Interview mit Ravil Gaynutdin

Dialog des Islams mit dem Staat

Im Gespräch mit dem Präsidenten des russischen Muftirates, Ravil Gaynutdin, haben wir uns mit der Geschichte des Islam und den aktuellen Herausforderungen für die Muslime in Russland unterhalten.

09
03
2014
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Schätzungsweise 25 Millionen Muslime leben in Russland. Doch über sie ist weitestgehend in Europa kaum etwas bekannt. Ravil Gaynutdin ist höchster Mufti Russlands und Präsident des russischen Muftirats. Er gilt den Muslimen in Russland als eine religiöse Autorität und hat sich immer wieder gegen Terror und Gewalt starkgemacht.

Gaynutdin gehört außerdem zu den 138 Unterzeichnern des offenen historischen Briefes „A Common Word Between Us & You“ die Persönlichkeiten des Islam an Vertreter der christlichen Kirchen schickten. In dem Schreiben wird zum Dialog über die Gemeinsamkeiten der Religionen aufgerufen.

Wir sprachen mit Ravil Gaynutdin wir über die tief verwurzelte Geschichte der Muslime in Russland und die innerpolitische Ausrichtung des Staates gegenüber Muslimen.

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas über die Geschichte des Islams in Russland sagen?

Ravil Gaynutdin: Der Islam hat sich innerhalb der Grenzen der modernen russischen Föderation in der Republik Dagestan (Südrussland) im siebten Jahrhundert angesiedelt. Seitdem existieren in Russland Muslime, die über Jahrhunderte nicht nur ihren Glauben bewahrt, sondern auch einen spürbaren Beitrag für die Entwicklung des islamischen Erbes geleistet haben. So ist beispielsweise bekannt, dass im Jahre 1787 auf Anordnung Katharina II. erstmalig ein Koran in Russland gedruckt wurde. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Arbeiten der tatarischen und dagestanischen Gelehrten größtenteils in der muslimischen Welt bekannt.

Infolgedessen kann man in Russland von einem bedeutungsvollen islamischen Erbe sprechen. Wir können uns also bei Themen und Problemen der muslimischen Gemeinschaft im 21. Jahrhundert auf die Erfahrungen unserer Vorfahren stützen.

 

IslamiQ: Vor welchen Herausforderungen stehen die Muslime in Russland heute?

Ravil Gaynutdin: Im 20. Jahrhundert galt in Russland der „Staatsatheismus“, das heißt der Staat verbreitete und propagierte eine atheistische Ideologie. Insbesondere in den 1930 er Jahren wurden Tausende Imame und gläubige Menschen verfolgt. Obwohl zu dieser Zeit der Glaube an Gott und die freie Religionsausübung durch die Verfassung gesichert schienen, war die tatsächliche praktische Ausübung der Religion nicht möglich. In den meisten Fällen wurden religiöse Veranstaltungen und Gebete heimlich verrichtet. 

Ab den 1920er Jahren wurden islamische Einrichtungen wie Moscheen und muslimische Stiftungen verboten. Bis 1927 gab es über 15.000 Moscheen innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation, von denen bis in die 1980er Jahre nur noch 100 bewahrt werden konnten. Die verbleibenden Moscheen wurden entweder abgerissen oder der Staat konfiszierte diese zur anderweitigen Nutzung.

Nach diesen immensen Menschenrechtsverletzungen und der schlechten Behandlung der Muslime sind heutzutage bei muslimischen Jugendlichen leider der Verlust von ethischen Werten, Drogen- und Alkoholsucht zu beobachten. Die Jugendlichen haben die religiösen und kulturellen Traditionen ihrer Eltern vergessen. Gleichermaßen geschieht diese religiös-kulturelle Assimilation nicht unter staatlichem Druck; sie assimilieren sich freiwillig.

Um politische Ziele zu erreichen, werden unter dem Banner der Religion Probleme wie Radikalismus und Extremismus thematisiert. Diese Meinungen, die das islamische Erbe instrumentalisieren, verbreiten Intoleranz und Hass in der Gesellschaft. 

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Radikalisierung der Jugendlichen und der Verlust traditioneller Werte einen gemeinsamen Ursprung haben. Meiner Meinung nach findet man deren Lösungsansätze auch in einer gemeinsamen Quelle. 

Es sollte sich eine offiziell geförderte islamische Infrastruktur mit Moscheen, muslimischen Schulen, jedem zugängliche Publikationen, islamischen Kulturzentren und wohltätigen Institutionen entwickeln. In den Großstädten beispielsweise herrscht ein erhebliches Bedürfnis nach Moscheen. Leider haben viele Stadtverwaltungen und die entsprechenden Bürgermeister noch nicht die Bedeutung der Moscheen mit ihren sozialen Funktionen für die Gesellschaft erkannt, weshalb Neuanträge für Moscheebaugrundstücke oft abgelehnt werden. Muslimische Jugendliche, die in ihren Heimatstädten keine Moschee vorfinden, geraten zunehmend in den Einfluss von bedenklichen Predigern oder werden Mitglied von verbotenen Organisationen. Dies hat leider traurige individuelle und gesellschaftliche Folgen.

