Wir sprachen mit dem emeritierten Professor für Landes- und Volkskunde, Hartmut Heller, über die Geschichte der „Beutetürken“ in Deutschland. Ihr Schicksal ist auch im Hinblick auf Diskussionen über Integration und Zuwanderung wichtig.
Vor dreihundert Jahren kamen als „Beutetürken” bezeichnete gefangene Türken nach Deutschland. Obwohl ihre genaue Zahl nicht näher bekannt ist, sind sie uns heute durch die sogenannten „Türkentaufen” dennoch ein Begriff. Sie waren schließlich als Türken einem Germanisierungs- und Christianisierungs-Prozess ausgesetzt. Wir sprachen mit dem Historiker und emeritierten Professor für Landes- und Volkskunde, Hartmut Heller, über die Geschichte dieser Türken, die zwischen Assimilation und Integration hin und her wandelte.
IslamiQ: Sie analysieren in Ihren Arbeiten die Geschichte der sogenannten Beutetürken, den Türken, die im 16., 17. und 18. Jahrhundert nach Deutschland und explizit nach Bayern deportiert wurden. Welche Perspektive bietet uns diese historische Recherche über die „Beutetürken” eigentlich für das heutige Zusammenleben in Deutschland?
Hartmut Heller: Solche von mir identifizierte „Beutetürken“ finden sich nicht nur in Bayern, sondern quer durch ganz Deutschland. Sie sind einer von vielen Belegen, dass Deutschland „schon immer“ ein Zuwanderungsland war, die deutsche Bevölkerung also seit jeher Vermischungen aufnahm, zu denen, was bisher ziemlich unbekannt war, überraschenderweise schon früh im 16.-18. Jahrhundert auch türkisch-muslimische Bestandteile gehören.
IslamiQ: Zu den Gründen der Deportierung der Türken aus den Türkenkriegen nennen Sie folgende: “Billige Arbeitskraft”, “Rachelust” und vor allem sagen Sie, dass einige das Gefühl hatten, somit “dem Islam Seelen zu entlassen”. Wie bewerten Sie diese Haltung?
Hartmut Heller: Ich habe diese Motive nicht zu bewerten, sondern nur mit den Augen des Historikers zu benennen. Sie spielten auch nicht nur bei der Deportation türkischer Gefangener in den Kriegen des 16.-18. Jahrhunderts eine Rolle. Solche Verschleppungsaktionen gab es in allen Kriegen der Geschichte. Das Spezifische in unserem Fall aber war, dass hier die Kriegsgegner auf Andersgläubige stießen, so dass sich (neben den üblichen Hoffnungen auf Lösegeld, billige Arbeitssklaven oder auch exotische Trophäen) zusätzlich die Chance ergab, Angehörige der gegnerischen Seite zur eigenen Religion zu bekehren, also dem Christengott oder im umgekehrten Fall Allah gefällig zu sein.
IslamiQ: Glauben Sie, dass die Vergangenheit entscheidend für das Türkenbild der deutschen Gesellschaft ist? Wird der Islam immer noch als “mahometische Blindheit” gesehen?
Hartmut Heller: Das Bild, das die deutsche Gesellschaft von Türken hatte, war nie einseitig feindselig, sondern oft sehr ambivalent. In den sog. „Türkenbüchlein“ des 17./18. Jahrhunderts wurde fast immer auch beschrieben, dass „wir“ manches von diesen Muslimen lernen könnten, z. B. ihr vorbildliches Familienleben. Dass die Deutschen lange große Angst vor den Osmanen hatten, war aber ja durch deren kriegerische Vorstöße auf dem Balkan und bis nach Österreich hinein nur verständlich. In Glaubenssachen jedoch dominiert unter den großen Weltreligionen inzwischen längst gegenseitiger Respekt. Von „mahometischer Blindheit“ würde heute sicher nicht einmal mehr ein fanatischer christlicher Pfarrer reden!
