Wir sprachen mit dem türkisch-jüdischen Journalisten und Autor Roni Margulies über Rasse, Nation und ethnische Wurzeln. Dabei ging es auch um die Probleme, die durch solche Trennungen und Unterteilungen entstehen können.
Roni Margulies, geb. 1955 in Istanbul, ist ein jüdisch-stämmiger, trotzkistische (marxistische) Ansichten vertretender Journalist, Autor, Dichter und Übersetzer. Denkt man an den Kampf gegen Rassismus, fällt auch immer wieder sein Name. Wir sprachen mit Margulies über Identität, Rassismus und Ethnozentrismus. Außerdem über seine Ansichten zum Nah-Ost-Konflikt und den Staat Israel.
IslamiQ: Wir suchen nicht nach den Vorwänden der ethnozentristischen Denkweise, die nach Ausflüchten beziehungsweise nach Legitimität ringt. Beispielsweise kann sich solch eine Denkart, hinter einem sehr “intellektuellen” Argument wie, “Die Migranten nehmen unsere Arbeitsplätze weg”, verstecken. Ebenso verwenden rechte Parteien, die einen Aufstieg verzeichnen, das Argument, dass der Islam sich in Europa immer weiter ausbreiten würde. Sie berichten in Ihrem Buch namens “Bugün Pazar, Yahudiler Azar” (frei übersetzt: Heute ist Sonntag, die Juden toben), über die vorhandenen Vorurteile gegenüber Juden und ihre historischen Ursprünge. In diesem Sinn, ausgehend von den oben erwähnten Beispielen, möchte ich Sie fragen: Hinter welchen Vorwänden zeigt sich immer die ethnozentrische Perspektive gegenüber Juden?
Roni Margulies: Zunächst einmal denke ich nicht wie Sie, dass diese Perspektive in Europa eine ethnozentristische ist. Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um eine offene Form von Rassismus. Der Rassismus in Europa gegenüber den Juden hat ein ähnliches Fundament wie der Rassismus gegenüber Muslimen.
Zum Beispiel flüchteten Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Juden aus Osteuropa in den Westen, weil der Antisemitismus am häufigsten in den Ländern Osteuropas vorkam. Ein anderes Beispiel wäre England. Anfang der 1900er Jahre war der Osten Londons ein Judenviertel. Damals verwendeten die osteuropäischen Migranten gegenüber den Juden, ähnlich wie heute, eine Sprache, im Sinne von “Sie stehlen unsere Arbeit und überfüllen unsere Unterkünfte.” Dies ist ein Rassismus, der auf wirtschaftlicher Ebene fußt.
Meiner Meinung nach unterschiedet sich der heutige Antisemitismus in Europa nicht viel von dem Rassismus, der gegenüber Muslimen ausgeübt wird, jener ist nur noch viel tiefer verwurzelt. Obwohl Europa in der Vergangenheit keine direkten Berührungspunkte mit dem Islam hatte.
Mit dem Erscheinen des Islams entstand auch der Rassismus gegenüber Muslimen. Mit den Kreuzzügen, mit der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen, der Belagerung Wiens oder der Besetzung des Balkans durch die Osmanen, wird dieser Rassismus immer wieder gestärkt. All diese historischen Vorkommnisse haben in Europa traumatische Spuren hinterlassen.
Bis dato hat ein Europäer, außer im Balkan, kaum Berührungspunkte mit dem Islam gehabt. Die Begegnungen fingen also mit unserer Migration an. Zum ersten Mal leben sie (die Europäer) mit Muslimen zusammen. Zunächst einmal sollte man sich diese Tatsache vor Augen führen und die historischen Ursprünge nicht vergessen.
Im Vergleich zu den Muslimen begegnen Juden, historisch gesehen, einem anderen Rassismus. Beispielweise waren die Berufsverbote, die die Beschäftigung in der Landwirtschaft oder der Industrie (Handwerk) betrafen, kein Thema für Muslime. Vielmehr entspricht die heutige Situation der Muslime den Verhältnissen des frühen Londons der Juden.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen den Muslimen und Juden: Im 19. Jahrhundert sind die Juden in Osteuropa keine Migranten, sondern Einheimische. Im Laufe der Geschichte haben sich Juden nicht assimiliert, obwohl sie ausgeschlossen und dazu gedrängt wurden, von der übrigen Gesellschaft getrennt zu leben. In Westeuropa sieht das Ganze ein wenig anders aus. Mit dem Aufkommen der Aufklärung in Holland, Belgien, England und Frankreich, haben sich Juden stark assimiliert. Dadurch trafen sie nicht mehr auf Ausgrenzung durch die Gesellschaft und haben wie andere auch, ihre persönliche Rolle in der Gesellschaft gefunden.
Aufgrund des späteren Aufkommens des Kapitalismus im 19. Jahrhundert in Osteuropa und dem länger bestehenden feudalen System, wankten durch jene neuen Entwicklungen, die feudalen Strukturen. Für die daraus resultierenden Krisen wurden die Juden, die abseits der übrigen Gesellschaft lebten, beschuldigt. Dies zeigte sich auch in Russland, Polen und in weiteren osteuropäischen Ländern. Juden waren gezwungen separiert zu leben und dadurch war es sehr einfach geworden, sie in Krisenzeiten als Sündenbock hinzustellen.
Durch das Berufsverbot begangen die damaligen Juden als Geldverleiher zu arbeiten, sodass die Juden in Osteuropa sogar dem russischen Zaren Kredite gaben. Wie gesagt, der Grund hierfür war, dass sie gezwungen wurden Geldgeschäfte zu machen. Dadurch wurde ein kleiner Teil von ihnen sehr reich, jedoch blieben die meisten Juden verarmt in den osteuropäischen Dörfern zurück.
