Ein besonderer Einblick in die Lage auf der Krim. Im Gespräch mit Ahmet Özay, Mitglied des krimtatarischen Selbstverwaltungsorgans „Milli Madschlis“ sprachen wir über die Sorgen, Nöte und die Zukunftsaussichten für die Krim.
Die Situation auf der Krim ist weiterhin sehr verworren. Wir sprachen mit Ahmet Özay, Mitglied des krimtatarischen Selbstverwaltungsorgans „Milli Madschlis“ und Vertreter des krimtatarischen Parlamentspräsidenten in Deutschland über die Zukunftsaussichten für die Region. Das Gespräch gewährt einen Einblick in die aktuelle Lage, besonders die heikle Situation der muslimischen Minderheit der Krimtataren. Özay informiert auch darüber, was die internationale Öffentlichkeit im Konflikt tun kann, um zu helfen.
IslamiQ: Wie bewerten Sie das Referendum auf der Krim?
Ahmet Özay: Der Begriff Referendum bedeutet, dass die Bürger des Landes mittels Abstimmung einen Beschluss fassen. Aber die Abstimmung, die jetzt stattgefunden hat, kann nicht als ein „Referendum“ angesehen werden. Denn erstens kann nach ukrainischem Recht ein Landesteil keine Abstimmung durchführen, die die Belange des gesamten Landes betrifft. Zweitens handelt es sich in diesem Fall um eine Abstimmung, die ein fremdes Land auf einem besetzten Gebiet der Ukraine durchgeführt hat. Es ist unmöglich, dass wir eine Abstimmung, die sowohl internationalem als auch nationalem Recht widerspricht, als rechtmäßig anerkennen.
IslamiQ: Wie wird sich ihrer Meinung nach die Situation von jetzt an weiterentwickeln?
Ahmet Özay: Nach dieser als Referendum bezeichneten Abstimmung hat die Krim zunächst ihre Unabhängigkeit erklärt. Danach hat der russische Staatspräsident Putin die Annexion der Krim proklamiert. Alles geschah innerhalb von 24 Stunden. Wir haben schon immer gesagt, dass dies keine Unternehmung ist, die auf eine Unabhängigkeit abzielt. Von jetzt an aber wird es keine internationale Anerkennung geben. Welches Land der Welt hat das Recht, die Besetzung eines Teiles seines Landes durch ein anderes Land anzuerkennen? Oder wie kann ein Volk die Besetzung seines Landes durch ein anderes anerkennen?
IslamiQ: Wie ist die Situation auf der Krim nach dem Referendum?
Ahmet Özay: Vor dem Referendum war die Lage auf den Straßen angespannt. Nach der Abstimmung aber gab es viel Freude in Russland. Der Grund für die Anspannung auf der Krim waren bewaffnete Banden, die zusammen mit den russischen Streitkräften aus dem Ausland auf die Krim kamen. Das waren Leute, die wir leider schon aus der Geschichte des Balkans kennen, und von denen wir wünschten, sie wären Geschichte des 20. Jahrhunderts geblieben. Zu ihnen gehören Banden wie die Ataka aus Bulgarien, die Tschetniks aus Serbien und die aus Kaukasien herbeigeschafften Kosaken, deren einzige Aufgabe es ist, Muslime zu jagen.
Die Besatzungskräfte haben vor dem Referendum versucht, diese Banden aus dem Verkehr zu ziehen, als Vorkehrungen zur Entspannung der Lage. Nach der Abstimmung haben die Banden mit ihren Einschüchterungsaktionen weitergemacht – und tun es immer noch. Zum Beispiel gibt es am Azak-See in Arabat, wo viele Tataren leben, ein Dorf. Am 17. März sprang über diesem 1.100 Einwohner zählenden Dorf, das sich am Referendum nicht beteiligt hatte, eine russische Fallschirmspringereinheit ab, die mit 4 zusätzlich entsandten Panzern das Dorf belagerte. Nun werden die Dörfer, derjenigen, die nicht abgestimmt haben, beschattet und die Menschen dort hingerichtet. Einer dieser Hinrichtungen ist die von Reschad Achmedov, dessen Leiche am 17. März in der Gegend bei Karasu Pazar gefunden wurde. Die Politik der Hinrichtungen und ethnischen Säuberungen nach dem Referendum ist offensichtlich.
IslamiQ: Was kann das Volk auf der Krim angesichts dieser Situation tun?