IslamiQ: Wie ist der Wille, den Türken taufen zu lassen entstanden? Warum konnte man sich nicht damit begnügen, dass sie einfache Sklaven waren und ihre eigene Religion ausübten?
Hartmut Heller: Wir müssen sehen, dass das 16.- 18. Jahrhundert eben noch voll vom Ringen um die „richtige Religion“ erfüllt war, daher ja auch die großen Auseinandersetzungen inmitten der Christenheit selbst zwischen Katholiken, Protestanten, Hugenotten und eventuellen Sektierern. Toleranz bildete sich erst mit der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts heraus. Und: Hätte die Gesellschaft des 16.-18.Jahrhundert sich damit begnügt, unsere Beutetürken Muslime im Sklavenstand seinzulassen, wäre ihnen automatisch nach den Regeln der Zeit z. B. eine Heirat, freie Berufswahl und jeglicher sozialer Aufstieg versagt geblieben.
IslamiQ: In Ihren Ausführungen sprechen Sie von “positivem Assimilationsverlauf”. Assimilierung bedeutet doch sich einer neuen Kultur völlig hingeben und die eigene weglassen. Warum “positiv”?
Hartmut Heller: Bedenkt man, dass unter meinem Stichwort „Beutetürken“ damals ja nur eine Splittergruppe ins Land kam, wobei die einzelnen Individuen untereinander fast keinen Kontakt halten konnten, war doch gar nichts anderes möglich als Assimilation. Wie will man denn sonst als völlig vereinsamter Einzelner überleben?
IslamiQ: Die damaligen “Integrationsmerkmale”, wie Sie sie genannt haben, waren Sprache, Taufe, Beruf und Eheschließung. Finden Sie nicht, dass dies eher Assimilierungsmerkmale sind? Muss man sich integrieren oder assimilieren, um sich einheimisch zu fühlen?
Hartmut Heller: Natürlich sind das Assimilierungsmerkmale. Aber noch mal: Wie sonst hätte denn das Überleben dieser Einzelnen in fremder Umgebung gelingen können? Als völlig isolierter Exot??
IslamiQ: Sie sagen, dass “diese Fremden keine bedrohliche Masse [bildeten]”- weswegen es damals keine großen Probleme? In diesem Zusammenhang sagen Sie auch im selben Abschnitt “Exotisches in feiner Dosierung wirkt häufig anziehend; erst das Übermaß erschreckt”? Wie ist das zu deuten?
Hartmut Heller: Sie haben das schon richtig verstanden: Mehrheiten fühlen sich immer bedroht, wenn eine gesellschaftliche Minderheit zahlenmäßig erstarkt und das Gewichtsverhältnis eventuell sogar kippen könnte.
IslamiQ: Wie bewerten Sie die Lage der Nachfahren der Beutetürken? Wie erklärt man ihnen, dass man sie quasi zwangsrekrutiert hat?
Hartmut Heller: Soweit ich heute noch lebende Nachfahren kenne, hat keiner ein Problem damit, dass der Ahn/die Ahnfrau seinerzeit unfreiwillig zwangsdeportiert wurde. Das ist halt ihre historische Ausgangslage. Eher sind sie stolz darauf, insofern eine ungewöhnliche Sondergeschichte mit allen Ingredienzien gelungenen Ein- und Aufstiegs zu verkörpern.
IslamiQ: Was war der Grund für die negative Haltung der Deutschen gegenüber den Türken bzw. dem Islam?
Hartmut Heller: Für früher gilt: Wie hätte man denn die Türken und den Islam positiv sehen sollen, wenn die muslimischen Osmanen als Eroberer gegen das Abendland vorrückten? Unabhängig davon gilt, dass das christliche Abendland bereitwillig manches, was man bei diesen Feinden sah, in die eigene Kultur übernahmen, z. B. Speisen, Musikinstrumente, Blumen und oft dazu auch das entsprechende Fremdwort, z. B. Lack, Kiosk, Kirsche.
Das Gespräch führte Tugrul Kurt