Europawahl 2014

Martin Schulz: „Sie haben für alles einen Sündenbock, aber keine Lösung“

Martin Schulz glaubt an Europa. Wir sprachen mit dem Spitzenkandidaten der Sozialisten und Sozialdemokraten über die bevorstehende Europawahl 2014, die Wirtschaftskrise, den Rechtsruck, Islamfeindlichkeit und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

22
05
2014
0

Martin Schulz ist deutscher Europa-Politiker (SPD) und seit 1994 im Europäischen Parlament. Seit Januar 2012 ist Schulz Präsident des Europäischen Parlaments. Schulz ist außerdem Spitzenkandidat der Sozialisten und Sozialdemokraten in Europa für die Europawahl 2014. Nach der Wahl will sich Martin Schulz für das Amt des Kommissionspräsidenten bewerben.

Wir sprachen mit dem Spitzenpolitiker über die Europawahl 2014, die Kernanliegen der Sozialisten und Sozialdemokraten in Europa, die Wirtschaftskrise und den damit einhergehenden Rechtsruck in der EU. Gleichzeitig wollten wir von Schulz wissen, was man gegen Islamfeindlichkeit tut und wie er über einen Beitritt der Türkei in die EU denkt.

 

IslamiQ: Herr Schulz, bald stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Welche Kernanliegen der europäischen Sozialisten sollen dazu verhelfen der konservativen Mehrheit im Europäischen Parlament ein Ende zu setzen?

Martin Schulz: Als Sozialisten und Sozialdemokraten möchten wir Gerechtigkeit und Partizipation ins Zentrum der europäischen Politik rücken. Die Politik der letzten fünf Jahre hat das soziale Gefüge auf dem Kontinent ausgehöhlt, indem sie zwischen Menschen, Regionen und Ländern Spaltungen geschaffen und Millionen Europäern Leid und Ungewissheit gebracht hat.

Diejenigen, die für die Rezession gestraft wurden, sind jene, die dafür am wenigsten verantwortlich waren. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, sicherzustellen, dass steuerzahlende Bürger nie wieder für Bankenrettungen Milliarden von Euro bezahlen müssen. Wir werden auf paneuropäischer Ebene einen Kampf gegen Steueroasen und Steuerhinterziehung beginnen, die eben diese Bürger jährlich eine Billionen Euro kosten.

Eine fortschrittliche Mehrheit im Parlament mit einem sozialdemokratischen Kommissionsvorsitzenden an ihrer Seite wird danach streben das Vertrauen aller Bürger Europas zurückzugewinnen und sie zu überzeugen, dass die Antwort auf die Probleme Europas nicht der Ausstieg, sondern das Bestreben nach einem besseren Europa ist.

Der erste Schritt hin zur Rückgewinnung des Vertrauens der Bürger sollte es sein die Erwerbstätigkeit, besonders von Jugendlichen drastisch zu steigern. Wir werden uns darauf konzentrieren das Wachstum zu fördern und hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen, um sicherzustellen, dass alle unsere Bürger an der Wirtschaft teilhaben können. Ein europaweiter Mindestlohn muss eingeführt werden, damit sichergestellt wird, dass jede arbeitende Person im Stande ist von ihrem Gehalt zu leben.

Diese Wahlen könnten nicht bedeutender sein. Mit ihrer Stimme wählen sie nicht nur ihre Repräsentanten im Europäischen Parlament, sondern sie wählen auch ihre Repräsentanten an der Spitze der Europäischen Kommission, welche die allgemeine politische Richtung der EU bestimmen werden.

 

IslamiQ: Bei den ersten europäischen Wahlen 1979 lag die Wahlbeteiligung bei 63 Prozent. Bei den letzten drei Wahlen lag die Wahlbeteiligung nur noch bei ungefähr 45 Prozent. Wie erklären sie diese Entwicklung. Warum kann die Wählerschaft nicht für die europäische Politik begeistert werden? Oder was hat Europa falsch gemacht und welche Gegenmaßnahmen können ergriffen werden?

Martin Schulz: Mitten in einer schrecklichen Krise glaubten die Europäer 2009 nicht, dass ihre Stimme etwas ändern könnte. Wenn Nicht-Wähler im Parlament proportional repräsentiert wären, würden sie eine große Mehrheit innehaben!

