Im Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza gehen wir dem Thema „Islamische Philosophie“ nach und sprechen über Theologie, Gottesbild, Erkenntnis und Sinn des Lebens.
Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos. Dort arbeitet er zum jüdisch-muslimischen Dialog und zur islamischen Philosophie im Bezug auf Toleranz und Dialog. Kürzlich erschien sein Buch „Islam. Eine philosophische Einführung und mehr …“. Wir sprachen mit Herrn Murtaza über die „islamische Philosophie“, über Theologie, über Gottesvorstellungen und Gottesbeweise sowie über die zukünftige Verortung einer „islamischen Philosophie“.
IslamiQ: Sehr geehrter Herr Murtaza, man hört immer wieder von einer „islamischen Philosophie“. Womit sich diese? Worin unterscheidet sie sich von herkömmlichen philosophischen Strömungen? Und worin unterscheidet sie sich von anderen islamisch-theologischen Disziplinen?
Muhammad Sameer Murtaza: Allgemein ist die Philosophie eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alles zu hinterfragen. Der griechische Philosoph Sokrates hat dies einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Nur das geprüfte Leben ist es wert, gelebt zu werden.“ Das eigene Leben zu prüfen bedeutet radikal das bisher Für-selbstverständlich-gehaltene in Frage zu stellen. Die erste Erkenntnis auf diesem Weg lautet nach Sokrates: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Philosophie ist nichts statisches, sondern gleicht einer Reise, um ein Wissen zu erlangen, dass Gewissheit ist. Wissen ist etwas anderes als das bloße Meinen oder Vermuten, sondern Erstens das Erkennen eines Gegenstandes hinsichtlich seines Daseins, seines Seinsgrundes und seiner Begründungszusammenhänge, sowie Zweitens das Entlarven des Scheinwissens. Dies macht die Philosophie zur wichtigsten Wissenschaft überhaupt. Aber eine allgemein anerkannte Lehre, Methode oder gar verbindliche Lehrbücher gibt es nicht. So viele Philosophen es gibt, so viele unterschiedliche Methoden gibt es.
Islamische Philosophie nun bezeichnet ein Denken, dass in unterschiedlichsten Grade von der islamischen Religion mitgeprägt ist und in einem Verhältnis zur Offenbarung steht. Wir haben es also wie auch im kalam und im fiqh mit einem Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung zu tun. Wem gebührt das Primat? Wie weit darf die Vernunft es sich erlauben, die Offenbarung zu interpretieren? Drei Wege haben sich hierbei in der islamischen Philosophie herausgebildet:
– Die Philosophie ist eine Dienerin der Religion, d. h. aufgrund der Erkenntnisgrenzen unserer Vernunft ist es für den Menschen nicht zulässig al-ghaib zu interpretieren. Die Vernunft ist menschlich, endlich, gebunden an diesen Lebenshorizont, den wir nun einmal nicht übersteigen können. Zugleich hat Gott in der Offenbarung nur das für den Menschen geregelt, was Er für ihn zu regeln als notwendig erachtet hat. Es gibt also einen großen Bereich des Lebens, zu dem die Offenbarung schweigt. Dieses Schweigen stellt keine Nachlässigkeit Gottes dar, sondern den göttlichen Willen, dass der Mensch sein geistiges Potential nutzen soll. Der Mensch benötigt demnach beides: die Offenbarung und die Philosophie, um seiner Rolle als Mensch, wie sie im Qur‘an(2:30)formuliert wird, gerecht zu werden.
– Die Vernunft steht höher als die Religion. Hier herrscht die Vorstellung vor, dass Religion und Philosophie zwar zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen, jedoch würde sich die Religion in einer primitiveren, leichter verständlicheren, bildlichen Sprache ausdrücken, die die Masse anspreche. Wir haben es hier also mit einer sehr elitären Sichtweise zu tun.
– Der dritte Entwurf islamischer Philosophie setzt diese diametral zur Religion. Auch eine Philosophie dieser Art kann noch islamisch genannt werden, da sie unter dem Einfluss und dem geistigen Klima des Islam entstanden ist und sich mit dieser Religion, wenn auch negativ, auseinandersetzt.
Ich selber sehe mich in der ersten Strömung verortet.
