Islam in Europa

Die nicht enden wollende Minderheitenerfahrung der Muslime

Was haben ein muslimischer Händler im China des 8. Jahrhunderts, eine Muslima im Andalusien des 15. Jahrhunderts und ein muslimischer Jugendlicher im heutigen Deutschland gemeinsam, außer dass sie demselben Glauben angehören? Sie alle leb(t)en als „Minderheit“. Was sie aber unterscheidet, ist, wie sie ihre Situation und ihre Zukunft sehen und ihr Leben gestalten.

26
07
2014

Die eigentliche „Historie“ des Islams beginnt mit der Auswanderung aus Mekka nach Medina, also schon 13 Jahre nach der ersten Offenbarung. Der Gedanke der Hidschra, als Suche nach Möglichkeiten, den Islam frei zu leben und seine Botschaft zu verbreiten, ist tief im islamischen Denken verwurzelt. „Allahs Erde ist weit“, heißt es in einem Koranvers. Daher ist es nicht verwunderlich, dass heute überall auf der Welt, außerhalb der sogenannten „Islamischen Welt“, Muslime leben, unter anderem in Regionen, in denen sie als religiöse Minderheiten gelten.

In Europa leben derzeit rund 50 Millionen Muslime, vielerorts mittlerweile in der vierten Generation. Sie kommen hier zur Welt, besuchen die Schule, studieren, gehen ihrem Beruf nach und werden hier alt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sie diese Länder als ihre „Heimat“ bezeichnen und sich nicht (mehr) als Gäste oder Minderheit sehen. Für die klassische islamische Theologie war und ist die Tatsache, dass Muslime aus „islamischen“ Gebieten in „nichtislamische“ Gebiete ziehen, eine Herausforderung. Maßgebliche muslimische Gelehrte teilten die Welt in zwei Bereiche auf: das „Gebiet des Islams“ (Dâr al-Islam) und das „Gebiet des Unglaubens“ (Dâr al-Kufr) bzw. „Gebiet des Krieges“ (Dâr al-Harb). Der dauerhafte Verbleib von Muslimen oder gar ganzen Gemeinschaften von Muslimen in einer von Nichtmuslimen beherrschten Region war nicht vorgesehen. Dies wurde und wird als vorübergehender Ausnahmefall betrachtet.

Damit gehört die Frage, ob, wie und mit welcher Zukunftsperspektive Muslime in Europa leben können/dürfen, zu den wichtigsten Fragen der europäischen Muslime. Bewusst oder unbewusst schwingt sie überall mit, sei es nun die alltägliche Frage, welche Lebensmittel halal sind und welche nicht oder die Frage, ob die theoretische Frage, wie sich Muslime im europäischen Kontext und im Einklang mit islamischen Prinzipien organisieren sollen.

Eine Frage der Definition

Von den Antworten auf die Frage des Ob und Wie hängt ab, wie Muslime ihre Zukunft gestalten. Die Haltungen der Muslime in diesen Fragen können in drei Gruppen zusammengefasst werden:

Muslime in Europa“ definieren sich als Minderheitengemeinschaft in einer dauerhaften Ausnahmesituation. In diesem Fall ist die Bewahrung der Tradition und der religiösen Identität von sehr großer Bedeutung. Eine langfristige Zukunftsperspektive für die kommenden Generationen und eine Institutionalisierung in Europa ist kaum vorhanden, da nicht notwendig. Es geht mehr um die Deckung unmittelbarer Bedürfnisse. Diese Situation trifft vor allem auf die ersten Generationen der „Gastarbeiter“ in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu.

Europäisierte Muslime“ klammern die Frage der religiösen Minderheit weitestgehend aus. Daher ist auch die Frage der Legitimität muslimischer Präsenz in Europa nicht relevant; sie wird als gegeben betrachtet und muss nicht religiös legitimiert werden. Der einzelne, in der Gesellschaft aufgehende Muslim steht im Mittelpunkt dieses Ansatzes, nicht die Gemeinschaft der Muslime und deren Belange.

Europäische Muslime“ verstehen sich als Gemeinschaft, die sich nicht (mehr) über ihr Minderheitendasein definiert, sich der Mechanismen und Folgen dieses Daseins aber bewusst ist. Für sie ist die muslimische Präsenz in Europa nicht nur eine Wahl, sondern eine aus der Universalität des Islams folgende Verantwortung im Dienste der Umma. Daher steht die Förderung eines islamischen Bewusstseins, die Verwurzelung islamischer Kultur und die Institutionalisierung muslimischen Lebens im Mittelpunkt ihrer Bemühungen. All dies geschieht in einem Bewusstsein für den Lebenskontext, der sowohl Chancen als auch Risiken für die Zukunft der europäischen Muslime birgt.