Dies ist kein Fehler der Wähler. Menschen lassen sich auf Institutionen ein, die transparent und verständlich sind. Und auf solche, von denen sie glauben, dass sie Veränderungen zum Guten bewirken können. Um die Wähler dazu zu bewegen wählen zu gehen, müssen wir in der Lage sein zu zeigen, dass das Europäische Parlament diese Standards erfüllt. Ein weiterer Grund für die Verdrossenheit einiger Wähler ist der, dass sie nicht glauben, dass das Europäische Parlament die Vielfalt der europäischen Völker und Kulturen widerspiegelt. Die Sozialdemokraten sind eine repräsentative Partei mit Mitgliedern und Kandidaten aus vielen verschiedenen Hintergründen. Dies ist der Grund, warum wir glauben, dass wir die beste Wahl für die Wähler in Europa sind.

Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte entscheiden die Bürger, wer der nächste Vorsitzende der Europäischen Kommission, das nächste Oberhaupt der EU sein wird. Dies ist eine enorme demokratische Chance und ein Grund dafür, warum ich hoffe, dass der Trend zu niedrigen Wahlbeteiligungen im Begriff ist, sich zu ändern. Europäische Parteien und Kandidaten müssen nun ihre Vorstellungen und Grundsätze dem ultimativen Test des Wählerurteils stellen und ich freue mich darauf das Ergebnis zu sehen – Ich vertraue den Europäern.

IslamiQ: Das Bundesverfassungsgericht hat die 3-Prozent-Hürde im Februar abgelehnt. Diese Entscheidung wurde besonders von den rechtsradikalen populistischen Parteien begrüßt. Studien zeigen, dass Rechte Parteien gute Chancen haben in diesen Wahlen ihre Stellung im Parlament zu stärken. Welchen Herausforderungen muss Europa in diesem Zusammenhang entgegentreten?

Martin Schulz: Das Urteil zur 3-Prozent-Hürde hat meines Erachtens den Vorteil, dass in Europa eine größere Diskussion über diese Wahlen ausgelöst wurde. Ich hoffe, dass es nicht mehr extremistischen Parteien das Tor öffnet, aber das Risiko besteht. Wir müssen deshalb alle demokratischen Kräfte mobilisieren und sicherstellen, dass so viele unserer Unterstützer wie möglich zur Wahl gehen.

Ich bin natürlich über den Einfluss, den Extremisten auf den demokratischen Prozess ausüben können, sehr besorgt. Ich kann nachvollziehen, warum einige Europäer desillusioniert sind und verstehe ihren Ärger und ich teile auch ihre Enttäuschung. Aber die Antwort auf die Fehler Europas darf nicht sein, sich zu Parteien dieser Art hingezogen zu fühlen. Wir sind zusammen stärker und können nach dieser Wirtschaftskrise ein besseres Europa errichten, wenn wir uns gegen Hass vereinen.

Ich glaube, dass für Sozialisten und Sozialdemokraten ein gutes Wahlergebnis möglich ist, sodass eine starke Mehrheit im Europäischen Parlament entstehen kann. Damit dies geschieht, müssen unsere Unterstützer, jene die das Rechtsextreme ablehnen, im Mai wählen gehen.

 

IslamiQ: Aktuell leben schätzungsweise 15 bis 20 Millionen Muslime in der Europäischen Union – Tendenz steigend. Andererseits stellen wir auch einen Anstieg islamfeindlicher Einstellungen fest. Zahlreiche Studien zeigen, dass europäische Mitgliedsstaaten im Umgang mit diesem Problem nachlässig sind. Was hat das Europäische Parlament unternommen, um dieses Problem anzugehen und was kann es zukünftig tun?

Martin Schulz: Sozialisten und Sozialdemokraten waren immer sehr lautstark im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung, und dies bleibt auch zentral in unseren Forderungen. Der Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in den letzten fünf Jahren ist eines meiner größten Sorgen. Populistische Parteien in ganz Europa schwimmen auf einer Welle der Negativität und Intoleranz. Sie haben für alles einen Sündenbock, aber keine Lösung. Wir müssen unseren Kernprinzipien treu bleiben: die EU wurde auf Werten, wie Frieden, Toleranz und Menschenrechten errichtet.