Diese Situation ist natürlich schwierig mit der heutigen Situation der Muslime in Beziehung zu setzen. Muslime sind nach Europa immigriert um Arbeit zu finden und damit Arbeiter zu werden. Die Situation ist zwar eine andere, jedoch gibt es Parallelen in den Diskriminierungserfahrungen. Beide Gruppen haben, aufgrund ihrer Ausgrenzung durch die dominierende Gesellschaft, eigene Lebensweisen etabliert. Wenn man Menschen nicht die Möglichkeit gibt, sich als Teil der ganzen Gesellschaft wahrzunehmen, dann folgt daraus, dass sie eigene Arten der Lebensentwürfe hervorbringen. Darüber hinaus werden sich diese ausgeschlossenen Gruppen, bei rassistischen Erfahrungen, vielmehr an ihre Herkunftsidentität klammern. Dies können wir heutzutage in Deutschland beobachten: Der Anteil an nationalistischen und religiösen Türkeistämmigen ist viel höher als in der Türkei selbst.
Dies ist ein typisches Phänomen. Wenn Menschen mit Rassismus konfrontiert werden, ist die Reaktion darauf, sich an die eigene Identität zu heften. In Osteuropa ist dies genauso geschehen. Als sie den Juden, die sie in die Dörfer gezwängt haben, sagten: “Ihr dürft von hier nicht raus,” haben sie einen selbstbestimmten eigenen Lebensstil entwickelt und fortgeführt.
IslamiQ: In der enthnozentristischen Denkweise existiert nur ein sehr enger Rahmen, in dem das “Andere” akzeptiert wird. Was möchten Sie zur “annehmbaren ethnischen Minderheit” sagen?
Roni Margulies: Meiner Meinung nach gibt es so etwas wie “den akzeptierten Juden” oder “den annehmbaren Muslim” nicht. Wir sehen, dass in der Türkei die Juden von Zeit zu Zeit türkisiert wurden. Manche Nicht-Muslime schlucken diesen Frust und sagen: “Wenn ich schon in einem Land lebe in dem mehrheitlich Türken leben, dann werde ich auch ein Türke.”
Also geben sie, mit der Absicht der Türkifizierung der eigenen Identität, dem eigenen Kind einen türkischen Namen. Ich habe dafür zwei markante Beispiele: Das eine ist der Linguist Agop Dilaçar, er war Generalsekretär im Rat für die Türkische Sprache, der in den ersten Jahren nach der Gründung der Türkischen Republik eine wichtige Rolle bei der sprachlichen Anpassung der neuen Republik spielte. Dieser Mann war armenischer Herkunft. Als er verstarb wurde er jedoch im Ersten Türkischen Fernsehen (TRT) als A. Dilaçar, also nicht mit vollem armenischen Namen, angegeben. Das bedeutet, dass seine frühere Identität, trotz seiner Verdienste, nicht “annehmbar“ war.
Ein weiterer wichtiger Name in diesem Zusammenhang ist Munise Tekinalp, die eigentlich Moiz Kohen hieß. Sie hat ein Buch namens “Der Kemalismus” verfasst. Sie gehört zu den Jüdinnen, die Bücher darüber schrieben, dass die jüdische Gemeinde sich assimilieren und sich Türkifzieren müsse. Im hohen Alter merkt sie, das sogar sie keine Akzeptanz erfährt, woraufhin sie die Türkei verlässt und weiter im Ausland lebt. Das bedeutet es gibt kein, “Wenn Du wie ich wirst, also dich Türkifizierst, dann akzeptiere ich Dich,” Verständnis. Es wird davon geredet, als würde solch eine Akzeptanz existieren, der Staat handelt als gäbe es jene Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger, aber akzeptiert wird ein Muslim erst, wenn er nicht lebt wie ein Muslim. Er wird markiert als jemand der sich zwar momentan akzeptabel verhält, jedoch nicht sehr annehmbar ist und deshalb wird dieses notiert und aufgenommen.
IslamiQ: Bedeutet dies, dass man, wie auch immer man sich verhält, keine Akzeptanz erfährt? Und ist es denn somit eine Utopie, dass Menschen unterschiedlicher, ethnischer Herkunft, gesellschaftliche Akzeptanz erfahren?
Roni Margulies: Nein es ist keine Utopie. In Ländern, in denen großbürgerliche Demokratien sehr weit entwickelt sind, findet gesellschaftliche Akzeptanz statt. Nicht wie in der Türkei, in dem das offensichtlichste Problem der Gesellschaft nicht erkannt wird. Beispielsweise wird ein Jude in England nicht mit Argwohn angesehen, denn keinem wird bewusst, dass er ein Jude ist. In bürgerlichen Demokratien ist dies möglich.
Die Türkei ist hingegen sehr spät ein Nationalstaat geworden. Man lebt immer noch im Bewusstsein einer ständigen Bedrohung, die man dafür nutzt, die Basis der Gesellschaft zu festigen. In Ländern, die dieses politische Mittel nutzen und anwenden, ist gesellschaftliche Akzeptanz schwierig zu erreichen.
Nicht das es andere Länder wie zum Beispiel England nicht nutzen, jedoch nicht in diesem Ausmaß wie die Türkei. Es ist völlig klar, dass auch in England Nationalismus und Rassismus existieren. Von Zeit zu Zeit wird auch diese politische Drohgebärde von staatlicher Seite genutzt.
In Deutschland sind es die Muslime und die Türkeistämmigen, in England die ostasiatischen Einwohner und generell werden Migranten missbraucht, um gesellschaftliche Drohungen und Ängste zu schüren. Dies geschieht natürlich nicht offen, weil die öffentliche Meinung eine andere ist.
Meiner Meinung nach konnte in Deutschland der 1930er Jahre keiner ahnen, dass der Faschismus entsteht. Es gibt an dieser Stelle unterschiedliche Stufen, aber schlussendlich kommen gesellschaftliche Veränderungen oft mit der Entstehung beziehungsweise der Gründung eines Nationalstaates.
IslamiQ: Können wir dies also zusammenfassen: “Den engen Rahmen, in dem der “Andere” akzeptiert wird, gibt es überall; aber in der Öffentlichkeit zeigt sich dieser in einer anderen Intensität.