 

IslamiQ: In Russland wurde das 225. Jahr nach der Gründung des Muftiamts gefeiert, das durch ein Dekret von Katharina II. initiiert wurde. Können Sie uns ein wenig von dieser Institution berichten? Was sind Ihre Aufgaben?

Ravil Gaynutdin: Wir haben vor Kurzem ein wichtiges Datum in der Geschichte der Muslime Russlands gefeiert. Dieses Datum hat das Leben der russischen Muslime über mehr als zwei Jahrhunderte geprägt hat. Am 22. September 1788 veröffentlichte Katharina II. das Dekret zur Gründung des „Rechtsrats der muslimischen Geistlichen“ mit dem Hauptsitz in Ufa. Diese Institution wurde 1846 in Orenburg zu „Rat der muslimischen Geistlichen“ umbenannt. Seit 1802 ist der „Rat der muslimischen Geistlichen“ mit Sitz in Orenburg innerhalb des Innenministeriums angesiedelt. Bis 1917 wurde der Vorsitzende dieser Institution, also der Mufti, durch den Zaren ernannt. Im 20. Jahrhundert wurde der „Rat der Muslime“ zur „Muslimischen Religionsbehörde“ umbenannt. Die Ära Katharina II. war ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem Reich und der muslimischen Minderheit.

Bis heute wurden in Russland diejenigen, die keine Russen waren, systematisch christianisiert. Zudem wissen wir heute, dass viele religiöse Minderheiten zur christlichen Taufe gezwungen wurden. Katharina II. hat nicht nur diese Zwangsmissionierungen beendet, sondern den Gebieten, in denen Muslime lebten, Religionsfreiheit gewährt und ihnen erlaubt, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts gemäß der Scharia zu verwalten. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Regierung und der Muslime wurden seitens des Orenburger Rats geregelt.

Heute vereint und verwaltet die „Muslimische Religionsbehörde“ die lokalen muslimischen Verbände. Sie übernimmt den Bau und die Verwaltung von Moscheen, Madrasas, islamischen Universitäten, organisiert islamischen Sozialeinrichtungen und die Pilgerfahrten. Wir bilden Imame aus, erarbeiten Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht und kümmern uns um die Erstellung religiöser Literatur. 

Jedoch besteht die Aufgabe der „Muslimischen Religionsbehörde“ nicht nur in der Beheimatung der Muslime und des Islams und der Vermittlung islamisch-ethischer Werte. Vielmehr versuchen wir die Beziehungen mit dem säkularen Staat zu pflegen, und die Interessen der 25 Millionen Muslime in Russland zu vertreten. Wir nennen dies den „Dialog des Staates mit den religiösen Gruppen“ oder der „Dialog des Islams mit dem Staat“.

 

IslamiQ: Wie beurteilen Sie die Teilnahme des russischen Präsidenten Vladimir Putin an den Festlichkeiten anlässlich des 225. Jahrs der Gründung des Muftirats?       

Ravil Gaynutdin: Die Muslime in Russland schätzen Putin sehr, weil in seiner Amtszeit Russland den Beobachterstatus beim IOC erhielt und der blutige Krieg in Tschetschenien beendet wurde. In diesem Sinne ist es zu einer gewissen Tradition geworden, dass die Vorsitzenden der großen islamischen Organisationen in Russland mit dem Präsidenten zusammenkommen. Bei diesen Treffen sprechen wir Muftis die Themen an, die explizit die Muslime Russlands betreffen. 

Wir sehen, dass sich der Staat darum bemüht, Lösungen für die Probleme der muslimischen Gemeinschaft in Russland zu finden. Gleichermaßen sieht die russische Regierung, das viele Muftis und Imame durch Extremisten in Russland, insbesondere im Nordkaukasus, getötet werden. Diese Extremisten betrachten die russischen Imame als Feinde, weil wir auf Seiten einer staatlichen Ordnung und einer gewählten Regierung stehen.

 

IslamiQ: Wie ist die Situation der theologischen Einrichtungen in Russland? Putin hat beim Treffen gesagt, dass die Schulen für islamische Theologie wiederbelebt werden müssten. Wie sieht die staatliche Unterstützung in diesem Bereich aus? 

Ravil Gaynutdin: Mit der Initiative Putins wurde vor ein paar Jahren ein staatliches Programm ins Leben gerufen, das den Muslimen eine traditionskonforme theologische Ausbildung ermöglichen soll. Ziel ist es, kompetente Imame und Religionsbedienstete auszubilden, die damit beauftragt werden, unsere junge Generation religiös zu bilden. Außerdem wurde seitens des Staates ein Fond eingerichtet, aus dem soziale Projekte gefördert werden, die der muslimischen Gemeinschaft in Russland zugutekommen. So entwickelt sich die Zusammenarbeit mit dem Staat recht positiv.