Die EU hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um Diskriminierung zu bekämpfen, wie die Richtlinie der Gleichbehandlung ohne Rassenunterscheidungen, die Richtlinie zur Gleichbehandlung am Arbeitsplatz und der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das Europäische Parlament hat wiederholt zur Stärkung des Kampfes gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufgerufen, indem es diese verschiedenen Gesetze verabschiedete.

Wir haben eine Vielzahl an Mitteln im Kampf gegen Diskriminierung und das Europäische Parlament muss sicherstellen, dass diese in vollen Zügen ausgeschöpft werden. Aber wenn wir wirklich etwas verändern möchten, müssen wir die Mentalität der Menschen verändern. Wir müssen akzeptieren, dass wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben und wir sollten die Unterschiede untereinander respektieren. Aber wir müssen auch auf einer einheitlichen Linie sein. Dies bedeutet, dass der Kampf gegen Islamophobie Hand in Hand mit dem Kampf gegen Homophobie, Geschlechterungleichheit, Antisemitismus und allen Formen des Rassismus und der Diskriminierung erfolgen muss. Meine Kommission wäre auf diesem Feld sehr durchsetzungsfähig.

 

IslamiQ: Seit ungefähr einem Jahr ist die Türkei mehr und mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit der Welt, sodass auch die Debatte über die Aufnahme in die EU wieder aufgegriffen wird. Sie haben eine Aufnahme der Türkei in die EU immer befürwortet. Hat sich ihre Einstellung in den letzten Monaten geändert?

Martin Schulz: Wir betrachten die Türkei als wichtigen Partner. Unser Ziel ist es den Dialog und die Aufnahmeverhandlungen aufrechtzuerhalten und die Türkei näher an unsere demokratischen Prinzipien heranzuführen. Die führenden Politiker des Landes sollten die notwendigen Schritte einleiten, um ihr ernsthaftes Bestreben zu zeigen ein modernes europäisches Land mit Respekt für die fundamentalen Werte werden zu wollen.

Es beunruhigt mich zu sehen, dass die türkische Regierung die Grundfreiheiten ihrer Bürger beschränkt, weil dies die Fortführung der Aufnahmeverhandlungen erschwert. Die Aufnahmeverhandlungen werden nur fortgesetzt, wenn die türkische Regierung sich verpflichtet die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, die Rechtsstaatlichkeit und die fundamentalen Freiheiten und Menschenrechte sicherstellt.

Es ist unmöglich vorauszusagen, wann die Türkei ein EU-Mitglied wird. Dies wird vor allem von der Bereitschaft der türkischen Regierung abhängen, ernsthafte Reformen umzusetzen. Ich glaube nicht an eine Suspendierung der Verhandlungen, da uns dies weg vom regelmäßigen Dialog führen wird, den wir brauchen, um Lösungen zu finden.

 

IslamiQ: Während der Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei verfestigte sich für viele türkischstämmige Muslime der Eindruck, dass die Türkei primär wegen ihrer muslimischen Mehrheitsbevölkerung nicht als Mitglied akzeptiert wird. Können Sie diesen Eindruck in Bezug auf die oft kulturell gerechtfertigten Argumente der Konservativen nachvollziehen? Auf welchen Werten basiert Europa Ihrer Meinung nach?

Martin Schulz: Die europäische Identität basiert nicht auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Sie fußt auf Toleranz, Menschenrechten und gegenseitigem Respekt. Die EU hat ebenso viele Religionen, wie sie kulturelle Traditionen, Sprachen oder volkstümliche Bräuche hat.

Ich kämpfe gegen Diskriminierung und Vorurteile gegen jede Gemeinde in Europa und auf der ganzen Welt. Sie können sicher sein, dass unter meiner Führung die Europäische Kommission aufgeschlossener und fortschrittlicher sein wird, als jemals in ihrer Geschichte zuvor. Die gegenwärtigen Barrieren gegen die Aufnahme der Türkei in die EU fußen nicht auf Vorurteilen, sondern auf dem Bedürfnis nach demokratischen Reformen.