Im Weiteren beherbergt die islamische Philosophie folgende Disziplinen: Erkenntniskritik, Logik, Sprachphilosophie, Metaphysik, philosophische Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Ontologie, Ethik, politische Philosophie, Rechtsphilosophie usw.
Zu Ihrer dritten Frage hinsichtlich der Abgrenzung der islamischen Philosophie von der islamischen Theologie müssen wir uns mit der Antwort noch etwas gedulden. Eine islamische Theologie gab es nämlich bisher nicht. Theologie ist die zentrale Wissenschaft unserer Schwesterreligion, dem Christentum und dies hat enorme Auswirkungen gehabt auf die Ausgestaltung dieser Religion. Die Theologie ist die Betrachtung über die Natur und das Wesen Gottes. Es ist also eine abstrakte Wissenschaft ohne direkte Praxisrelevanz. Im Lichte der philosophischen Erkenntniskritik ist sie sogar eine höchst spekulative Wissenschaft. Weder das Judentum noch der Islam, beides handlungsorientierte Religionen, kennen in diesem Sinne eine Theologie. Die spannende Frage lautet also, wenn wir Muslime des Abendlandes nun einen Paradigmenwechsel vornehmen und die bisherige Königsdisziplin islamischer Wissenschaften, den fiqh, gegen die Theologie austauschen, welche Auswirkungen wird dies auf die Realisierung des Islam haben? Natürlich kennen wir im Islam den kalam, aber dieser kann nicht mit der christlichen Theologie 1:1 gesetzt werden. Die Mutakallimun waren Dialektiker, die im Diskurs und im Dialog die Glaubenswahrheiten verteidigten. Einzig die kalam-Schule der Mu’tazila war bestrebt, theologische Fragen rational zu beantworten. Die Religion sollte im Einklang mit der Vernunft stehen. Auch hier: ein Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Offenbarungstext. Die Mu’taziliten gaben schließlich der Vernunft das Primat. Das Denken über Gott wurde nicht von der Offenbarung, sondern von der Vernunft diktiert, was schließlich zu einer blutleeren, abstrakten, unendlich fernen und kalten Vorstellung von Gott führte. Dies wiederum stärkte die Verbreitung des Sufismus, dem wir es zu verdanken haben, dass sich diese Vorstellung von Gott nicht durchgesetzt hat. Um also zu Ihrer Ursprungsfrage zurückzukommen: die islamische Theologie ist eine neue Wissenschaft, die erst einmal zu einer Selbstdefinition gelangen muss. Und schließlich muss unter Berücksichtigung, was die Auswirkungen eines solchen wissenschaftlichen Paradigmenwechsels für den Islam sind, auch die muslimische Gemeinschaft ein Mitspracherecht gegeben werden, ob sie denn diesen Paradigmenwechsel gutheißt.
IslamiQ: In Ihrem Buch „Eine philosophische Einführung und mehr…“ widmen Sie sich auch der Frage nach dem Gottesverständnis im Islam. Wie ist der Dualismus zwischen der Vorstellung eines liebenden/ barmherzigen und zugleich eines strengen/strafenden Schöpfers zu verstehen? Wie sind diese Gegensätze miteinander zu vereinbaren? Wie kann man als Muslim an einen barmherzigen Gott glauben, wo doch die Welt von so viel Leid und Übel übersät ist?
