Die Geschichte der Migration und Integration von „Ausländern“ nach Deutschland ist eines voller Missverständnisse. Erol Yildiz wirft einen historischen Blick auf die „ignorierte Einwanderung“ und beschreibt kritisch die aktuelle Situation von Migranten in der Bundesrepublik.
Wie andere europäische Länder ist auch die deutsche Gesellschaft wesentlich durch unterschiedliche Migrationsbewegungen geprägt. Vor allem Stadtentwicklung ohne Migration ist kaum vorstellbar – eine Tatsache, die allerdings bis heute weitgehend ausgeblendet wird. Welche Auswirkungen der Umgang mit Zuwanderern und deren Nachkommen in den vergangenen 50 Jahren nach Beginn der Gastarbeiteranwerbung hatte und wie dadurch ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich und alltäglichen Leben beeinträchtigt wurde, ist inzwischen nicht mehr zu übersehen.
Der Fokus richtet sich dabei auf Bevölkerungsgruppen, die im öffentlichen Diskurs als „fremd“ wahrgenommen werden – Migranten, die in besonderer Weise von Diskriminierung und restriktiver Migrationspolitik betroffen waren und immer noch sind. Im Gegensatz zu Migranten aus Ländern der Europäischen Union erfahren sowohl Flüchtlinge und Migranten aus den sogenannten Drittstaaten als auch ihre Nachkommen, die zum Teil schon in dritter Generation hier leben, nach wie vor Diskriminierung und Ausgrenzung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Ihnen wird oft genug „Fremdheit“ vorgeworfen und sie gelten als die „typischen Ausländer“, als integrationsunwillig, in „Parallelgesellschaften“ organisiert.
Lässt man die letzten Jahrzehnte Revue passieren, kristallisieren sich Phasen heraus, in denen dieses politische Selbstverständnis, dessen Nachwirkungen in unterschiedlichem Ausmaß spürbar sind, auf jeweils spezifische Weise zum Ausdruck kommt.
1) Die erste Phase, die man als die Gastarbeiter-Phase bezeichnen kann, war davon bestimmt, dass die Migranten als zeitlich befristete Arbeitnehmer galten – ein Provisorium, das nach einigen Jahren zunehmend problematisch wurde, sowohl für die betroffenen Gruppen als auch für die Unternehmer, die nicht jährlich einen Teil ihrer angelernten Belegschaft durch neue ersetzen wollten. Obgleich politisch unerwünscht, etablierte sich im Laufe der 1960er Jahre ein organisiertes Migrationssystem. Dies löste in der Öffentlichkeit bald ein soziales Engagement aus, das deutlich von Mitleid bestimmt war. Karitative Institutionen begannen sich zu engagieren und zu spezialisieren. Parallel dazu entwickelte sich eine „Gastarbeiterforschung“, die sich vor allem mit den sozialen und psychischen Folgen des Lebens in der „Fremde“ beschäftigte.
2) Nach der ersten Wirtschaftskrise 1971 wurde ein Anwerbestopp erlassen, der faktisch aber den Einwanderungstrend verfestigte und die bis dahin Angeworbenen dazu motivierte, ihre Familien nach Deutschland zu holen. In der Öffentlichkeit wurden sie infolgedessen nicht mehr als Gastarbeiter, sondern pauschal als „Ausländer“ betrachtet. Häufig war von Integration die Rede, worunter die Eingliederung der betroffenen Bevölkerungsgruppen in eine hiesige Normalität verstanden wurde. Vor allem die Kinder der Gastarbeiter standen diesbezüglich bald im Fokus der Aufmerksamkeit. Die einheimische Norm, die als Maßstab dieser Integration galt, wurde nicht genauer definiert, sondern implizit vorausgesetzt.
3) Ende der 70er Jahre verschlechterte sich im Zuge weiterer Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit die Lage der Gastarbeiter erneut, was wiederum am Wandel des Sprachgebrauchs abzulesen ist. Nun ist zunehmend die Rede von „Fremden“, die aufgrund ihrer Fremdheit nur schwer integrierbar seien. Öffentliche Debatten beschäftigten sich mit der Frage, wie viel „Fremdheit“ die Gesellschaft überhaupt verkraften könne.
