Angst bildet die Basis des Islamverständnisses in Deutschland. Dieselbe Angst führte zur Beobachtung bestimmter ethnischer Gruppen und dazu, dass islamische Organisationen präventiv unter Beobachtung gestellt wurden.

 

IslamiQ: Welche negativen Auswirkungen hat es auf den Pluralismus, wenn im Zuge dieser Islam-Politik Muslime und der Islam als Sicherheitsproblem wahrgenommen werden?

Kerem Öktem: Eigentlich ist es vollkommen verständlich, dass der Staat bestimmte Sicherheitsvorkehrungen trifft. Aber dabei sollte man klug vorgehen, und diese verwirklichen, ohne die Muslime zu beleidigen und in ihre Privatsphäre einzudringen. Das ist leider in Deutschland nicht so geschehen. Wenn die Muslime in Deutschland zum Beispiel der Verfassung zuwider handeln, werden sie unter Beobachtung gestellt. Und nach dieser Beobachtung wird festgestellt, ob sie nun im Sinne der Verfassung oder gegen sie handeln.

Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) beispielsweise steht seit Jahren unter Beobachtung. Die eigentliche Problematik ist: Entweder wird der Verfassung zuwidergehandelt, dann müsste diese Organisation verboten werden; oder es gibt kein illegales Handeln, dann müsste man der Organisation jedoch alles erlauben.

Die Zwischenkategorie „weder verboten, noch erlaubt“ ist meiner Meinung nach ein großes Problem. Denn dieser Zwischenzustand kriminalisiert diejenigen, die in dieser Organisation tätig sind und versperrt ihnen den Weg, sich als eigenständige Personen in die deutsche Gesellschaft einzubringen. In dieser Hinsicht leistet der Umgang mit den Muslimen im Rahmen der Sicherheitspolitik natürlich keinen Beitrag zu einer pluralistischen Gesellschaft. Wenn die Resultate unserer Arbeit betrachtet werden, kommt genau das Gegenteil zum Vorschein: Die dritte oder vierte Generation beispielsweise, die einer Organisation wie der Millî Görüş angehört, in Deutschland geboren ist und deutsch denkt, möchte in Deutschland so akzeptiert werden, wie sie ist. Jedoch wird ihr der Weg versperrt, und das ist aus der Sicht des pluralistischen Systems Deutschlands ein unglückseliges Verfangen.

 

IslamiQ: Welchen Einfluss hat diese ausgrenzende Islampolitik auf die Identitätsbildung der Muslime? Haben die nebeneinander geführten Islam- und Sicherheitsdebatten auch unsichtbare Auswirkungen auf Muslime?

Kerem Öktem: Das Ganze hat natürlich sehr viele negative Auswirkungen. Wenn wir speziell über Deutschland reden, geraten die Menschen in folgende Situation: „Egal was wir machen und wie sehr wir uns anstrengen, wir werden nicht akzeptiert. Diejenigen, die konservativer sind als wir, stören sich an unserer liberalen Art. Auf der anderen Seite werden wir von der deutschen Gesellschaft als Terroristen behandelt.“ Diese Situation bringt die Menschen in eine schwierige Zwangslage. Eine dieser Personen sagt zum Beispiel: „Ich glaube, ich hätte auch radikal werden können. Im Endeffekt strengen wir uns so sehr an. Dass unsere Bemühungen nicht geschätzt werden, ist das eine, zudem werden wir auch noch missverstanden.“ Aber es gibt auch Leute, die eine interessante Perspektive auf dieses Thema entwickeln: „Wenn in diesem Land Personen wie Otto Schily, die zu seiner Zeit auf Demonstrationen verhaftet wurden, Innenminister werden können, wird sich diese Situation eines Tages auch für uns ändern. Aber dazu braucht es Geduld.“ Um es noch einmal zu wiederholen: Es kann sein, dass der Islam und das Sicherheitsproblem in vielen Ländern in einem Atemzug genannt werden, aber dieser Umstand erschwert die Lage. Dadurch werden meiner Meinung nach im Hinblick auf die Partizipation viele Gelegenheiten verpasst.