Muhammad Sameer Murtaza: Wie ich es auch in meinem Buch tue, würde ich zunächst einmal Ihre Frage zurückstellen und Sie fragen: „Was können wir wissen?“ Wir haben hier nun nicht den Platz, um diesen langen Exkurs auszuformulieren, der ja die ersten 60 Seiten in dem Buch einnehmen, aber nach einer Achterbahnfahrt des Denkens, bei der es einem heiß und kalt wird, können wir es drehen und wenden, wie wir wollen: Wir können von Gott nur das wissen, was Er uns mitgeteilt hat. Alles andere ist Spekulation und kann sehr leicht in ein Scheinwissen münden. Jetzt würden wir uns dann Ihrer Frage widmen und uns in denkerischer Neugierde auf Ihre Begrifflichkeiten stürzen, und da stolpere ich bereits bei dem Wort „Dualismus“. Gehört denn der Dualismus, wie wir ihn aus dem Zoroastrismus und der christlich-platonischen Lehre kennen, zur islamischen Weltanschauung? Die islamische Anschauung der Welt ist geprägt durch die Lehre vom tauhid, der Einheit und Einzigkeit Gottes. Insofern beinhaltet die Frage bereits einen Fehler und kann zu keiner richtigen Antwort führen. An einem ähnlichen Denkfehler ist ja auch die oberflächige Barmherzigkeitstheologie des Kollegen Khorchide gestolpert. Betrachten wir die Aspekte Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Strafe aus Sicht der islamischen Weltanschauung, so ergibt sich hier kein Widerspruch. Sondern die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit wirken gemeinsam, um die Schöpfung zu bewahren. Hieraus resultiert dann die aus der Gerechtigkeit entstandene Strafe:
(…) Er sprach: „Meine Strafe, Ich treffe mit ihr, wen Ich will. Und meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge. (…) (7:156)
Verkünde meinen Dienern, dass Ich wirklich der Verzeihende, der Barmherzige bin und dass Meine Strafe eine schmerzliche Strafe ist. (15:49-50)
Die Strafe ist ein Aspekt der Barmherzigkeit, denn der Mensch wird nicht ausgelöscht, er stirbt nicht in das Nichts hinein, sondern wird durch die Strafe im Sinne des Ordnungsprinzips der Gerechtigkeit geläutert, ein Umstand, der nach der Offenbarung auch den Bestraften einsichtig ist:
Und die Gefährten des Paradieses werden den Gefährten des Feuers zurufen. „Nun habe wir, was unser Herr uns verheißen hat, als wahr angetroffen. Habt ihr auch, was euer Herr euch verhieß wahr gefunden?“ Sie werden antworten: „Jawohl!“ (…) (7:44)
Ich bin der Überzeugung, dass heute so viele Menschen den Aspekt von Gottes Gerechtigkeit deshalb ausblenden möchten, weil in Folge unseres Wohlstandes die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem kleinsten Schmerz, dermaßen groß geworden ist, dass man gar nicht mehr anders will, als an eine Religion der reinen Liebe und Verzeihung zu glauben. Aber dies ist dann etwas anderes als der Islam, der konstatiert, dass Schmerz ein Bestandteil des Lebens, so wie Gott es erschaffen hat, ist. Siehe Sure 2, Vers 214.
Dies führt dann auch zu Ihrer zweiten Frage, wie man an einen barmherzigen Gott glauben könne, wenn es so viel Leid in der Welt gibt. Zunächst einmal eine Feststellung: Die Frage der Theodizee, also der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der von Ihm erschaffenen Welt, ist untypisch für das islamische Denken. Sicherlich wurde sie in der islamischen Ideengeschichte hier und da mal aufgeworfen, aber eben nur am Rande. Grundsätzlich klagte man Gott nicht für das Erschaffen des Bösen an und man marginalisierte das Böse auch nicht, sondern man stellte es in seinen dunkelsten Farben dar. Statt sich nun abstrakt mit der Frage der Theodizee auseinanderzusetzen, was letztlich ein Glasperlenspiel ist, gab Gott im Qur’an den Muslimen eine lebensnahe und lebenspraktische Antwort: sabr, Standhaftigkeit. Das ist die Antwort des Islam auf das Böse. Das Leid ist eine Herausforderung an jeden Gläubigen, entweder zerbricht er daran oder er überwindet es im sabr. Wenn wir nun aber Theologie betreiben wollen, wenn wir die Frage der Theodizee intellektuell beantworten wollen, wenn Gott sich uns Rechtfertigen soll, weshalb er die Welt so und nicht so erschaffen hat, dann sollten wir uns bewusst sein, was wir da tun. Der Mensch maßt sich an, Gott zu verstehen und somit Gott zu befragen, im Grunde anzuklagen. Aber Gott ist es selbst, der befragt, der richtet. Er gibt nicht Rechenschaft, er fordert Rechenschaft. Gott ist eben nicht der