Islam und Judentum

Vergessene Tage wieder aufleben lassen

Rabbi David Rosen blickt auf die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in Vergangenheit und Gegenwart zurück. Er ruft die Vertreter der Religionen zu einem stärkeren Engagement gegen die „destruktive Ausbeutung ihrer religiösen Zivilisationen“ auf.

09
08
2014

Nur wenige Religionen haben so viel gemeinsam wie der Islam und das Judentum. Im Gegensatz zum Christentum, das sehr stark vom Austausch zwischen der griechischen und hebräischen Kultur beeinflusst ist, blieb das Judentum historisch überwiegend in seiner semitischen Weltanschauung verwurzelt. Es ist dem Islam in seiner grundlegenden religiösen Einstellung, seiner Struktur, der Rechtslehre und Praxis sehr ähnlich. Im Kern der beiden Glaubensrichtungen ist eine ethisch-monotheistische Vorstellung, die sich entschlossen jedem Kompromiss des Grundgedankens der Transzendenz und Einheit Gottes widersetzt. Gott wird als gerecht und barmherzig beschrieben und er offenbarte eine Lebensweise in Übereinstimmung mit diesen Werten zum Wohle der menschlichen Gesellschaft.

Übereinstimmend teilen der Islam und das Judentum den Grundgedanken von Offenbarungsschriften. Auch wenn sie sich über den genauen Text dieser unterscheiden, so teilen der Pentateuch (die Thora) und der Koran viele religiöse Narrative sowie Gebote.

Sie haben zudem übereinstimmend viele andere grundlegende religiöse Konzepte gemeinsam, wie die Belohnung und Bestrafung und der Glaube an einen Tag des Jüngsten Gerichts, an ein Leben nach dem Tod, an das Paradies und die Hölle und an eine künftige Auferstehung. Darüber hinaus weisen die Struktur und Vorgehensweise der religiösen rechtstheoretischen Verhaltenskodizes – der Scharia und der Halacha – auffallende Ähnlichkeiten auf.

Kein Klerus in Judentum und Islam

Sowohl der Islam als auch das Judentum sind wesentliche theokratische Demokratien oder anders ausgedrückt, Meritokratien, aufgrund dessen, dass sie keinen Klerus haben, der Kraft des Weihesakraments vom Rest der Gemeinschaft getrennt ist. Religiöse Autorität ist eine Aufgabe der individuellen Beherrschung der religiösen Quellen, um somit in der Lage zu sein, die Gemeinde in Übereinstimmung mit diesen Lehren zu führen. Während es natürlich viele Unterschiede in ihren konkreten Ausformungen gibt, teilen die beiden Glaubensrichtungen die zentralen Praktiken des Gebets, des Fastens und des Almosenspendens miteinander, sowie Speisevorschriften und Aspekte der rituellen Reinheit. Diese Parallelen sind im orthodoxen Judentum am offensichtlichsten, da die Begegnung mit der Moderne zu neuen Formen der jüdisch-religiösen Identität geführt haben. Die reformierten, progressiven und liberalen Strömungen des Judentums haben einige dieser traditionellen Charakteristika abgeschafft oder neuinterpretiert.

Während der Islam Christen und Juden unter der Kategorie „Völker des Schrift“ mit einem geschützten (wenn auch untergeordneten) Status unter islamischer Autorität zusammenfasst; sah das Judentum traditionell den Islam als eine reinere Form des ethischen Monotheismus an, dass nicht von Konzepten der Inkarnation kompromittiert ist; der Dreifaltigkeit, der Verehrung von Heiligen und dem Gebrauch von Bildnissen.

Restriktiven Bedingungen ausgesetzt

Es gibt verschiedene Ansichten bezüglich des Charakters und Ursprungs der jüdischen Gemeinden, denen der Prophet Muhammad auf der arabischen Halbinsel begegnete. Die koranischen Quellen legen nahe, dass diese entweder nicht orthodoxe, wenn nicht sogar schismatische jüdische Gemeinden waren. Allerdings teilten sie genug von der Botschaft des Propheten Muhammad, so dass dieser annahm, die Juden von Medina würden sich eifrig hinter ihn stellen. Dass sie dies nicht taten, führte nachfolgend zu Zwietracht, Auseinandersetzungen und Feindseligkeiten unter ihnen.

Es ging den Juden unter der muslimischen Herrschaft sicherlich besser als unter der Herrschaft der byzantinischen Christen und wahrscheinlich erging es ihnen auch besser als unter den zoroastrischen Persern. Allerdings wurden den Juden, während sie in der Religionsausübung ohne Beeinträchtigung frei waren, wie bereits erwähnt, eine Reihe restriktiver Bedingungen auferlegt, um ihren untergeordneten Status sicherzustellen, der im Pakt von Umar festgehalten wurden.

Goldenes Zeitalter

Die mittelalterliche islamische Zivilisation erreichte zwischen den Jahren 900 und 1200 ihre produktivste Phase und die jüdische Kultur in der islamischen Welt zog nach. Während dieser Phase wurden einige der größten Werke der jüdischen Philosophie, Grammatik, Rechts- und Sprachwissenschaft sowie Lexikographie verfasst, parallel zu den Fortschritten der islamischen Welt in diesen Gebieten. Die jüdische Poesie in Hebräisch erlebte ebenfalls in dieser Zeit eine Renaissance und ihre Versfüße, Stile und Inhalte entwickelten sich parallel zu denen des Pendants im muslimischen Arabisch.