Roni Margulies: Ich denke, dass es zu keiner Zeit von der öffentlichen Meinung abhängig ist. Diese gesellschaftliche Akzeptanz und der Bezugsrahmen werden überall von Staatsseiten gesteuert. Diese werden entweder mit ökonomischen oder gesellschaftlichen Klassen gesetzt.
Aus diesem Grund denke ich nicht, dass der Eurozentrismus etwas mit der menschlichen Natur zu tun hat. Der heutige Rassismus in Europa ist ein gutes Beispiel dafür. Der Staat errichtet nicht genügend Unterkünfte, die Menschen werden obdachlos und verlieren ihre Arbeit. Der Staat wendet ein und versucht die Migranten dadurch auszugrenzen, sodass jene als die Schuldigen gezeigt werden.
Der Staat sagt: “Schaut her, die Migranten kommen, sie bewohnen die Häuser und nehmen euch die Arbeit weg; aus diesem Grund habt ihr keine Arbeit und keine Unterkunft.”
Er sagt aber nicht: “Ihr habt keine Unterkunft, weil ich keine neuen Häuser baue.” Gleichermaßen behauptet der Staat nicht, dass er keine ökonomischen Vorkehrungen getroffen hat und die Bürger arbeitslos werden und die Armen vor den Reichen beschützt werden. Das bedeutet, dass dieser Staat jederzeit auf einen Sündenbock zeigen kann. Das geschieht selbstverständlich bewusst. Wenn die Obdachlosen von der Unfähigkeit des Staates betroffen sind, dann sagen sie nicht: “Was für ein Staat ist es, der unsere Steuern annimmt, aber diese Steuern nicht in Form von Unterkünften und Arbeit an uns zurückgibt?”.
Die Entscheidungsträger werden nicht angegriffen, sondern andere Stellen in der Gesellschaft. Der Rassismus beziehungsweise der Ethnozentrismus hat ein äußerst hohes Klassenbewusstsein geschaffen, das dem Staat und den Entscheidungsträgern in die Karten spielt.
IslamiQ: Im Zweiten Weltkrieg wurden Juden als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Was steckt hinter den Versuchen bestimmte ethnische Gruppen von Geburt an als minderwertig abzustempeln?
Roni Margulies: Mit dem Aufstieg des Kapitalismus haben sich die Begriffe Rasse, Volk (millat) und Nation etabliert. Beispielsweise wird ständig vom Türkentum erzählt, jedoch sind die ersten osmanischen Helden, wie Köse Mihal und Gazi Evrenos Beg, byzantinische Christen. Als Atilla Europa besetzte, waren seine engsten Berater europäische Christen. Zu dieser Zeit existiert kein Verständnis von, “Du bist Byzantiner und ich bin Türke”.
Der Rassismus im Westen ist eines der ältesten Formen und war zunächst gegen farbige Menschen gerichtet.
Dieser materiell orientierte Rassismus begann mit dem Imperialismus der europäischen Länder, sodass man von dieser Form auch vom christlichen Rassismus oder westlichen Rassismus sprechen könnte. Der Kapitalismus ist, wie das Schicksal so will, als Resultat bestimmter historischer und ökonomischer Gründe im nordwestlichen Europa in einem christlichen Gebiet aufgetaucht.
Diese Menschen versklaven und lassen dann andere Menschen aus Afrika auf Baumwollplantagen für sich arbeiten. Diese werden nicht als Menschen behandelt und man entwendet ihnen ihr Hab und Gut. Um diese Art der Ausbeute zu rechtfertigen, sucht man Wege der Legitimation, denn wie jeder Monotheismus verbietet auch das Christentum jegliche Geisteshaltung, die andere Menschen versklavt. Ganz im Gegenteil ist die Nächstenliebe ein Grundelement im Christentum. Aus diesem Grund haben holländische, englische und spanische Sklavenhändler und die Länder, die solche Unternehmungen unterstützten, ihrem Volk zu verstehen gegeben, das diese Versklavung gerecht sei, weil es sich bei den versklavten nicht um Menschen handle.
Farbige Menschen zu versklaven ist dabei eines der Hauptstützen der kapitalistischen Ökonomie, die auf die Frage, warum die Rechte anderer Menschen entzogen werden, antwortet, dass es sich bei den versklavten nicht um richtige Menschen, sondern Nischenwesen, zwischen Affen und Menschen handle.
Heutzutage so etwas zu vernehmen, lässt unsere Haare zu Berge steigen. Aber Fakt ist, dass man im 18. und 19. Jahrhundert, zur Zeit der “ruhmreichen” Zeit des Sklavenhandels, genau dies erzählte.
Um diese Erzählung auch wirklich wissenschaftlich zu untermauern, treten Wissenschaftler hervor, die Schädel abmessen und behaupten das Farbige eigentlich keine richtigen Menschen seien. Die Elemente des heutigen Rassismus gegen Farbige resultieren aus dieser Zeit. Genau dieser Rassismus ist es, der die Menschen auf der Welt in eine Hierarchie einordnete. Manche gezeichneten Schemata des 19. Jahrhunderts sind offensichtlich: An der Spitze steht der weiße Mann. Ihm werden überlegene Eigenschaften zugeordnet. Dahinter folgt eine braune, danach eine gelbe Rasse. Schwarze werden gar nicht den Menschen zugeordnet, sondern eher den Affen nah gestellt, oder als Menschen ohne besondere Eigenschaften erniedrigt. Um ihre rassistischen Theorien zu untermauern, haben diese Wissenschaftler lange Werke verfasst.
IslamiQ: Resultiert also das Verständnis von “ethnisch” anderen Gruppen aus ökonomischen Klassifizierungen. Wie können wir dann die in der Gesellschaft vorherrschenden ethnischen Unterscheidungsambitionen einordnen?
Roni Margulies: Selbstverständlich existiert im Volk eine gewisse Marginalisierung. Beispielsweise existieren in westlichen Gesellschaften gewisse Vorurteile gegenüber Schwarzen. Vielleicht ist man nicht gegen Schwarze, aber ganz häufig ist es so, das man annimmt, das Farbige nicht so weit entwickelt und überlegen wären wie Weiße. Meiner Meinung nach ist solch eine Auffassung immer noch im Westen vertreten. Aber wenn sie so jemanden fragen, warum er das denkt, wird er ihnen keine Antwort geben können. Dies resultiert zumeist daraus, dass gerade solch eine Meinung tief verwurzelte Vorurteile beinhaltet.