einklagbare, gleichberechtigte Partner, sondern der Schöpfer und Herr des Menschen. Ich glaube, dass wir dies im Zuge einer Verniedlichung Gottes, wie sie eben der Theologe Khorchide betreibt, vergessen haben. Die Gefahr bei einer Theologie solcher Machart ist jedoch stets, Ihn gefügig, harmlos, handzahm und anspruchslos machen zu wollen, indem alle für den Menschen dunklen, nicht verstehbaren, nicht nachvollziehbaren und unangenehm fordernden Züge ignoriert werden. Mein eigenes Buch ist daher ja auch der Gegenentwurf zu den Thesen Khorchides. Meine Absicht war es daran zu erinnern, dass wir im Zuge einer Verniedlichung Gottes, Ihn vermenschlicht haben. Doch Gott bleibt für uns der unerkennbare, der absolut Andere. Das Leid in der Welt ist kein Zeichen für Seine Abwesenheit. Das Leid ist vielmehr ein Ort der Prüfung, ein Ort, wo der Mensch meint, er sei von Gott verlassen, aber vielmehr ist es ein Ort, wo er Gott begegnen kann. Weiter ist das Leid ein Ort, der ein Stimulanz, ein Reiz, für das menschliche Handeln werden kann. Nicht umsonst hat Rumi dreimal hintereinander gesagt: „Suche den Schmerz.“ Die Frage des Philosophen Leibniz, ob Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen habe, stellt sich nicht für den Islam. Stattdessen ist es die Aufgabe des Muslims als Gottes Statthalter auf Erden, die beste aller möglichen Welten herzustellen. Ein Gedanke, der in der Dichtung des Philosophen Muhammad Iqbal immer wieder zum Vorschein kommt. Es liegt in unserer Hand, ob diese Welt ein Paradies oder eine Hölle ist. Ausschwitz war kein Akt Gottes, sondern Menschen haben Menschen getötet. Nicht Gott ist nach dem Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen, zu befragen, sondern wir Menschen müssen feststellen, dass bei allem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, der Ölfilm der Zivilisation ein dünner ist, und darunter sind wir immer noch Abkömmlinge Kains. Es wird also Zeit, dass wir uns auch als Menschen weiter entwickeln. Und hier kommen dann wieder die Philosophen ins Spiel, deren Aufgabe Nietzsche zufolge, ja die Erziehung der Menschheit ist.
Die Theodizee ist nur unser Versuch, unsere Schuld auf Gott abzuwälzen. Bei konsequentem Betreiben führt dieses Denken in seinem weiteren Verlauf schließlich und unüberwindbar zur Aufhebung der eigenen Prämisse: nämlich der Existenz Gottes.
IslamiQ: Welche Validität weisen die durch Philosophen, namhaft durch Immanuel Kant konzipierten Gottesbeweise auf?
Muhammad Sameer Murtaza: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat keine Gottesbeweise aufgestellt, sondern er hat alle bisherigen Gottesbeweise zertrümmert. Dies stellt auch uns europäische Muslime vor der Herausforderung, wie wir heute die Menschen zu unserer Religion einladen wollen. Aber eins nach dem anderen.
Der kosmologische Beweis (Wirkursache – dem Möglichen und Notwendig-Seienden – der Bewegung und dem unbewegten Beweger) sieht die Welt als Folge einer Serie voneinander abhängiger Folgen, die in einer Ursache-Wirkung-Beziehung zueinander stehen. Schließlich wird diktiert, dass ein unendlicher Rückschluss nicht möglich sei. Die Reihe wird folglich an einem bestimmten Punkt für beendet erklärt durch eine unverursachte erste Ursache. Hierdurch wird jedoch das Gesetz der Verursachung, auf das sich das ganze Argument gründet, außer Kraft gesetzt. Weiter wird einer endlichen Kette illegitim eine unendliche nichtimmanente Ursache vorangestellt (x6 <- x5 <- x4 <- x3 <- x2 <- x1 <- y). Ein weiterer großer Denkfehler, der diesem „Gottesbeweis“ zugrunde liegt, ist die unberechtigte Schlussfolgerung, dass y mit dem Gott der prophetisch-semitischen Religionen identifiziert wird. Bei y könnte es sich genauso gut, um eine kosmische Kraft oder gar dem Zufall handeln. Aber letztendlich sind es die Unsicherheiten des beobachteten Prinzips von Ursache und Wirkung, die das kosmologische Argument hinfällig werden lassen, denn ein Kausalvorgang besteht aus drei Teilen: (1) einer Ursache, (2) einer Wirkung und (3) einer Kraft, die von einem Ereignis auf das andere wirkt, so dass wir gewiss sein können, dass die zweite Begebenheit auf der ersten beruht. Aber weder können wir Gott als Ursache, noch können wir Seine Kraft wahrnehmen. Der Analogieschluss ist also willkürlich und dem „Beweis“ eines Atheisten, dass die Welt auf Zufall beruhe, nicht überlegen.