Angst vor Verlust der Identität

Die Risiken sind es dann auch, die vielen Muslimen Sorgen bereiten. Die Bedenken reichen vom Verlust der praktischen Religiosität oder gar der Religion der kommenden Generationen bis hin zur theoretischen Verwässerung des Islams im Zuge der – meistens dominanten – Säkularisierung europäischer Gesellschaften. Es wird befürchtet, dass das Leben in multikulturellen Gesellschaften zu einer religiösen Vermischung und institutionellen Angleichung des Islams mit anderen Religionen führt. Dies hätte zur Folge, dass die über Jahrhunderte bewahrte „Essenz“ und der „Geist“ des Islams verloren gehen könnte.

Auf der anderen Seite hat das Leben in pluralistischen Gesellschaften auch Vorteile. Schon seit Beginn der Diskussionen um die Präsenz von Muslimen in nichtislamischen Gebieten wurden Ausnahmen erteilt, wenn die freie Ausübung und Verkündung der Religion gewährleistet wird. Dabei stützte man sich auf die Auswanderung nach Abessinien, wo der abessinische Negus den flüchtenden Muslimen Schutz und Freiheit gewährte. Dies ist normalerweise auch in neutralen bzw. säkularen Gesellschaften der Fall, zumindest formell. Muslime können in den meisten Ländern Europas Staatsbürger werden, mit entsprechenden Rechten und Pflichten. Sie können Gemeinschaften bilden, ihren Glauben praktizieren und dafür werben, sie können Schulen errichten und sich politisch betätigen. Selbstverständlich gibt es hier und dort Einschränkungen und Diskriminierungen, gegen die jedoch legal vorgegangen werden kann, was in vielen Teilen der Welt nicht möglich bzw. nicht sinnvoll ist. Folglich sind Freiheitsrechte und Rechtstaatlichkeit Voraussetzungen, um das „Wesen“ des Islams zu bewahren und weiterzugeben.

Minderheitenrecht

Jedenfalls hat die für die klassische Theologie neue Situation von Muslimen, die dauerhaft in nicht-islamischen multireligiösen und multikulturellen Gesellschaften leben, die Entwicklung des umstrittenen Konzeptes des sogenannten „islamischen Minderheitenrechts“ (Fikh al-Akalliyât) begünstigt. Dieses Konzept versucht die besonderen Lebensumstände der Muslime in ihrem aktuellen Kontext zu berücksichtigen den Muslimen in Europa/europäischen Muslimen verschiedene Wege aufzuweisen, um mit Herausforderungen des alltäglichen Lebens umzugehen.

Um auf den eingangs erwähnten Vergleich zurückzukommen: Obwohl zwischen dem muslimischen Jugendlichen im heutigen Deutschland, der Muslima im Andalusien des 15. Jahrhunderts und dem muslimischen Händler im China des 8. Jahrhunderts einige Jahrhunderte und Tausende Kilometer liegen, haben sie – außer ihrem Minderheitendasein – noch etwas gemeinsam. Es ist ihre Aufgabe, ihre Situation als Chance und Prüfung zu verstehen und ihr Bestes zu tun, um dieser Verantwortung gerecht zu werden.

Leserkommentare

memster sagt:
Leider wird der Artikel dem heutigen Stand der islamischen Theologie nicht gerecht. Es kann nicht sein, dass wir heutzutage noch mit überholten Konzepten (dar al-kufr/al-islam) arbeiten. Leider liegt diesem Artikel aber dieses Konzept zugrunde. Deren Anwendung ist höchst problematisch. Wann ist denn ein Land "islamisch" oder eben nicht? Wie siehts z.B. mit der Türkei, Ägypten, Syrien aus? Haben wir nicht auch "türkisierte" ... Jugendliche? Kann die "Essenz" des Glaubens (was auch immer das sein mag) nicht auch in Ägypten oder sonstwo längst "verloren" sein? ... Gesellschaftliche Probleme, Phänomene und Entwicklungen sind in allen Gesellschaften und "Menschengruppen" präsent. Das gilt weder nur für Muslime noch für speziell Europa. Schließlich gilt die "Aufgabe" die "Situation als Chance und Prüfung zu verstehen" für jeden Muslim...
06.08.14
2:29