 

IslamiQ: Migranten stellen in Europa eine Minderheit dar. Das heißt, ihr Zugang zu wirtschaftlichen Mitteln und die Leistungsfähigkeit im Allgemeinen sind im Gegensatz zu der der Mehrheitsgesellschaft begrenzt. Wie kann trotz dieser Tatsache die Angst vor den Migranten erklärt werden? In Ihrer Untersuchung verwenden sie dafür den Begriff „Sicherheitsparadoxon“.

Kerem Öktem: Das ist ein Gedanke von Etienne Balibar (Anm. d. Red: Französischer Philosoph und Marxist): „Wie kann es nur sein, dass – wie Sie eben sagten – Angst vor so einer kleinen Gruppe bestehen kann, die sowieso keine Führung und Macht besitzt?“ In modernen Gesellschaften sind diese Ängste deutlicher, sodass Menschen auf der Suche nach Feinden sind, deren Grenzen sich leichter bestimmen lassen. Sie suchen symbolisch gesehen ein schwarzes Schaf, auf das die Ängste der Gesellschaft projiziert werden können. Aus einem psychosozialen Blickwinkel betrachtet heißt das: „Gut, wir haben das größte Problem erkannt, nun ist alles wieder in Ordnung“.

 

IslamiQ: An einer Stelle sagen Sie, dass solche Debatten in Deutschland nicht pragmatisch sind und dass in Großbritannien die Debatten eher lösungsorientiert angegangen werden. Worin liegt der Unterschied?

Kerem Öktem: In Großbritannien basiert die politische Kultur auf Daten und Fakten. Das heißt, es wird die Frage gestellt: „Was für ein Problem besteht und wie lösen wir es?“ In Deutschland lautet die Frage vor allem jedoch: „Was ist unser Ziel und wie weit/warum sind wir von diesem entfernt?“ Während in Großbritannien beispielsweise darüber diskutiert wird, wie die Planung aussehen sollte, damit die Kinder in die Schule gehen können, wird in Deutschland die Frage gestellt, warum muslimische Kinder erfolglos sind, was der Grund dafür ist. Es wird nie danach gefragt, ob vielleicht die Bildungspolitik falsch sein könnte.

 

IslamiQ: In ihrer Untersuchung weisen Sie auf die von der Regierung vorgenommene Unterscheidung von guten und bösen Muslimen hin. Was ist da ein „guter Muslim“ und was ist ein „böser Muslim“?

Kerem Öktem: Ein guter Muslim wird eigentlich europäischer Muslim genannt und ist ein Phantasiebegriff. Es ist so gesagt eine Version der Religiosität des heutigen säkularen deutschen Christentums, in der das Privatleben von der Religion getrennt und die Religion im Privaten ausgeübt wird. Von einem guten Muslim wird erwartet, dass er auch sein Muslimsein größtenteils Zuhause lässt. Darunter fallen auch das Achten auf die Kleidungvorschriften und Halal-Gerichte. Ein guter Muslim, den sich diese Menschen ersehnen, soll auch Alkohol trinken, Schweinefleisch essen, kein Kopftuch tragen, aber er soll sagen, dass er ein Muslim ist. Solche Menschen gibt es auch, aber diejenigen, die sich darüber hinaus durch ihre islamische Identität definieren, sind in diesem Sinne dann keine „guten“ Muslime.

 

IslamiQ: Im Gegenteil dazu werden Menschen, die sich durch ihre christliche Identität definieren, nicht zu „schlechten Christen“. Heißt das, dass dieser Zustand nur für die Muslime gilt? Oder ist das einfach der Zeitgeist?