Seit 200 Jahren wird in der westlichen Kultur berichtet, dass Schwarze (Farbige) zurückgeblieben wären. Dies hat zur Folge, das Menschen, die in diesen Kulturen geboren und aufwachsen, ohne es zu ahnen, diese Ansichten mitübernehmen.
Das Gleiche gilt auch im Hinblick auf die Muslime. Wenn ein Europäer kein Rassist ist, dann wird er Islamophobie als etwas Falsches ansehen. Seit Muhammad auftauchte existieren in der christlichen Kultur Ambitionen, Muslime als schlecht darzustellen. Sogar bei denen, die Islamophobie als etwas Falsches empfinden, existieren Spuren dieser historischen Diffamierungsaktionen.
IslamiQ: Das bedeutet doch, dass die Menschen eigentlich von Geburt an gegenüber anderen ethnischen Gruppen keinerlei Abscheu empfinden…
Roni Margulies: Ich glaube nicht daran, dass es so etwas in der Geschichte der Menschheit jemals existiert hat. Aus der heutigen Perspektive stellen wir uns vor, dass alles schon so gewesen sei, aber das war keineswegs so! Die Menschheit hat bis vor zehntausend Jahren in Jäger-Sammler Gesellschaften gelebt und dort gab es keine Hierarchie die meinte: “Du bist das, der andere ist jenes.”
Der moderne Mensch taucht etwa vor zweihunderttausend Jahren auf. Die Unterteilung des Menschen in Rassen, Völker und Ethnien ist aber erst ein Phänomen der letzten Tausend Jahre. Diese Periode, in der wir mit allen Überzeugungen und Verortungen leben, ist ein sehr kleiner und neuer Zeitabschnitt des menschlichen Daseins. Aus diesem Grund wäre es falsch davon auszugehen, dass der Mensch sich von Natur aus in ethnische Gruppen unterteilt und das eine gewisse Rivalität innerhalb dieser ethnischen Gruppen herrscht.
IslamiQ: In Zeiten, in denen die Auseinandersetzung zwischen ethnischen Gruppen verstärkt vorkommt, scheint Ihr Ansatz sehr beruhigend zu sein.
Roni Margulies: Sie sollten beruhigt sein, denn Ihr Buch (der Koran) akzeptiert keine ethnischen Unterteilungen. Schauen Sie mal her, der Nationalstaat ist aus diesen Gründen entstanden: Die europäischen König-, Fürsten- und Herzogtümer und die Städte haben sich verstärkt organisiert. Bis ins 18. beziehungsweise ins 19. Jahrhundert existiert so etwas wie der “Franzose” nicht. Staatsrechtlich “Deutsch” zu sein ist etwas sehr neues. Wann erschienen diese neuen Identitäten?
Innerhalb des feudalen Systems wird der Wirtschaftskapitalismus immer dominanter und die Eigentümer dieses Kapitals, in Form des Bürgertums, überwinden langsam das feudale System und erlangen das Bewusstsein, das sie innerhalb eines bestimmten Gebiets Handel betreiben und Steuern sammeln könnten. Weiterhin entwickelt sich die Auffassung, dass wenn in einem bestimmten Gebiet nur eine Sprache gesprochen wird, der Handel umso einfacher möglich ist. Und wenn nur ein Bildungssystem vorherrscht, dann kann man jedem Bürger die Legitimität der eigenen Dominanz durch dieses System erläutern. Aus diesen hier erwähnten Bedürfnissen entsteht langfristig ein Nationalstaat.
Also, der einzige Grund, warum sich Nationalstaaten entwickeln, ist, dass es ein Bedürfnis nach mehr Kapital gibt. Auf dem heutigen Gebiet von Frankreich wurden vor 200 Jahren noch Hunderte von Sprachen gesprochen. Davor gab es barbarische Stämme, die zueinander keinerlei ethnische Zusammengehörigkeit empfanden. Vielmehr handelte es sich dabei um “den anderen Stamm im Wald”. Auch wenn es von Zeit zu Zeit kleine Auseinandersetzungen hinsichtlich ökonomischer Gründe gab, konnte ein “Fremder”, der eine Frau aus jenem Stamm geheiratet hatte, auch Oberhaupt dieses Stammes werden, ohne das er als „Fremder“ markiert wurde. Jedenfalls sind Termini wie Nation, Rasse oder Ethnizität die Ausgeburten einer Bourgeoisie, denn sogar im Osmanischen Reich verstehen sich die Menschen nicht einzig und allein als Türken.
IslamiQ: Sie erzählen davon, dass ihr Gedichtband im Regal für “ausländische Dichter”, steht und dass sie es sehr oft damit zu tun haben, dass Ihnen gesagt wird, wie gut Sie Türkisch sprechen. Was für ein Gefühl ist es, obwohl Sie in İstanbul geboren und türkeistämmig sind, aufgrund eines nicht-türkisch klingenden Namens und einer anderen ethnischen Herkunft, als der “Andere” betrachtet zu werden?
Roni Margulies: Lassen Sie mich zunächst erzählen, wie sehr das Ganze verbreitet ist. Der am meisten verbreitetste Rassismus ist nicht der faschistoide oder der Türkisch-Nationalistische, sondern es ist der Rassismus, der nicht einmal weiß, dass er rassistisch ist. Wenn wir in der Türkei eine breitangelegte öffentliche Befragung durchführen würden, ob Juden die Welt beherrschen würden, dann würde ein sehr hoher Anteil mit “Ja” antworten. Oder wenn wir fragen würden, ob Juden sich gegenseitig unterstützen oder Juden alles für Ihr eigenes Interesse tun würden, dann können wir sicher sein, dass auch hier eine hoher Anteil mit “Ja” antworten wird. Dies ist in meinem Augen Rassismus. Weswegen? Weil so etwas wie “die Juden” gar nicht existiert.