4) Im Laufe der 90er Jahre konzentrierte sich die Diskussion dann überwiegend auf die türkischen bzw. muslimischen Bevölkerungsgruppen. Dies ist eine indirekte Folge der Formierung der Europäischen Union, deren Bürger nun in allen Mitgliedsländern schrittweise gleichgestellt werden sollten. Auf diese Weise werden türkische und andere Nicht-EU-Migranten automatisch zu einer Einwandererschicht zweiter Klasse, die im Alltag zunehmend benachteiligt, politisch und medial auf das so genannte „Ausländerproblem“ reduziert wird. Vermehrt wird über Fragen von ethnischer Identität bzw. Ethnizität sowie kulturelle und „mentale“ Unterschiede zur deutschen Identität debattiert. In diesem Zusammenhang entstand der Mythos von Zerrissenheit und Scheitern zwischen zwei Kulturen, der zunehmend in die schulische Bildungsnormalität Einzug hielt. Das „Ausländerproblem“ wurde verstärkt zum Wahlkampfthema. Die konservativen und rechtspopulistischen Parteien gehen mit rassistischen Slogans auf Stimmenfang. Die Lebenslüge der Republik Deutschland, kein Einwanderungsland zu sein, gerät zur Standardfloskel. Dies führt schließlich zu einer doppelten Ethnisierung: einer Fremd-Ethnisierung durch die Einheimischen und einer Selbst-Ethnisierung der Migranten.
Begriffe wie Ghetto oder Parallelgesellschaft haben Konjunktur. Konservative und rechtspopulistische Politiker warnen davor, dass Stadtteile zu türkischen bzw. muslimischen Enklaven verkommen würden und man sich in der eigenen Stadt nicht mehr sicher fühlen könne. Auch die Wissenschaft gerät in den Sog dieser populistischen Politik. Besonders nach dem 11. September 2001 richtet sich der Blick auf religiöse Unterschiede, die als unvereinbare Gegensätze gelten, der Islam gerät unter Generalverdacht und die „Kopftuchdebatte“ flammt wieder auf.
5) Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich allerdings auch immer deutlicher Gegenbewegungen ab, die als eine Folge der vorangegangenen Entwicklungen betrachtet werden können: Die Kinder und Enkelkinder der Gastarbeitergeneration haben – auch unter dem Eindruck der Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern – ein völlig neues Selbstverständnis entwickelt. Diese Jugendlichen und Heranwachsenden sind es leid, ausschließlich als Problemfälle wahrgenommen zu werden.
Die Mehrheit der Gastarbeitergeneration und deren Nachkommen aus den sogenannten Drittstaaten hat bis heute keinen deutschen Pass, unterliegt also den Bestimmungen des Ausländerrechts. Die Europäische Union hat diese Situation zusätzlich verschärft. Durch die EU-Staatsbürgerschaft und das damit verbundene kommunale Wahlrecht für EU-Bürger und durch die Abkommen von Schengen und Dublin wandeln sich die Grenzen Europas praktisch zu Festungsmauern, es entstehen in fast jedem Mitgliedstaat Diskrepanzen zwischen jenen, die Ausländer und Bürger von Nicht-EU-Ländern sind, und jenen, die zwar Ausländer, aber EU-Mitglieder sind. Aufgrund der Rechtslage bilden sich zwei Klassen von Ausländern heraus. Abgesehen von Asylwerbern, die rechtlich und sozial in einer besonders prekären Situation am äußersten Rand der deutschen Gesellschaft zu leben gezwungen sind, gibt es einerseits die ausländischen Bürger aus „Drittstaaten“, von denen viele in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Auf der anderen Seite diejenigen, die durch ihre Zugehörigkeit zu einem EU-Land einen besonderen Status und Privilegien genießen. Portugiesen, Italiener oder Griechen, die nach Deutschland ziehen, erhalten nach sechs Monaten aktives und passives Wahlrecht bei Kommunalwahlen und für das Europäische Parlament. Dagegen können ein Sohn oder eine Tochter türkischer Eltern, die etwa in Köln oder Berlin geboren und aufgewachsen sind, die gleichen Rechte erst nach Beantragung und Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft in Anspruch nehmen.
Diese rechtliche Diskriminierung wirkt sich in verschiedenen Lebensbereichen nachteilig auf die Situation der Betroffenen aus:
Erstens sind sie grundsätzlich aus dem politischen Prozess der repräsentativen Demokratie ausgegrenzt. Sie besitzen weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Zweitens unterscheiden sich dadurch auch die Zugangsrechte zu sozialen Bürgerrechten. So ist für bestimmte Gruppen der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu staatlichen Transferzahlungen eingeschränkt. Die Verfestigung des Aufenthaltsstatus und die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft sind in den meisten Fällen vom Nachweis abhängig, keine staatlichen Transferleistungen in Form von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe zu beziehen.