Kerem Öktem: Vergessen wir nicht: Jahrhunderte lang sind religiöse Minderheiten aus Deutschland ausgewandert, da christliche Gruppen dort kein Lebensraum hatten. Deutschland hat eine Art von „offiziellem“ Christentum erschaffen, indem sie Gemeinschaften wie die Amisch oder die Mennoniten, die die Polygamie befürworteten und Gemeinden, in denen die Frauen bedeckt waren und der Alkoholkonsum verboten war, im Laufe der Zeit vertrieben haben. Folglich gibt es in Deutschland heutzutage fast keine christlichen Gemeinschaften, die ihre religiöse Identität in den Vordergrund stellen. Wenn das der Fall wäre, würde das meiner Meinung nach ebenfalls ein Problem darstellen. In der säkularen deutschen Gesellschaft kann im Allgemeinen eine Inakzeptanz gegen die Auffälligkeit der Religion beobachtet werden.

 

IslamiQ: Kann behauptet werden, dass Gesellschaften, die nicht dazu fähig sind einen gemeinsamen Lebensraum für Gläubige oder Gruppen aus verschiedenen Kulturen und Religionen aufzubauen, immer den gleichen Typ von Menschen bevorzugen?

Kerem Öktem: Vielleicht nicht den gleichen Typ, aber sagen wir folgendes: In Deutschland gibt es einen vom Staat anerkannten Bereich. Dieser Bereich bietet einen begrenzten Platz für die Religiosität und für verschiedene kulturelle Unterschiede. Aber wenn dieser Bereich überschritten wird, warten in den Außenzonen andere Organisationen wie der Verfassungsschutz. Dieser Bereich der Akzeptanz kann von Land zu Land variieren. In Großbritannien gibt es einen viel größeren Bereich, aber vielleicht gibt es dementsprechend viele Beobachtungen, von denen wir keine Kenntnis besitzen. Das Problem in Deutschland ist, dass der Beobachtungsprozess ständig auf der Tagesordnung steht. Der Staat behauptet zwar ein demokratisches Land zu sein, und dass das keine Geheimdienste sind, aber dennoch werden die muslimischen Gemeinschaften in den Berichten aufgelistet. Das ist charakteristisch für Deutschland.

 

IslamiQ: In Ihrer Untersuchung wird darauf eingegangen, dass die Beschneidungsdebatte das Sicherheitsgefühl der Muslime und Juden verletzt. Beide Glaubensgemeinschaften klagen darüber, in Deutschland nicht akzeptiert worden zu sein. Was für eine Lösung schlagen Sie vor?

Kerem Öktem: Meiner Meinung nach ist in der Mehrheitsgesellschaft niemandem bewusst, was für eine Enttäuschung diese Debatten gebracht haben. In der deutschen Gesellschaft werden solche Themen wie abstrakte Themen aufgefasst und dementsprechend diskutiert. Man vergisst, dass einige mit diesen Angelegenheiten persönlich konfrontiert werden. Ich denke, dass in Deutschland solche Debatten nicht mehr so erbarmungslos, hart und oberflächlich geführt werden sollten. Dafür kann natürlich einiges gemacht werden. Es kann beispielsweise genauer untersucht werden, was für Resultate solche Debatten mit sich bringen. Ich glaube, dass besonders Staatssender solche sensiblen kulturellen Themen äußerst vorsichtig behandeln sollten.

Zudem glaube ich auch, dass bezüglich muslimischer Gemeinschaften, insbesondere der IGMG, hinsichtlich des sogenannten „legalistischen Islamismus“ ein Urteil gefällt werden sollte. Diese Zwischenstellung hilft meiner Meinung nach niemandem. Es ist schwierig, eine noch liberal-islamistische oder post-islamistische Bewegung – wie wir sie auch immer nennen mögen – als die IGMG zu finden. In Großbritannien würde die IGMG nicht als islamistisch angesehen werden. Sie wäre mit großer Wahrscheinlichkeit eine Bewegung, die der Staat unterstützt, da sie die Muslime nicht radikalisiert. Meiner Meinung nach muss in diesem Land so eine politische Debatte eingeleitet werden. Mit anderen Worten muss der Akzeptanzbereich, den ich vorher erwähnt hatte, erweitert werden.

 

IslamiQ: Oder die Akteure müssten zurückhaltender werden?