Die Lebenswelten sind sehr unterschiedlich. In der Ukraine gibt es Juden im Dorf, in New York den reichen Banker und in der Türkei in Balat gibt es Juden, die ein Lebensmittelgeschäft führen. Die kulturellen Identitäten dieser Menschen sind völlig unterschiedlich. Denn warum sollte man nicht den muslimischen Freund, den man seit 70 Jahren kennt, sondern irgendeinen anderen Juden unterstützen?
Außerdem weist man mit “den Juden”, unterschiedlichste Menschen zu einer Gruppe zusammen und gibt ihnen gemeinsame Attribute, die aus der gemeinsamen Rasse resultieren würden. Solch eine Zuweisung von Attributen und das Verständnis von homogenen Gruppen ist rassistisch. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich hierbei um positive oder negative Attribute handelt. Einer Ethnie dazuzugehören verleiht dem Menschen keine gemeinsamen Eigenschaften. Der Mensch ist ein Produkt seiner kulturellen Umgebung und nicht seiner Genetik oder Ethnie.
Infolgedessen macht es keinen Unterschied, wenn man sagt, dass alle Juden gut Violine spielen oder, dass alle Juden die Welt beherrschen würden. Beide Aussagen sind rassistisch intentioniert, denn die Ethnie definiert nicht, was für ein Mensch aus ihnen wird.
Sie wissen sicherlich, dass jegliche Genetik des Menschen schon entschlüsselt wurde. Die genetischen Unterschiede innerhalb der sechs Milliarden Menschen ist kleiner, als wenn Sie die genetischen Unterschiede der Nordeuropäer ermitteln und miteinander vergleichen würden. Was soll das mit der Ethnie oder Rasse? Wir sind alle Nachkommen von ca. 500 Menschen, die ursprünglich vom afrikanischen Kontinent kamen. Ist es denn möglich, dass die Hautfarbe oder die Beschaffenheit der Nase etwas darüber aussagen kann, ob man als Mensch geizig oder gut ist?
IslamiQ: Was fühlen Sie dabei, obwohl Sie diese explizite Meinung zu den Begriffen Rasse, Nation und Volk haben, wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie Jude sind?
Roni Margulies: Da gibt es eine Gegenreaktion von mir. Ich bin ein schwieriger Typ, und da ich weiß, dass der Rassismus oder das Judentum gewisse soziologische und historische Gründe haben, versuche ich intelligenter zu reagieren. Wenn mein Gegenüber ein Rassist ist, dann weiß ich, das ich da nichts ändern werde und drehe mich um und gehe fort. Wenn ich sehe, dass ich die Meinung meines Gegenübers ändern kann, dann nehme ich mir Zeit und rede mit dieser Person. Das ist aber nicht das Ende der Fahnenstange. In einem Land mit 70 Millionen Einwohnern, das historisch gesehen Nicht-Muslime unterdrückt hat, ist es natürlich für eine jüdische Hausfrau, einen jüdischen Lebensmittelhändler und einen armenischen Schreiner nicht erfreulich, wenn sie mit rassistischen Aussagen konfrontiert werden. Diese werden sicherlich, an die Historie denkend, sagen: “Wird uns wieder etwas geschehen?”, und sie werden mit Angst in eine ungewisse Zukunft für sich und die eigenen Kinder blicken.
Wenn man solche verbalen Attacken eher politisch betrachten möchte und sich überlegt, was man gegen Rassismus unternehmen kann, dann sind es sicherlich keine Gedanken von einfachen Händlern oder auch keine Argumente dafür, die Angst seiner alten Frau zu nehmen.
Ich glaube, dass meine Art damit umzugehen die beste ist, weil ich davon ausgehe, dass Rassismus keine menschliche Konstante ist und ich dieses Bewusstsein weiter verbreiten möchte. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie mich das Ganze menschlich trifft. Sicherlich haben solcherlei Konfrontation auch Auswirkungen auf meine Person.
IslamiQ: Gehen Sie damit kein bisschen emotional um? Wenn ich beispielweise die Situation der Migranten in Europa betrachte, dann kann ich nicht mit dem nötigen emotionalen Abstand an die Sache herangehen. Es macht mich traurig und ärgerlich, dass jegliche Diskriminierung nur Systemfehler sein sollen.
Roni Margulies: Das ist sicherlich ärgerlich, aber wenn Sie jemand auf einer Demonstration vom Bordstein aus beleidigt, löst dies Wut bei Ihnen aus. Viel ärgerlicher ist es, wenn ein Bekannter etwas “aus Versehen”, in einem Gespräch über “die Juden” von sich gibt. Da wird mir ein erneutes Mal bewusst, dass all dies ein Teil seiner Gedankenwelt ist und in diesem Moment fühlt man sich wirklich hilflos und man fragt sich: “Wenn sogar er so denkt, wie soll ich diese Gesellschaft verändern?”. Dann kommen Sie ins Grübeln: Wenn Sie auf solch eine Aussage hin versuchen etwas zu erläutern, erscheint es so, als wären sie ein Schuldiger, der versucht sich zu verteidigen. Und bei allem Übel wird einem gesagt, das man ja alles nicht so persönlich nehmen solle. All dies geht ihnen dabei durch den Kopf und sie sind wieder der Leidtragende. Denn, derjenige hat ganz offen seine Meinung geäußert und jede Art der Gegenargumentation wird als spielverderberisch aufgefasst.
IslamiQ: Lassen Sie uns an dieser Stelle mit der Denkweise des Ethnozentrismus weiter machen. Ein Mensch, der sich als Teil der “auserwählten und wertvollsten” Gruppe ansieht, kann wenig damit anfangen, das ein Teil dieser Gruppe Fehler machen kann. Eigentlich sind es die Versuche sich in der emotionalen Sicherheit solch einer Gruppe zu wiegen und dies wird durch solch eine Denkweise jedem Protagonisten geboten. Also warum sollte solch eine Person, in eine reflektierende, sich selbstanzweifelnde Denkweise hinübergehen?