Zurzeit wird die Zentralmoschee in Moskau, die im Jahre 1904 errichtet wurde, restauriert. Wichtig zu erwähnen wäre, dass erst durch die Zustimmung und Unterstützung des Präsidenten Putin einer der größten Moscheen in Europa restauriert wird.

 

IslamiQ: Das Treffen in Ufa fand nach den Anschlägen auf die muslimische Minderheit in Moskau statt. Wie beeinflussten die Auseinandersetzungen das Treffen? Welche Haltung haben sie gegenüber den rassistischen und ethnischen Unruhen im Lande?

Ravil Gaynutdin: Wie überall in Europa gewinnen auch in Russland rechte politische Bewegungen mehr und mehr an Einfluss. Einige Politiker in Russland, wie es in Europa teilweise auch der Fall ist, versuchen mit propagandistischen Parolen gegen Menschen mit kaukasischem Hintergrund oder gegen den Islam vorzugehen, um die Sympathien der Wähler für sich zu gewinnen. Wir beobachten, dass einige Politiker sich bemühen, Muslime, insbesondere die immigrierten Muslime, für die sozialen und ökonomischen Probleme verantwortlich zu machen.

Vor kurzer Zeit hat der Vorsitzende einer solcher rechten Partei, Vladimir Jirinovskiy, vorgeschlagen, den Nordkaukasus mit einem Stacheldrahtzaun von Russland zu trennen und den Kaukasen zu verbieten, mehr als zwei Kinder zu bekommen. Die Mehrheit der Gesellschaft reagierte empört auf diese Äußerungen. Jirinovskiyins wurde von Präsident Putin gerügt. Daraufhin musste er sich für seine Ausfälle entschuldigen.

Das Treffen in Ufa fand einen Tag nach der Busexplosion in Wolgograd statt. Um unser Beileid für die betroffenen Familien auszudrücken, deren Verwandte Opfer des Terrors geworden waren, begann das Treffen mit einer Schweigeminute. Unsere Position zu diesem Fall war, dass dieser Mordfall umfassend untersucht werden sollte und mit dem Schuldbeweis, die Tatverdächtigen ihre verdiente Strafe erhalten sollen. Es ist wirklich sehr traurig, dass gesellschaftliche Spannungsfelder für politische Zwecke instrumentalisiert werden.

 

IslamiQ: In Russland leben sehr unterschiedliche muslimische Gruppen. Wie wirkt sich diese Vielfalt auf Ihre Tätigkeiten aus?

Ravil Gaynutdin: Tatsächlich existiert in Russland nicht eine homogene muslimische Gruppe. In der muslimischen Gemeinschaft gibt es viele türkischstämmige Völker wie Tataren, Baschkiren, Noghais, Kumyken, Kazaken, Karatschai und Balkarien; viele kaukasische Völker wie Adygea, Kabardino, Vainakhs (Tschetschenen und Inguschen), Osseten und Völker aus Dagestan. Außerdem leben in Russland viele Muslime aus Zentralasien, wovon einige bereits die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Diese multiethnische Gemeinschaft betrachten wir als Reichtum.

Bis ins 20. Jahrhundert hat jedes Volk in seinem eigenen Land gelebt. Jedoch pflegten die Einwohner der verschiedenen Gebiete der russischen Monarchie sehr enge Kontakte zu Menschen dergleichen Religion. Das Türkische war bei diesen internationalen Beziehungen die gemeinsame Sprache der verschiedenen Völker. Heutzutage hat diese Aufgabe das Russische übernommen. Wenn sie heute zum Freitagsgebet in die Zentralmoschee nach Moskau kommen, treffen sie auf Menschen aus den verschiedensten Völkern. Aus diesem Grund müssen unsere Imame in manchen Themen zusätzlich ausgebildet werden. Gleichfalls erleben wir dadurch die Brüderlichkeit der Gläubigen gemäß den Geboten Allahs und der Sunna des Propheten (s).

 

IslamiQ: Was ist Ihre abschließende Botschaft an die islamische Welt und insbesondere an die Muslime in Europa?

Ravil Gaynutdin: Wir versuchen mit den Muslimen in verschiedenen Ländern offenherzige Beziehungen zu pflegen, miteinander zu kooperieren und unsere Erfahrungen zu teilen. Ob es der Nahe Osten ist, Nordafrika oder Länder aus Südostasien: Wir haben Beziehungen von Zentralasien bis China, zu Ländern mit einer großen und auch geringen Anzahl von muslimischen Einwohnern.

Aufgrund der gemeinsamen Sprache und Kultur pflegen wir seit langer Zeit enge Kontakte mit der Türkei. Darüber hinaus nehmen wir mit großer Freude an den Arbeitskreisen des islamischen Ausschusses Eurasiens teil. Ich hoffe, dass durch unsere gemeinsamen Projekte in Zukunft eine engere Zusammenarbeit möglich sein wird.