Ahmet Özay: Es gibt Dinge, die die Menschen in jeder Situation tun können. Völker können auch unter den Bedingungen der Besatzung ihre Existenz fortführen. Das, was das Volk auf der Krim tun kann, ist es, seiner Heimat treu zu bleiben. Sie kann versuchen, ein Symbol für Frieden und Wohlstand zu sein. Die Krim war im Verlauf des gesamten letzten Monats ein Zentrum der Verständigung und des Verzichts auf Gewalt. Besonders die krimtatarische Selbstverwaltung, der „Milli Madschlis“, die ihre Arbeit weiterhin fortführt und an dessen Eingang immer noch die krimtatarisch-türkische und die ukrainische Staatsflagge hängen, ist ein Garant für den Frieden auf der Krim. Denn wir treffen politische Entscheidungen und besitzen weiterhin die Autorität, diese umzusetzen. Wir sind an die Verfassung und an die Gesetze gebunden. Wir sind entschlossen, das Volk zu unterstützen und ihr ein normales Leben zu ermöglichen. Aber es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Menschen, die auf die Krim gekommen sind, keine guten Absichten hegen. Derzeit entsteht auf der Krim eine Gruppe von Immigranten. Die Menschen leben unter ernsthaft schwierigen Umständen, weil es Probleme bei der ökonomischen Integration gibt. Ebenso gibt es Störungen in der Energie- und Wasserversorgung sowie im Zahlungs- und im Kommunikationssystem. Frauen und Kinder verlassen die Krim und siedeln sich im Westen der Ukraine an. Insbesondere die muslimischen Organisationen in Europa rufen wir auf: So wie ihr ein Gewissen für die Muslime in anderen Regionen der Welt habt, so solltet ihr dieses Gewissen auch für die Krim haben und Solidarität üben. Die Muslime auf der Krim sind, Allah sei Dank, sowohl ergebene Muslime als auch treue Patrioten. Vielleicht haben die Muslime in Europa der Krim, die auch ein europäisches Land ist, nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Die größte Hilfe, die für die Muslime auf der Krim geleistet werden kann, ist von jetzt an die, dass insbesondere zwischen den Muslimen auf der Krim und denen in Europa eine Brücke geschlagen wird.
IslamiQ: Was für eine Haltung nimmt die internationale Gemeinschaft, insbesondere die islamische Welt angesichts dieser Entwicklung ein?
Ahmet Özay: Eigentlich haben die Krimtürken einen großen Freundeskreis auf der ganzen Welt. Besonders ihre Politik des Pazifismus und Patriotismus, die sie in den letzten 20 Jahren verfolgt haben, hat ihnen auf der ganzen Welt Anerkennung eingebracht. Diese pazifistische Haltung haben die Krimtürken auch dann nicht aufgegeben, als sie 1944, ohne in irgendeiner Weise Gewalt angewendet zu haben, einem Völkermord und der Deportation ausgesetzt waren. In der Türkei kümmert sich insbesondere die Regierung um die Krimtürken.
Solange auf der Krim die Bedingungen von Besatzung und Krieg vorherrschen, ist folgende Frage dringlich: Was können wir unter diesen Bedingungen für die Menschen tun? Wir müssen den Menschen dort schnellstens eine Lebenshoffnung geben. Auf der Krim wurde jetzt die Währung umgestellt und die russische Währung eingeführt. Die Uhrzeit wurde auf Moskauer Zeit umgestellt. Der ukrainische Radio- und Fernsehrundfunk wurde aufgehoben und russisches Fernsehen und Radio haben ihre Arbeit aufgenommen. Das, was die Menschen auf der Krim nun am meisten brauchen ist, dass es einen offenen Kanal der Hoffnung gibt, über den sie ihre Verbindung zur Außenwelt aufrechterhalten können. Die Muslime in Europa stehen hier in der Pflicht.
Der tatarische „Milli Madschlis“ und die Krimtürken waren stets gegen einen Krieg. Weder im Laufe dieser Krise noch davor, oder in der 22-jährigen Vergangenheit ist durch die Hand eines Krimtürken nicht einmal ein Fenster eines Russen oder eines anderen Volkszugehörigen zerbrochen worden. Die europäischen Muslime dürfen sich gegenüber diesen Menschen, die einen so redlichen Existenzkampf führen, nicht gleichgültig zeigen. Sie müssen für sie auf legalem Wege humanitäre Hilfe leisten und ihnen auch mit den Möglichkeiten auf dem Gebiet des internationalen Rechts und der wirtschaftlichen Integration helfen. Es gibt sehr vieles, was auf humanitärem und rechtmäßigem Wege getan werden kann. Es sind immer noch Mittel und Wege vorhanden.