Kerem Öktem: Natürlich. Ich möchte auch nicht sagen, muslimische Gemeinschaften sollen beobachtet werden, aber man soll es ihnen nicht anmerken lassen. Dennoch werden mehrere Organisationen in vielen europäische Staaten beobachtet. Solange es jedoch keine ernsthaften illegitimen Angelegenheiten gibt, werden die Gemeinschaften nicht dermaßen unter die Lupe genommen.

 

IslamiQ: Bewegt man sich nun auf eine Diskreditierungspolitik zu?

Kerem Öktem: Mit dieser Politik wird unter anderem den Muslimen im Allgemeinen eine wichtige Nachricht übermittelt; genauso wie bei der Diskussion über „guter Muslim – böser Muslim“. „Handle nicht so, sondern so. Gehe nicht dorthin, sondern hierhin.“ Allerdings darf der Mensch bei seinen Wahlen zwischen den möglichen Optionen nicht eingeschränkt werden. Je mehr hier beschränkt wird, desto mehr können radikale Lösungen auftauchen. Das heißt, diese Betrachtungsweise ist sogar aus Sicht der Sicherheitspolitik keine sehr authentische Politik.

 

IslamiQ: Sind diese Anweisungen und Beschränkungen, von denen Sie sprechen, keine ernsten Signale für einen Verlust der Rechte? Wenn so etwas in einem anderen Land geschehen würde, würde man sich laut dagegen wehren. Diese Haltung sehen wir aber bei Muslimen nicht. Sind sie nicht in der Lage dazu, eine Position einzunehmen, mit der sie ausdrücken, dass sie in ihren Rechten und Freiheiten eingeschränkt werden? Oder stellt die Debatte selbst ein Hindernis für die Entwicklung einer solchen Haltung dar?

Kerem Öktem: Das Hauptproblem ist folgendes: Die Voraussetzung, um nach Rechten zu verlangen, ist, ein legitimes Mitglied der politischen Struktur zu sein. Aber wenn sie vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen und eine neue Gruppe sind, werden sie sowieso nicht als ein solches legitimes Mitglied angesehen. Wenn sich der in Deutschland lebende Muslim seiner Situation in seinem Land nicht bewusst ist, dann ist es von Anfang an fast schon unmöglich, dass er sich um seine Rechte bemüht. Denn, wer in diesem Land sich für seine Rechte einsetzen möchte, muss auch von seinem Gegenüber akzeptiert werden.

 

IslamiQ: Fühlen sich die Muslime Ihrer Meinung nach in Europa sicher?

Kerem Öktem: Die Beschneidungsdebatte in Deutschland hat sowohl bei den Muslimen als auch bei den Juden Skepsis hervorgerufen. Viele Juden meinten: „Wenn die Beschneidung hier zu Lande verboten wäre, hätte ich dieses Land verlassen. Denn ich kann einiges tolerieren, aber ein solcher Eingriff in meine Identität würde bedeuten, dass das Leben in diesem Land unmöglich ist. In einem Land, das die Beschneidung verbietet, kann meine Zukunft nicht in Sicherheit sein.“ Das Gesetz wurde nicht verabschiedet und vielleicht wurde das Problem behoben, aber die Erlebnisse, Beleidigungen und die oberflächlichen Ausdrücke werden anscheinend eine lange Zeit in Erinnerung bleiben. Deswegen wünsche ich mir für Deutschland, dass diese Diskussionen nicht mehr so oberflächlich geführt werden.

 

IslamiQ: Sie sprechen von einem „Anpassungs-Paradoxon“ in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Das heißt, einerseits gibt es Angriffe auf Moscheen und Muslime und andererseits gibt es anstatt eines umfassenden Verständnisses eine unterdrückende Anpassungserwartung. Wie ist dieses Paradoxon zu verstehen?