Drittens sind neben den direkten strukturellen Benachteiligungen auch die mehr oder weniger indirekten psychologischen Wirkungen relevant, die Verunsicherung aufgrund der vielfältigen rechtlichen Rahmenbedingungen. Diese Verunsicherung führte über Jahrzehnte dazu, dass die betroffenen Personen sich möglichst unauffällig verhielten und ihnen zustehende Rechte nicht in Anspruch nahmen.
Auch wenn in den bundespolitischen Integrationsdebatten Arbeitsmigration aus „Drittstaaten“ weiterhin als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird, ist in den Bundesländern bzw. Städten in Deutschland seit einigen Jahren jedoch ansatzweise ein Perspektivenwechsel zu beobachten. Einige Städte wie Frankfurt, Berlin oder Mannheim, um nur drei Beispiele zu nennen, versuchen mit einer neuen Integrations- und Diversitätspolitik auf migrationsbedingte Vielfalt konstruktiv zu reagieren und sie als Potential für Stadtentwicklung und Urbanität zu nutzen. In diesem Zusammenhang wurden Integrationsleitbilder entwickelt, die migrationsbedingte Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen sichtbar machen und zu operationalisieren versuchen. Dennoch ist einschränkend zu bemerken: Auch wenn es sich dabei um Ideen und Maßnahmen handelt, die ausdrücklich emanzipatorische Ziele verfolgen, orientieren sie sich – meist implizit – weiterhin an den alten Integrationsauffassungen und bleiben dadurch im Kern paternalistisch und defizitorientiert.
Wenn die Situation von türkischen oder muslimischen Migrantengruppen diskutiert wird, tauchen im öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren der Begriff „Parallelgesellschaft“ ((Seit Wilhelm Heitmeyer u.a. (1997) in einer Studie über Fundamentalismus und Gewalt unter türkischen Jugendlichen in Deutschland zum ersten Mal den Begriff „Parallelgesellschaft“ verwendeten, führt er praktisch ein Eigenleben. Im medialen und politischen Diskurs wird notorisch vor der Bildung von „Parallelgesellschaften“ gewarnt (siehe dazu kritisch Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2007).)) auf. Dabei geht es meist um Stadtteile, in denen sich mehrheitlich Gastarbeiter und deren Nachkommen niedergelassen haben. Diese Wohnbezirke sind einer öffentlichen Stigmatisierung ausgesetzt und leiden an einem negativen Image, mit dem islamischer Fundamentalismus, wild wuchernde Delinquenz, Kriminalität und Unsicherheit assoziiert werden. In einer solchen Siedlung zu wohnen, bedeutet, in einem abgewerteten Raum zu leben, der als Abstellgleis empfunden wird. In einer vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung durchgeführten Studie mit dem Titel „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ (2009), in der schon wieder die vermeintlich integrationsresistenten Migranten – gemeint sind Türken –, im Mittelpunkt stehen, kommt diese Geisteshaltung deutlich zum Ausdruck. Obwohl der Titel „Ungenutzte Potentiale“ zunächst positive Assoziationen weckt, sieht man sich bei einer genaueren Lektüre mit den allzu bekannten Klischees über Migranten konfrontiert, wie folgende die Ergebnisse der Studie zusammenfassende Passage demonstriert:
„Zwar sind die meisten schon lange im Land, aber ihre Herkunft, oft aus wenig entwickelten Gebieten im Osten der Türkei, wirkt sich bis heute aus: Als einstige Gastarbeiter kamen sie häufig ohne Schul- und Berufsabschluss, und auch die jüngere Generation lässt wenig Bildungsmotivation erkennen […] Ein Nachteil dieser Gruppe ist ihre Größe: Weil es vor allem in Städten so viele sind, fällt es ihnen leicht, unter sich zu bleiben […]. Parallelgesellschaften, die einer Angleichung der Lebensverhältnisse im Wege stehen, sind die Folge“ (S. 7).
Bei dem Begriff „Parallelgesellschaft, der in den oben zitierten Passagen genannt wird, handelt es sich um eine Ideologie, die eine bestimmte Sichtweise auf Migration favorisiert, andere Sichtweisen ausschließt, ignoriert oder marginalisiert. Es fällt auf, dass das Leben in Stadtteilen, in denen mehrheitlich bestimmte Migranten und ökonomisch schwache Gruppen leben, durch seine Abweichung von der „Mehrheitsgesellschaft“ bzw. von der „Mittelschicht“ charakterisiert wird. Sie werden als „desorganisiertes“ soziales Gebilde betrachtet, welches mit Begriffen des Mangels und der Schwäche analysiert werden. Die Begriffe „Mehrheitsgesellschaft“ oder „Mittelschicht“ werden nicht definiert, sondern als implizite Normalität vorausgesetzt. Aus dieser Sicht werden diese Viertel „als Horte versammelter Regellosigkeit, Abweichung und Anomie“, wie Wacquant in Bezug auf amerikanische Ghettos schreibt, betrachtet (1998: 201).
