Der österreichische Rechtswissenschaftler und Kirchenrechtler Prof. Dr. Richard Potz erklärt die historischen und systematischen Hintergründe, warum es in Österreich ein Islamgesetz gibt und wieso das Islamgesetz in bestehender Form dringend novelliert werden muss.
Die Frage, wieso es in Österreich ein „Islamgesetz“ gibt und dieses derzeit novelliert werden soll, hat sowohl einen historischen als auch einen systematischen Grund. Der historische Grund war die Eingliederung Bosniens und der Herzegowina in Österreich-Ungarn im Jahr 1908, der systematische Grund ist ein Spezifikum des österreichischen Religionsrechts, wonach die öffentlich-rechtliche Stellung von historisch und gesellschaftlich bedeutsamen Kirchen und Religionsgesellschaften durch spezielle Gesetze geregelt wird.
Mit der Okkupation von Bosnien und Herzegowina (1878) hatte die Habsburger-Monarchie erstmals eine islamische Bevölkerung in ihren Herrschaftsbereich aufgenommen. Damit begann eine explizit den Islam betreffende Religionspolitik, die nach der staatsrechtlichen Eingliederung der beiden Länder in Österreich-Ungarn (1908) entsprechend der österreichischen Tradition zu einem religionsrechtlichen Spezialgesetz für die Muslime im österreichischen Teil der Monarchie führte, zum Islamgesetz 1912.
Mangels einer bestehenden Organisation wurden durch dieses Gesetz in Österreich – und später auch in Ungarn – nur die Anhänger der in Bosnien staatsrechtlich anerkannten hanafitischen Rechtsschule mit Katholiken, Protestanten, Orthodoxen und Juden gleichgestellt. Zur Gründung einer Glaubensgemeinschaft oder einer Religionsgemeinde ist es zunächst jedoch wegen der geringen Anzahl von Gläubigen nicht gekommen. Dementsprechend war das Islamgesetz 1912 vergleichsweise kurz, verwies auf zukünftige Ergänzungen und enthielt daher eine Reihe von sonst notwendigen Bestimmungen noch nicht.
Erst als es seit den 1960er Jahren in Österreich zu einem Zustrom von muslimischen Studenten/-innen, Flüchtlingen, Diplomaten/-innen und Gastarbeitern/-innen kam, wurden die Bemühungen verstärkt, endlich auch eine institutionelle Verankerung der Anerkennung zu erreichen. Am 26. Jänner 1971 hatten Vertreter des „Moslemischen Sozialdienstes“ in Wien ein erstes diesbezügliches Ansuchen gestellt. Nach langen Verhandlungen mit den staatlichen Kultusbehörden war schließlich am 20. April 1979 ein modifizierter Antrag erfolgreich.
Von den religionsrechtlichen Systemen weisen die Kooperationssysteme in Europa die weiteste Verbreitung auf, säkularistische Trennungssysteme und die wenigen noch bestehenden Staatskirchen sind in der Minderheit.
Für die Kooperationssysteme ist es charakteristisch, dass für Religionsgemeinschaften spezifische Rechtsformen vorgesehen sind, in Österreich sind dies die öffentlich-rechtliche Stellung für gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften bzw. eine spezielle privatrechtliche Stellung für „eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften“.
Mit der öffentlich-rechtlichen Stellung ist also das Angebot des Staates zur Kooperation verbunden, was aber auch bedeutet, dass die Religionsgemeinschaften bereit sein müssen, die mit der angestrebten Anerkennung implizit verbundenen Verfassungserwartungen des Staates zu erfüllen. Der religiös neutrale Staat darf von den Religionsgemeinschaften zivilgesellschaftliche Beiträge in Übereinstimmung mit dem durch die Verfassungsordnung gegebenen Grundkonsens erwarten. Kooperationsfelder befinden sich insbesondere im Bildungs- und Erziehungsbereich, bei der Erfüllung der vielfältigen karitativen Aufgaben und bei der Betreuung von Menschen in spezifischen existenziellen Situationen, wie durch Übernahme der Kranken- und Gefangenenseelsorge.
Die österreichische Spezialität, dass für historisch und gesellschaftlich bedeutsame Kirchen und Religionsgesellschaften nicht das allgemeine Anerkennungsrecht gilt, sondern spezielle Gesetze erlassen werden, ermöglicht es, auf die Besonderheiten der einzelnen Rechtsgemeinschaften einzugehen. Das gilt neben der Katholischen Kirche, mit der Konkordate geschlossen werden, für die Evangelische Kirche, die Orthodoxen Kirchen, das Judentum und den Islam. Der Inhalt dieser Gesetze wird mit der betroffenen Religionsgemeinschaft im Wesentlichen wie ein Vertrag ausverhandelt. Derartige Verhandlungen sind seit einigen Monaten mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft im Gange und haben zu einem bislang noch nicht publizierten Entwurf durch das zuständige Ministerium geführt.
Eine Novellierung des nunmehr über 100 Jahre alten Islamgesetzes ist aus vielen Gründen dringend angesagt. Es fehlt an gesetzlichen Regelungen für einige Bereiche, wie sie die anderen Spezialgesetze für anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften kennen, man denke nur an die Kranken-, Militär- und Gefangenenseelsorge, an den Schulbereich und an universitäre Lehre und Forschung. Dieses Novellierungsvorhaben bietet die Gelegenheit, beiden Partnern, dem Staat und den Muslimen in Österreich eine zeitgemäße Regelung für ihre Kooperation an die Hand zu geben.