Kerem Öktem: Es gibt zwei Möglichkeiten, um dieses Paradoxon zu überwinden. Entweder müssen die Anpassungserwartungen gesenkt werden oder die Akzeptanz muss sich steigern. Das heißt, entweder muss die Anpassung erleichtert werden, indem den Menschen bessere Möglichkeiten geboten werden, oder sie müssen so akzeptiert werden, wie sie sind. Das Richtige jedoch ist, die Anpassungsmöglichkeiten bis auf die möglichst oberste Grenze auszuweiten und zudem die Unterschiede zu akzeptieren. Wenn Deutschland sich als bestes Vorbild einer liberalen westlichen Demokratie sieht, kann sie dieses Paradoxon überwinden, indem sie den Menschen verschiedenen Glaubens ihre Freiheiten nicht verbietet, sondern gewährt.

 

IslamiQ: Herr Öktem, herzlichen Dank für das Gespräch.

Kerem Öktem: Ich habe zu danken.

 

Hintergrund: Die Auswirkungen der Beschneidungsdebatte

2012 erklärte das Kölner Verwaltungsgericht, dass die Beschneidung von Kindern eine Körperverletzung darstellt. Das Urteil entfachte innergesellschaftliche Diskussionen und brachte die Sorge mit sich, dass die Toleranz gegenüber anderen Religionen und Gläubigen abnimmt. In den Debatten wurde die Beschneidung als eine primitive Tradition, wie beispielsweise die Hexenverfolgung im Mittelalter, dargestellt. Dabei fielen insbesondere antisemitische und muslimfeindliche Diskurse auf, die auf einen versteckten Rassismus hinweisen.

Die öffentliche Debatte ging so weit, dass sogar Kampagnen entstanden, in denen sich Ärzte, Frauenrechtler, Politiker, gesellschaftliche Eliten, Atheisten und Islamkritiker, also eine breitangelegte heterogene Masse, für ein Beschneidungsverbot einsetzten.

Ein Jahr nach diesen Auseinandersetzungen, hat Kerem Öktem gemeinsam mit Network Turkey und der Universität Oxford eine Studie durchgeführt. Das Projekt mit dem Titel „Signale aus der Mehrheitsgesellschaft – Die Auswirkungen der Debatte des Beschneidungsverbotes und der staatlichen Beobachtung der islamischen Organisationen auf die Persönlichkeitsentwicklung und -anpassung“ beschreibt das Ausmaß der Enttäuschung von Juden und Muslimen, die die Beschneidungsdebatte in Deutschland bei ihnen im vergangenen Jahr verursacht hat.

Gleichfalls wurden die Auswirkungen auf Muslime analysiert, deren Einrichtungen in Deutschland durch den Verfassungsschutz beobachtet werden. Die befragten Muslime denken, dass die Beschneidungsdebatte in Deutschland eine Fortsetzung der Debatten um Sarrazin, Necla Kelek, Parallelgesellschaft, Zwangsheirat, Ehrenmord, Kopftuchverbot und die Vermisst-Kampagne des Innenministeriums ist.

Gerade, dass Juden und Muslime vernehmen mussten, ihre gemeinsamen religiösen Rituale seien primitiv, hat sie sehr enttäuscht und verletzt. In diesem Sinne unterstreichen die Befragten, dass nicht die rechtliche Debatte, sondern die vorurteilsvollen Vorwürfe und Beschuldigen sie gestört haben.

Leserkommentare

Wolf D. Ahmed Aries, Hannover sagt:
Wo kann man diese Studie bekommen? Danke.
02.03.14
18:52
Redaktion sagt:
Herr Aries, die Studie "Signale aus der Mehrheitsgesellschaft" kann unter anderem hier gelesen werden: http://network-turkey.org/signals-from-the-majority/bericht-signale/
03.03.14
3:11
Mari sagt:
'Gleichfalls gab es vor drei Jahren eine Diskussion, entfacht durch Thilo Sarrazin, über die Minderwertigkeit der Muslime und Türken als „Rasse“.' Immer wieder wird versucht, Muslime als Rasse hinzustellen. Sie sind keine Rasse. Punkt.
15.06.14
17:22