Roni Margulies: Genau dies ist der Grund dafür, dass man dieses Gedankenkonstrukt nicht verlässt. In der Türkei hat sich das nach der Ermordung von Hrant Dink gezeigt. Es wurde auf Plakate “Wir sind alle Armenier” geschrieben, um die persönliche Anteilnahme zu zeigen. Es sah so aus, als würde der Völkermord an den Armeniern thematisiert werden. Das nahmen wiederrum manche Menschen als Anlass um Gegenstimmung zu machen, in dem sie sich beschwerten, nicht mehr öffentlich zu ihrem Türkisch-Sein stehen zu können. An dieser Stelle sollte nochmals erwähnt werden, dass von 70 Millionen Einwohnern der Türkei, etwa 69,95 Millionen Türken sind, also was befürchten solche Menschen die Gegenstimmung machen?
Es gibt nur eine kleine Gruppe, deren Blut in der Vergangenheit geflossen ist, die man als Mehrheit und Staat beschützen sollte. Dies ist völliger Mist, wenn die Mehrheit der 70 Millionen Menschen behauptet, sie hätte Angst um ihre kulturelle Identität.
IslamiQ: Ähnelt dieses Angst-Argument nicht denen von Israel, die behaupten, das sie von Arabern umzingelt seien?
Roni Margulies: Ja ganz klar. Es ähnelt eher auch Ihrer Frage von vorhin, warum man die Sicherheit des Ethnozentrismus verlassen sollte. Bei dem Angriff Israels auf den Libanon im Jahre 2006 musste ich an diese Sicherheit denken.
Es wurden Fotos dieses entsetzlichen Angriffs veröffentlicht. Kleine Mädchen standen vor den Raketen, die in den Libanon geschossen werden sollten, worauf eben diese kleinen Mädchen Sätze schrieben wie, “Und das ist von uns!”. Zu dieser Zeit dachte ich daran, warum Eltern ihre Kinder solch etwas Schreckliches machen lassen. Zudem wurde beim Gaza-Angriff von 2009 eine öffentlich angelegte Befragung durchgeführt, ob der Angriff gerechtfertigt sei. Die meisten Befragten Israeliten rechtfertigten diesen Angriff.
Ich habe mich gefragt, wie das sein kann, das man diesen abscheulichen Angriff für berechtigt hält, obwohl der Angriff im Fernsehen tagtäglich zu sehen war. Schulen werden zerstört, die Infrastruktur Gazas wurde dem Erdboden gleichgemacht und trotz alledem gab es eine hohe Zustimmung für den Kampf.
Die israelische Propaganda hatte genau das erreicht, was Sie gerade vorhin erwähnten. Das israelische Volk wurde mit der Angst infiziert, das sie ein klitzekleines Volk von zehn Millionen sind, das von mehreren hundert Millionen feindlichen Arabern umzingelt ist. Diese Behauptung ist nicht falsch, denn in diesem Gebiet leben wirklich viele Araber, jedoch geben die kleineren selbstgebauten Raketen, die ins israelische Gebiet fliegen, immer wieder Anlass zur Behauptung, dass man von Feinden umzingelt sei, die auf die Schwäche des Landes warten, um sie alle ins Meer zu stürzen und sie zu vernichten.
Aus diesem Grund sieht das Volk Israels es als Notwendigkeit an, die eigene Existenz zu sichern, sodass Israel ein Militärstaat ist. Genau dieses Gefühl des bedrohten Volks nutzt der Staat für sich.
Wenn ich auf Ihre Frage zurückkommen darf: Der Staat vermittelt seinem Volk ständig, das es gefährdet ist und das eine Auseinandersetzung um der eigenen Existenz willen notwendig ist. Dieses Bedrohungsgefühl nötigt die Menschen dazu, dass sie sich von ihrer ethnozentrischen und rassistischen Perspektive nicht loslösen können. Marx sagt dazu, dass jede Zeit ihre dominanten Diskurse hat, die wiederum die Ideen der herrschenden Klasse sind. Besonders zu unserer Zeit werden wir nicht mit der Rute der herrschenden Klassen und des Staates geleitet, vielmehr werden unsere Meinungen durch das Bildungssystem und durch die Medienanstalten geprägt und gelenkt.
Beim Rassismus funktioniert das genauso. Die meisten Menschen haben in ihrem persönlichen Leben noch nie etwas mit einem Farbigen (Schwarzen) Menschen zu tun gehabt. Die meisten Menschen in der Türkei kennen persönlich keine Juden und keine Armenier und doch denken sie negativ über sie. Warum ist das so?
Obwohl diese negativen Meinungen nicht Resultate einer soziologischen Analyse sind, sind sie ein Teil des Lebens für diese Menschen, weil es sich dabei um anerzogene “Wahrheiten” handelt. Um aus diesem engen “Wissenskorsett” herauszukommen braucht es eine Menge an Anstrengung. Warum sollen die meisten Menschen diese Anstrengung auf sich nehmen, wenn es nicht ein Bedürfnis innerhalb ihres Lebens stillt?!
Die Kurdenfrage ist in unseren Alltag eingegangen und es wurden wichtige Schritte unternommen, gerade weil die Menschen über dieses gesellschaftliche Problem nachdenken mussten. Sie sahen ein, das Türken und Kurden viele Opfer zählten, und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass Frieden geschlossen werden muss.
Ganz abgesehen davon braucht man nicht seine vorgefertigten Meinungen zu hinterfragen; es reicht wenn man sich fragt: “Ist der Grieche mein Feind?”.
Die Ermordung von Hrant Dink hat die Menschen dazu gebracht nachzudenken und zu Hunderttausenden auf die Straßen zu gehen und Plakate hochzuhalten auf denen “Wir sind alle Armenier” steht. Mit dieser Reaktion haben sicherlich seine Mörder nicht gerechnet. Was ist aber danach geschehen?