Nirgends war dies ausgeprägter als in Spanien, wo die jüdische Kultur nebst dem Aufblühen der islamischen und säkularen Wissenschaften und Kultur in der gesamten Region erblühte, die im Arabischen als al-Andalus bekannt ist. Die relativ offene Gesellschaft in al-Andalus wurde aufgehoben und endete schließlich als nordafrikanische Armeen kamen, um bei der Verteidigung gegen die spanischen Christen zu helfen, welche die Muslime aus ihren Festungen aus dem Norden nach Süden drängten. Juden wurden unter den islamistischen Berber Regimen stark eingeschränkt und begannen letztlich in die neu eroberten christlichen Gebiete im Norden zu ziehen. Zu dieser Zeit wurden sie dort besser behandelt.

Islam in der Defensive

Die Umkehrung der glücklichen Fügung der Juden in Spanien spiegelte sich in anderen Teilen der islamischen Welt wider. In diesen begannen die offenen und humanistischen Qualitäten der islamischen Gesellschaft im 13. Jahrhundert einer stärker feudalistischen Mentalität der Unnachgiebigkeit und Kontrolle Platz zu machen, während der Islam in die Defensive ging. Viele jüdische Gemeinden wurden in Ghettos gedrängt und jüdische und christliche Gemeinden wurden an einigen Orten zerstört. Als sich die Lage der islamischen Welt verschlechterte, erging es den jüdischen Gemeinden in dieser ebenso. Die jüdische intellektuelle, kulturelle und religiöse Kreativität tendierte im Allgemeinen dazu, sich mehr in die jüdischen Gemeinden in Europa zu verlagern. ((R. Firestone, “Children of Abraham”, Ktav, 2001))

Nichtsdestotrotz wurden in der Regel die jüdischen Gemeinden, die in der muslimischen Welt verblieben im Allgemeinen beschützt durch die Einhaltung des Paktes des Umar. Solange sie ihren zweitrangigen Status akzeptierten, lebten sie auch friedlich und gemeinsam mit ihren muslimischen Nachbarn.

Religiöse Charakterisierung des heutigen Konflikts

Der Zusammenbruch des Imperialismus und der Aufstieg des modernen Nationalismus führte zu einem Konflikt zwischen den jüdisch nationalistischen Bestrebungen für Selbstbestimmung im Stammland der jüdischen Bevölkerung und dem Kampf für nationale Selbstbestimmung auf der Seite der regionalen und lokalen arabischen Bevölkerung. Dieser territoriale Konflikt entartete in jüngster Zeit zu der zunehmenden Annahme des Charakters eines religiösen Konfliktes.

Während es nicht angestrebt ist die Gründe und Wirkungen, die richtigen und falschen Standpunkte des politischen Konfliktes im Nahen Osten zu analysieren, stammt die zunehmende religiöse Charakterisierung des territorialen Kampfes aus verschiedenen Seiten. Diese präsentieren den Konflikt als Kampf der Kulturen zwischen der muslimischen Welt und der westlich/christlichen Gesellschaft (wobei Extremisten den jeweils anderen den moralischen Charakter absprechen und diese ohne religiöse Legitimation präsentieren. Israel und die Juden werden insbesondere als feindlicher „Brückenkopf“ in der arabischen Welt und in der muslimischen Welt im Allgemeinen porträtiert).

Kein Kampf der Kulturen

Die Wahrheit ist jedoch, dass wir keinen Kampf der Kulturen erleben, sondern einen Kampf innerhalb der Kulturen. Es ist ein Kampf zwischen jenen Elementen der religiösen Kultur, deren Wahrnehmung der historischen Ungerechtigkeiten und Demütigungen zu einer Verfremdung und zu einem Kampf innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften führen, ebenso wie gegenüber jenen außerhalb ihrer eigenen religiösen Kultur. Zudem gegenüber jenen, die danach streben andere Gesellschaften konstruktiv als Teil der Weltkultur zu verpflichten, um ein positives Zusammenwirken mit der Moderne zu gewährleisten.

Dieser „Kampf innerhalb der Kulturen“ hat zur Folge, dass während religiöse Extremisten der verschiedenen Traditionen und Kulturen (fast immer unwissentlich) ein wesentlicher Bestandteil der „Verschwörung des Kampfes“ sind, die aufgeklärten Kräfte der Religion innerhalb dieser Traditionen die Verantwortung haben, zusammen zu arbeiten. Nicht nur, um größer zu sein als die Summe ihrer eigenen verschiedenen Teile, sondern auch um die wesentliche alternative Aussage zu unterstützen – z.B. jene der interreligiösen Kooperation und des gegenseitigen Respektes. Insbesondere muslimische und jüdische Führer haben die Pflicht gegenüber ihrer eigenen Gemeinden und Glaubenstraditionen, der destruktiven Ausbeutung ihrer religiösen Zivilisationen entgegenzuwirken und sich von jenen vergangenen Beispielen der glanzvollen Kooperation und Zusammenarbeit unter den Kindern Abrahams – den Muslimen, Christen und Juden – leiten zu lassen. Zum Wohle aller.

Leserkommentare

Szenon sagt:
Der französische Philosoph Louis Cattiaux (1904-1953) in “Die Wiedergefunde Botschaft” (Verlag Herder, Basel, 2010, S.12): «Die Religionen bekämpfen sich, wenn Gott schlecht gedient und schlecht geliebt wird.»
15.03.15
11:40