Ebenso kritisch muss der teleologische Gottesbeweis, demnach das Universum aufgrund seiner makellosen Ordnung eine Bestätigung für einen allmächtigen allvermögenden Planer, Schöpfer und Herrscher ist, zurückgewiesen werden. Dies ist nämlich kein Beweis für die Existenz des Schöpfergotts des Judentum, Christentum und des Islam, schließlich kann es sich auch um einen Demiurgen handeln, ein Gottesbild, wonach Gott das Universum aus vorhandener Materie formte, also vielmehr Handwerker als Schöpfer ist. Dieses Argument liefert uns lediglich einen Erfinder, aber keinen Schöpfer.
Letztendlich ist auch der ontologische Gottesbeweis eben kein Beweis für die Existenz Gottes. Dieses Argument geht davon aus, dass aufgrund des Vorhandenseins der Idee eines vollkommenen Wesens auch auf dessen Existenz geschlossen werden kann. Der Philosoph Iqbal setzte dieses Vorstellung mit Verweis auf Kant außer Kraft: „Wie in Kants Kritik dieses Arguments kann die Vorstellung von 300 Dollar in meinem Geist nicht beweisen, dass ich sie in meiner Tasche habe. Alles, was das Argument beweist, ist, dass die Idee eines perfekten Wesens die Idee seiner Existenz beinhaltet. Zwischen der Idee eines perfekten Wesens in meinem Geist und der objektiven Realität jenes Wesens liegt ein Abgrund, der durch einen transzendentalen Denkakt nicht überbrückt werden kann.“
Gott kann also nicht bewiesen werden. Ich fürchte nur, dass wir Muslime vergessen haben, dass glauben, arabisch amana nicht beweisen, sondern vertrauen bedeutet. Dies kann nicht nur eine rationale Zustimmung zur Existenz Gottes bedeuten, sondern muss tiefer reichen, muss den ganzen Menschen durchdringen, in der Sprache des Qur’an sein Herz, ansonsten wird dieser Glaube in einer Lebenskrise wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Die Frage lautet also, wie können wir zu diesem Vertrauen gelangen. Hierfür ist der Sufismus zuständig.
Mir ist natürlich bewusst, dass viele Leser des Interviews skeptisch gegenüber der Philosophie und dem Sufismus eingestellt sind. Aber kalam, fiqh, falsafa und tasawwuf sind alles legitime Wissenschaften, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln sich mit der Offenbarung auseinandersetzen.
IslamiQ: Abschließend möchten wir gerne Fragen: Welches Potenzial sehen Sie in der Islamischen Philosophie für die Stärkung des islamischen Wissens und der islamischen Spiritualität? Wie sieht hier das Verhältnis zwischen Ratio/Vernunft und im Herzen verankerten Glauben aus?
Muhammad Sameer Murtaza: Die erste Disziplin der islamischen Philosophie muss heute Erkenntniskritik lauten. Immer wieder muss die Frage aufgeworfen werden, was kann der Mensch wissen. Aus dieser Position heraus, dürfen Philosophen, Barmherzigkeits-Theologen, Ideologen und so genannte „liberalen“ Muslimen auf die Finger schauen. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, die im Elfenbeinturm verbleibt, sondern eine Wissenschaft, die sich einmischt und oftmals auch unbequem ist. Und durch das Abstecken unserer Erkenntnisgrenzen stärkt die Philosophie das islamische Wissen dahingehend, dass sie Wissen von Scheinwissen trennt. Weiter kann sie aufzeigen, dass der Mensch zu einer rational verantworteten Entscheidung gelangen kann, sich auf den Glauben einzulassen und zu vertrauen. Die Stufe des yaqin, der Gewissheit, dass diese Entscheidung richtig war, lässt sich aber nur im gelebten Glauben – nicht im Theoretisieren – erfahren, oder in der Sprache der Sufis im „Schmecken“ (dhauq).