Zwanzig Jahre zuvor wurde man dafür bestraft, dass man vom armenischen Genozid sprach und nun konnte man sich ganz offen darüber unterhalten und zahlreiche Menschen in der Türkei haben gesagt, dass es sich dabei wirklich um einen Genozid gehandelt haben muss.
Wenn der Diskurs nicht in den Alltag des Bürgers hineingekommen wäre, dann würde man immer noch denken, dass “der Armenier unser Feind ist und uns von hinten erdolchen möchte.” Denn genau das ist, was der Staat, das Bildungssystem, die Medien und die Gespräche innerhalb des Familienkreises sagen. Erst wenn man anfängt selbst nachzudenken, kann man diese Meinungen hinterfragen und zu anderen Ergebnissen kommen.
IslamiQ: In Ihrem Buch zeigen Sie Ihren persönlichen Blick auf die Juden in Istanbul. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede haben die Juden Istanbuls mit anderen Gruppen.
Roni Margulies: Sicherlich gibt es hier und dort Unterschiede, die aber meiner Meinung nicht aus religiösen Gründen entstehen, das war schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches bekannt. In der osmanischen Knabenlese wurden beispielweise keine jüdischen Knaben entnommen, weil die Ausbildung der Stadtknaben schwieriger war. Schon immer unterschieden sich Stadtbewohner sehr stark von der überwältigenden Mehrheit der Menschen, die in ihrer jüngsten Vergangenheit noch Landbevölkerung waren.
Zum Beispiel ähnelt das Leben einer muslimischen Familie, die schon länger in Istanbul lebt, weitaus mehr einer jüdischen Istanbuler Familie, als anderen jüdischen Familien in Izmir oder Edirne. Lassen Sie mich ein Beispiel aus meinem eigenen Leben geben: Ich stamme aus einer gutbürgerlichen Familie aus Istanbul. Auf den Schulen, die ich besuchte, waren Menschen aus derselben gesellschaftlichen Schicht. Ich habe danach das Abitur auf dem Robert College absolviert und die meisten meiner Freunde waren Kinder aus muslimischen Familien und zwischen uns gab es keinerlei Unterschiede. Wir waren und sind immer noch Teil derselben Kultur. Wir haben die gleichen Sachen unternommen, die gleichen Spiele gespielt, die gleichen Filme angeschaut und die gleichen Bücher gelesen, weil wir Kinder der gleichen Schicht und derselben Stadt waren.
Der einzige Unterschied bei ihnen war, dass das Opferfest gefeiert wurde, jedoch nur in einem kleinen Rahmen und eher bescheiden, weil es Kinder aus kemalistischen Familien waren. Das höchste der Gefühle war, dass man Süßigkeiten aß und Likör trank.
Bei uns zu Hause kochte meine Mutter an bestimmten Feiertagen ein besonderes Essen, auch dies in einem sehr minimalistischen Rahmen, weil meine Familie damals und auch heute nicht sehr religiös ist. Zum Abend gab es beispielsweise Brot ohne Hefe, aber weil ich das nicht sehr mag, aß ich Weißbrot. Das bedeutet, die einzigen Unterschiede in einer Schicht sind innerhalb der religiösen Ebene zu erkennen.
Wenn wir uns hundert Jahre zurückerinnern, hat man in der osmanischen Gesellschaft im Millet-System die Menschen nicht nach ihrer Ethnie, sondern nach ihrer Religion zugeordnet. Gleichsam haben sich diese religiösen Gemeinschaften je nach Geographie unterschieden. So gab es jüdische Straßenbezirke in Balat und Hasköy oder die Armenier in Samatya und Pangalti. Jede Gruppe hatte, wegen der geographischen Trennung, einen anderen Lebensstil gehabt.
Ich vermute, dass die kulturellen Unterschiede viel klarer waren, als es heutzutage der Fall ist, weil die Menschen in Istanbul viel stärker mit einander in Kontakt stehen. Kein Stadtviertel Istanbuls ist ethnisch oder religiös getrennt, das bedeutet, dass eine jüdische Familie, wenn sie nicht sehr religiös ist, nicht anders lebt, als eine muslimische Familie derselben Schicht. Erst wenn sie sehr religiös wären, gäbe es Unterschiede. Diese würden sich allerdings auf den Bereich der Anbetung und der religiösen Inhalte beschränken und im Alltag nicht erscheinen.
IslamiQ: Wie beurteilen Sie die ausweglose Situation zwischen Israel und Palästina? Was denken Sie ist die Lösung für eine Auseinandersetzung, die seit Jahrzenten existiert, tausenden Menschen das Leben gekostet hat und Millionen Menschen dazu gebracht hat in andere Länder zu flüchten?
Roni Margulies: Der Lösungsweg geht über einen laizistisch – demokratischen Staat. Solange Israel ein “jüdischer Staat” bleibt, wird dieses Problem nicht gelöst werden. Und solange die Menschen nicht in die Häuser ihrer palästinensischen Väter und Großväter zurückkehren können, wird es auch keine Lösung geben. Ich denke nicht, dass die Zwei-Staaten-Lösung tatsächlich eine Lösung sein wird. Wir können nicht von Gerechtigkeit sprechen, wenn den Palästinensern nur 27% ihres ursprünglichen Landes zugestanden werden. Warum sollen sie denn mehr als 70% dieses Landes den Israeliten überlassen? Dies ist nicht gerecht und solange wir keine gerechte Lösung haben wird es keine langfristige Lösung geben. Und solange Menschen, die nicht Juden sind, als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, wird der Krieg fortgeführt.
IslamiQ: Aufgrund Ihrer Kritik und solchen Äußerungen gegenüber der Politik Israels werden Sie als “Self-hater” bezeichnet. Was bedeutet diese Bezeichnung und warum werden Sie so genannt?
Roni Margulies: Dies ist eine Bezeichnung die der Zionismus schon zu seinen Anfängen benutzt, wobei ich nicht weiß, was Ihre Leser unter Zionismus verstehen. Der Zionismus ist nicht, wie die meisten Muslime im Nahen Osten verstehen, ein natürlicher Teil des Judentums, sondern es ist eine politische Bewegung. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich diese Bewegung in Europa, deren Ziele und ideologische Ideen bekannt sind.