Die massive Stigmatisierung des Wohnorts erschwert die Arbeitssuche und trägt dazu bei, örtliche Arbeitslosigkeit zu verfestigen, denn die Bewohner solcher Viertel erfahren zusätzliches Misstrauen und Zurückhaltung von Arbeitgebern, sobald sie ihren Wohnort, ihre Straße oder Postleitzahl erwähnen. Territoriale Stigmatisierung und Ethnisierung beeinträchtigen nicht nur die Interaktion mit den Arbeitgebern, sondern auch die mit der Polizei, den Gerichten und der Wohlfahrtsbürokratie. Alle Instanzen neigen dazu, ihre Haltung und ihr Vorgehen auf gewisse Muster zu reduzieren, sobald sie es mit Bewohnern eines degradierten Stadtteils zu tun haben. Die doppelt negativ besetzte „Herkunft“ (verrufener Stadtteil, „Ausländer“) löst reflexartig den Verdacht von Devianz aus, wenn nicht sogar direkte Schuldzuweisung. Solche Stadtteile werden in der Öffentlichkeit oft als unsichere, möglichst zu meidende Orte, in Extremfällen auch als no go areas betrachtet.
Solche Stadtviertel sind weitaus besser als ihr Ruf. Sie zeichnen sich durch eine große Dichte von Dienstleitungen, Geschäften, gastronomische Angeboten und informellen und kulturellen Netzwerken aus, eine Art selbstorganisierter Integration. Auf diese Weise haben sie aus der Not eine Tugend gemacht und eine nach der wirtschaftlichen Hochphase der 1970er Jahre drohende bzw. akute Arbeitslosigkeit in ein Erwerbsleben zur Existenzsicherung umgemünzt. Es sind zum Teil gut funktionierende, lebendige Nachbarschaften, in denen sich eine urbane Mischkultur entwickelt hat, die inzwischen sogar Besucher von außen anzieht. So haben die Gastarbeitergeneration und deren Nachkommen durch ihre Präsenz und selbstständige Aktivitäten das Gesicht deutscher Städte geprägt, ihnen neue Impulse und Stadtvierteln eine gewisse Stabilität verliehen.
Die Ergebnisse unserer eigenen Untersuchungen zeigen, dass die Lebenswirklichkeiten von Menschen in diesen stigmatisierten Stadtvierteln und die öffentliche Wahrnehmung zunehmend auseinanderklaffen. Die oben zitierten Interviewpassagen machen eine andere Perspektive auf das Leben in diesen Stadtteilen sichtbar und veranschaulichen, wie Menschen das Leben in ihrem Stadtteil wahrnehmen und sich mit dem negativen Image ihres Lebensraumes auseinandersetzen.
Die negativen Zuschreibungen und defizitorientierte Deutungen gehen dagegen an den Alltagswirklichkeiten vorbei, wirken kontraproduktiv und verstärken eher den negativen Ruf solcher Stadtteile. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn auf einer solchen Grundlage fragwürdige politische Entscheidungen getroffen werden.
Wenn allerdings die territoriale Stigmatisierung nicht aufhört, die Leistungen der Gastarbeitergeneration und deren Nachkommen weiterhin negiert und die strukturellen Barrieren nicht beseitigt werden, wäre es zumindest nachvollziehbar, wenn die Stimmung in solchen Vierteln im Sinne einer selffullfillingprophecy irgendwann umschlägt.
Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.) (2009): Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin.
Bukow, W.-D./Nikodem, C./Schulze, E./Yildiz, E. (Hg.): Was heißt hier Parallelgesellschaft? Wiesbaden.
Heitmeyer, W./Müller, J./Schröder, H. (1997): Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt am Main.
Wacquant, L. J.D. (1998): Drei irreführende Prämissen bei der Untersuchung der amerikanischen Ghettos, in: Heitmeyer, W./Dollase, R./Backes, O. (Hg.): Die Krise der Städte, Frankfurt a.M., S. 194-210.
Yildiz, E. (2013): Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht. Bielefeld.