„Menschen mögen feste Strukturen“

Anthropologe: Fasten stärkt die Gemeinschaft

Was hat die WM mit dem Fasten der Muslime im Ramadan zu tun? Warum ist Fasten heutzutage wieder „in“? Ein Gespräch mit dem Anthropologen und Kulturwissenschaftler Gunter Hirschfelder gibt Aufschluss auch über diesen Fragen.

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06
2014
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Nach Ansicht des Anthropologen und Kulturwissenschaftlers Gunther Hirschfelder ist religiöses Fasten „in“. In der heutigen digitalisierten Welt sehnten sich viele danach, Teil einer sozialen Gruppe im realen Leben zu sein, sagte der Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg im Gespräch mit Julia Rathcke (KNA) am Freitag.

Herr Hirschfelder, Essen und Trinken sind Grundlage und Genussmittel für Lebensqualität. Warum fasten Menschen heutzutage?

Hirschfelder: Abgesehen von der persönlichen religiösen Motivation stiftet Fasten Gruppenidentität. Menschen sehnen sich danach, Teil einer Gruppe zu sein. Sie leiden heute immer häufiger unter mangelnder Zugehörigkeit und schwindendem Identitätsgefühl. Die Virtualisierung der Welt führt zum Verlust von realen Kontakten und echtem Sozialleben fernab des Internets.

 

Wieso dann ausgerechnet religiöses Fasten?

Hirschfelder: Die Zugehörigkeit einer sozialen Gruppe ist oft an materielles Kapital gebunden, an Äußerlichkeiten. In Religionen fallen diese Bedingungen weg. Religiöse Gemeinschaften sind deshalb so beliebt, weil sie etwas Neues bieten: Akzeptanz, Geborgenheit und Miteinander. Das spürt man vor allem beim gemeinsamen Fastenbrechen.

 

Also Essen als soziales Phänomen?

Hirschfelder: Vergleichbar mit dem Abendmahl bei Christen steht auch beim Ramadan nicht die Mahlzeit im Vordergrund, sondern die Gemeinschaftlichkeit. Insofern ist Essen eine weniger stoffliche als soziokulturelle Angelegenheit.

 

Macht alleine Essen also unglücklich?

Hirschfelder: Zumindest wird es oft als Defizit empfunden. Das klassische Mittagessen hat in der schnelllebigen Zeit zwar ausgedient, aber immer mehr, vor allem junge Menschen suchen sich neue soziale Kontakte für gemeinsame Koch- und Esserfahrungen.

 

Fasten junge Menschen beziehungsweise Muslime anders als ältere Generationen?

Hirschfelder: Das kann man so nicht beurteilen, das ist sehr individuell. Den Ramadan-Regeln nach sind etwa Alte, Kranke und Reisende vom Fasten weitgehend ausgeschlossen. Das ist alles Auslegungssache. Teilweise wird das sehr streng gehandhabt, teilweise nicht. Nicht wenige junge Muslime fasten tagsüber strikt, gehen aber abends aus und trinken und rauchen. Das ist Merkmal der heutigen Gesellschaft: Sie pflegt parallele Lebensstile.

 

Ist das speziell im Islam so?

Hirschfelder: Nein, das ist genauso bei Christen, da war es vor 50 Jahren auch noch unvorstellbar, dass ein Messdiener morgens in der Kirche und abends im Hip-Hop-Club ist. Bei den «Digital Natives», also allen nach 1985 Geborenen, werden je nach Bedarf verschiedene Lebensstile ausgepackt.

 

Ist Ramadan populärer als früher?

Hirschfelder: Noch in den 1980er Jahren hat er weder in den muslimischen Ländern, noch hierzulande eine allzu große Rolle gespielt. Heute wird er strenger und großflächiger gelebt und viel stärker wahrgenommen.

 

Was ist der Grund?

Hirschfelder: Zum einen erhöht der allgemeine Trend vom Fasten auf Zeit für ein besseres Körperbewusstsein die Akzeptanz und Attraktivität des Themas generell. Zum anderen ist die Islamisierung in den Medien omnipräsent. Die Gesellschaft ist politisch, kulturell und religiös aufgeladen.

 

Gibt es Parallelen von Islam und Christentum? Manche sagen, Muslime freuen sich auf Ramadan, wie Christen auf Weihnachten?

Hirschfelder: Der Vergleich hinkt. Ob sie sich freuen, weiß ich nicht. Aber Menschen brauchen und mögen feste Strukturen, die das Jahr gliedern. Für manche ist es Ramadan, für andere die Fußball-Weltmeisterschaft. (KNA)