Diese von Juden initiierte politische Bewegung, deren vordergründlichstes Ziel die Gründung eines eigenen jüdischen Staates war, hat nichts mit der jüdischen Religion, dem Buch (Thora) und Gott gemeinsam. Man versuchte, durch die Gründung eines Staates den Diskriminierungen und Anfeindungen zu entfliehen.
Das Problem des Zionismus ist es, dass sie mit dem Leitsatz, “Für ein Volk ohne Land, ein Land ohne Volk zu suchen”, agierten. Jedoch ist Palästina kein Land ohne Volk, denn diese leben dort. Diese Tatsache war den zionistischen Anführern bekannt, denn so kommen solcherlei Aussagen in den jeweiligen Memoiren zur Erwähnung. Indes werden mit Europa und den Vereinigten Staaten, den führenden imperialistischen Mächten unserer Zeit, geheimere Absprachen getroffen.
Wenn jene behilflich sind, auf palästinensischem Boden einen jüdischen Staat zu errichten, wird genau jener, also Israel, für den Westen und für den Imperialismus, der in diesem Gebiet die ärgsten Feinde hat, den Advokaten spielen. Dies ist auch der Grund dafür, warum der Westen den Staat Israel unterstützt. Diese Zusammenarbeit hat nichts mit dem Judentum oder Christentum zu tun, sondern einzig und allein mit dem Imperialismus.
Das erste Problem ist, dass die Vereinigten Staaten selbstverständlich Israel in einem Gebiet, das sie nicht unter die eigene Kontrolle bringen können, jedoch von den Bodenschätzen profitieren möchten, unterstützen werden.
Es spricht nichts dagegen, dass Menschen beziehungsweise ein Volk das Recht haben seinen eigenen Staat zu gründen. Das zweite Problem ist aber, dass der Zionismus nicht sagt: “Wir haben in Europa Repressalien und als Volk den Genozid erlebt. Erlaubt uns in friedlicher Koexistenz miteinander zu leben.” Nein, der Zionismus spricht davon, dass sie als Volk vor 2000 Jahren schon vorher auf diesem Land waren und die Besetzung dieses Landes ihr zustehendes Recht wäre und das palästinensische Volk verschwinden solle.
Solch eine Moral, Ethik und Recht kann es nicht geben. Das Problem ist nicht, dass Juden auf palästinensischem Boden leben, sondern dass sie alle anderen Nicht-Juden von diesem Land verjagen wollen. Gleichermaßen ist es ein Problem, das jeder Nicht-Jude, als Feind betrachtet wird. Solche Drohgebärden spricht die zionistische Ideologie.
Wenn wir zur Self-hater Sache kommen sollten: Der Zionismus sagt, das jeder Jude ein Israelit ist. Meiner Meinung nach gibt es solch einen Anspruch nicht. Meine (self) Hauptidentität ist es nicht Jude zu sein. Mir ist beispielsweise viel wichtiger Sozialist zu sein. Jüdisch zu sein ist eine Identität von vielen meines Lebens. Ich glaube, wenn ich aufhöre gegen Ungerechtigkeiten anzugehen, erst dann werde ich zu einem “self-hater”.
IslamiQ: Historisch gesehen besteht zwischen Muslimen und Juden keine Feindschaft, sondern sehr enge gesellschaftliche Bindungen. Wiederum bedeutet dies, dass der Antisemitismus und die Islamophobie Phänomene einer neueren und sehr jungen Vergangenheit sind. Wie können wir diese beiden Phänomene, die sich in beiden Gruppen zeigen, überwinden?
Roni Margulies: Ich glaube ebenso nicht, dass es eine frühe Feindschaft zwischen Muslimen und Juden gab. Zumal es für Muslime verboten ist, rassistisch zu sein. Es tut mir leid, aber rassistische Muslime sollten wissen, dass ganz klar im Buch (Koran), der Tribalismus (Stammessystem) verboten ist.
Außerdem lebten die späteren Muslime und Juden, bevor der Islam und das Judentum erschienen, schon früher miteinander. Warum sollten sie verfeindet sein? Von Zeit zu Zeit gab es sicherlich, aus ökonomischen oder kulturellen Gründen, Auseinandersetzungen. Aber jene hatten nichts mit den jeweiligen Religionen zu tun.
Der Antisemitismus in der islamischen Welt, ist etwas neues, der im Jahre 1948 mit der Gründung des Staates Israel beginnt. Abgesehen davon gibt es ein erbärmliches Kapitel zu diesem Thema: Die Motive des Antisemitismus, die in den muslimischen Gebieten genutzt werden, stammen alle ursprünglich vom christlichen Antisemitismus, weil im Islam solch eine feindlich gesinnte Wurzel nicht existiert.
Zu Dutzenden wurden die sogenannten “Protokolle der Weisen von Zion” in der Türkei aufgelegt. Diese sind eigentlich reine Fiktion eines russischen Antisemiten. Trotz alledem werden sie noch heute weltweit in der islamischen Welt verwendet. Zahlreiche Schreckensgeschichten, wie das “vernagelte Fass” oder dass das Blut eines christlichen Kindes zum Pessach getrunken wurde, sind in Türkei bekannt und werden weiterhin erzählt. Jedoch sind diese Schauermärchen eigentlich Produkte des europäisch-christlichen Rassismus. Das ist ja das eigentlich Ironische an dieser Gegebenheit. Solch eine Form von Rassismus gibt es schon sehr lange im Christentum, wobei im Islam solch eine Art des Antisemitismus nicht existiert.
Solange der israelische Staat in seiner jetzigen Form weiter existiert, wird es diese “neuen” antisemitischen Motive unter Muslimen geben. Und da wir es leider nicht schaffen werden Millionen von Arabern zu erläutern, dass nicht das Judentum, sondern der Zionismus und die Politik Israels das Problem sind, werden diese Motive weiterhin bestehen bleiben.
Das Gespräch führte Rahime Söylemez