Das digitale Zeitalter stellt auch Muslime vor neue Herausforderungen. Soziale Medien haben einen starken Einfluss auf europäische Muslime, schreibt Ilknur Küçük und beschreibt eine Entwicklung weg von bisherigen Identitätsmustern zu neuen Gemeinschaften durch das Netz.
Dem italienischen Wissenschaftler Stefano Allievi zufolge, gibt es eine Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten zum Themenfeld der europäischen Muslime, jedoch nur wenige interdisziplinäre Studien, die aufzeigen, wie solche Gruppen entstehen, sich neu formen und weiterentwickeln. Nach Allievi sollten muslimische Communities, die transnationale Eigenschaften haben als „Muslimische Neo-Communities“ kategorisiert werden. Der Grund dafür ist, dass es sich hierbei um neue, also neo-Gemeinschaften (community) handele, die sich von der klassischen Gemeinschaft unterscheiden würden. Diese Unterscheidung resultiere daraus, dass die zweite Generation der europäischen Muslime in den sozialen Netzwerken aktiv ist. Diese sind explizit religiös, für sie sind ethnische und nationale Eigenschaften nicht mehr identitätsstiftend. ((Stefano Allievi, Jörgen S. Nielsen: Muslim Networks and Transnational Communities in and Across Europe. Chapter One: Islam in the public space: Social networks, media and neo-comminities. S. 4.))
Sie sind somit offen für gegenseitige Veränderung und Beeinflussung. Diese neue Community ist mit ihrer kulturellen und religiösen Prägung ein neuer sozialer Akteur in Europa. Allievi, der die unterschiedlichen Rollen innerhalb dieser Gemeinschaftswerdung und ihre Beziehungen untereinander untersucht hat, sagt, dass diese Gruppen Europa und sich selbst transformieren.
Die Globalisierung und der Konsum von Gütern schreiten mit einer endlosen Geschwindigkeit voran. Nachdem das „Wissen“ ebenso Teil dieser Geschwindigkeit wurde, entstand für die Muslime eine neue soziologische Realität. Diese neue Realität können wir unter zwei Kategorien subsummieren: Als Erstes werden die europäischen Muslime durch den Faktor der Medien verändert beziehungsweise transformiert. Als Zweites existiert ein weiterer Faktor, der zeigt, wie die europäischen Muslime die Medien verändern beziehungsweise beeinflussen.
Die sozialen Medien ermöglichen es, dass sich Menschen aus zahlreichen Gebieten treffen und vernetzen können. Dies ermöglicht, dass man unterschiedliche Lebensentwürfe von Menschen kennenlernt, sodass die Menschen untereinander toleranter werden können. Aus diesem Grund können wir diese neu entstehenden Beziehungen als „transnationalen religiösen Diskurs“ bezeichnen, der die Frage „Was ist ein Muslim?“ immens beeinflusst und andere Bilder von Muslimsein aufzeigt. Nach und nach verblassen in den Begegnungen der Menschen, wie eines amerikanischen Slam-Künstlers, eines englischen Geschäftsmanns, eines pakistanischen Bloggers und eines Schweizer Musikers, die jeweils unterschiedlicher Interessen, Geschmäcker und kultureller Prägungen sind, die ethnischen und nationalen Grenzen.
Aus diesem Grund verändern die sozialen Medien schrittweise die Muslime und ermöglichen ihnen das Gefühl, dass der Islam keine ethnisch-nationale Tradition ist, sondern eine überlegte und gewählte Sammlung von Praktiken. Wenn Menschen in Europa auf arabische, türkische, bosnische, afghanische oder deutsche Muslime treffen, bezeichnet jeweils eine Identität die Nationalität und trennt sie voneinander.
Die sozialen Medien können diese trennscharfen Unterschiede und Grenzen weichzeichnen. Nicht nur, dass durch die sozialen Medien diese Grenzen aufgehoben werden, sondern sie sind mitunter bei der Entstehung der „Muslimischen Neo-Community“ am stärksten beteiligt.
Gleichermaßen haben die sozialen Medien dazu beigetragen, dass muslimische Gemeinschaften und Vereine viel transparenter gegenüber einer misstrauischen Öffentlichkeit sein können. Einst hatten „Außenstehende“ keinen oder einen eingeschränkten Einblick in diese Gemeinschaften. Doch gerade weil heute Projekte und Konferenzen in den sozialen Medien veröffentlicht werden, können sich muslimische Gemeinschaften in die Öffentlichkeit begeben. Sie verwenden somit die Medien als ein Mittel, um die Tabus gegenüber ihnen zu überwinden.
Die Nutzung sozialer Medien durch muslimische Gruppen, außer der Chatgruppen, Postings von Freitagspredigten, Hadithen und Koranversen, kann sicherlich alleine für sich untersucht werden. Daneben gibt es einen Unterschied zwischen der Nutzung von sozialen Medien durch europäische Muslime und Muslimen, die in vorwiegend muslimischen Gesellschaften leben.
Anfang 2013 gab es nach der sexuellen Belästigung einer Journalistin durch den FDP-Politiker Rainer Brüderle einen Hashtag namens „Aufschrei“, der für Aufsehen sorgte und alle Frauen dazu aufrief, die sexuelle Belästigung erfuhren, unter diesem Hashtag zu veröffentlichen. Am 21. Juli 2013 gewann dieser Hashtag in einer Sonderkategorie den Grimme-Online-Preis. ((http://www.grimme-institut.de/html/index.php?id=1667#c10914)) Die Jury argumentierte, dass eine Vielzahl von Frauen durch diesen Hashtag dazu motiviert wurden, ihre persönliche Geschichten zu erzählen. Für eine lange Zeit waren Politik und Medien mit diesem Ereignis, dass bei Twitter seinen Anfang fand, beschäftigt.
Ähnlich wurde Twitter für europäische Muslime als eine neue Plattform verwendet, um von ihren Widrigkeiten als Minderheit zu berichten. Durch Kübra Gümüşay wurde der Hashtag #SchauHin ins Leben gerufen mit der Menschen über persönliche Diskriminierungserfahrungen berichten konnten. Nach Gümüşay zeigt diese Form des Mitteilens nicht nur, dass die Menschen zu Opfern gemacht werden, sondern durch das Mitteilen sich auch ihre Last mindert.
Gerade weil die Massenmedien die Muslime nicht in der „Art wie man selbst möchte“ repräsentieren, ermöglicht und fördert die Nutzung sozialer Medien sich in der Öffentlichkeit artikulieren zu können.
Ein weiterer Vorteil sozialer Medien liegt darin, dass europäische Muslime, insbesondere die Migranten, sich gleichermaßen auf politischer Ebene informieren und partizipieren können. Stellen Sie sich vor, Sie leben als türkischer Staatsbürger im europäischen Ausland, indem Sie sich aber nicht politisch betätigen können, weil dafür die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes nötig ist.
Jedoch drückt sich demokratische Teilhabe nicht nur an der Wahlurne aus. Man hat die Möglichkeit, über die sozialen Medien zu Themen der Diskriminierung Stellung zu beziehen und so die persönliche Meinung in die höchsten Ebenen der Gesellschaft und in die Öffentlichkeit zu transportieren. In dieser Situation wird man sicherlich nicht gefragt, welche Staatsbürgerschaft man hat.