Im Interview räumt die Arabistin Angelika Neuwirth mit falschen Vorstellungen in Bezug auf die Terrororganisation ISIS auf und geht auch auf Interpretation des Koran ein. Die Expertin forscht in ihrem Projekt „Corpus Coranicum“ an den historischen Wurzeln des Koran. Das Gespräch führte Claudia Zeisel (KNA).
Nach Einschätzung der Berliner Arabistin Angelika Neuwirth ist die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (ISIS) mit ihrer Gewalt gegen Andersgläubige einmalig in der Geschichte der islamischen Welt. Mit ihrem Projekt „Corpus Coranicum“ forscht sie an den historischen Wurzeln des Koran. Sie sprach über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze, den Koran zu deuten und über die Aufgabe westlicher Wissenschaft und islamischer Theologie, darüber in den Dialog zu treten.
Frau Neuwirth, die Reaktionen internationaler islamischer Vertreter auf die Gewalttaten der IS-Milizen im Irak sind weitestgehend einstimmig: Dieses Handeln gehört nicht zum Islam. Wie bewerten Sie das als Koranexpertin?
Neuwirth: Ganz klar handelt es sich hier um einen Missbrauch des Islam. Das Kriegsrecht, das es im Islam auch gibt, hat überhaupt nichts damit zu tun. Das erinnert eher an die frühislamische Sekte der Charidschiten aus dem 7. Jahrhundert, die mit ähnlich triumphalem Gestus roheste Gewalt anwendete. Sie hat mit extremer Grausamkeit alle nicht zur eigenen Gruppe gehörenden Muslime systematisch verfolgt. Damals ließ man aber Andersgläubige, Christen und Juden, unbehelligt. Die mussten nicht dafür bestraft werden, dass sie sich der radikalen Sekte nicht anschlossen. So etwas wie ISIS hat es sonst in der gesamten islamischen Geschichte nie gegeben, schon gar nicht unter dem Deckmantel der islamischen Religion.
Auf welche Textstellen im Koran berufen sich diese Kämpfer denn?
Neuwirth: Ich glaube nicht einmal, dass sich die Kämpfer überhaupt ernsthaft auf den Koran berufen. Es gab natürlich in der Phase, in der die muslimische Gemeinde von außen bedroht war und es nicht sicher war, ob sie überleben würde, Aufrufe zum Kampf und zur Verfolgung von Ungläubigen, die sich widersetzten, die sich auch im Koran niedergeschlagen haben. Aber das betraf eher militärische Opportunität, hatte nichts mit der systematischen Vernichtung von Andersgläubigen zu tun, wie es IS betreibt.
Sie versuchen mit Ihrem Projekt „Corpus Coranicum“ den Koran aus seinem historischen Kontext heraus zu verstehen. Was ist dabei das Ziel?
Neuwirth: Im angelsächsischen Raum, besonders in Amerika, hat sich eine Meinung durchgesetzt, die den Islam als eine Art Recycling von biblischen Traditionen ansieht. Sie misst dem Koran keinen Wert als eigenständige heilige Schrift bei. Vor allem lässt sie für den Koran keine „natürliche“ Entstehung, also keine Entstehung aus einer Gemeinde-Debatte gelten. Diese „revisionistische“ Wissenschaft hat den Koran aus seinem geschichtlichen Entstehungsprozess gelöst und ihn damit zu einem „künstlichen Text“ gemacht, der gar keine Verbindlichkeit besitzt. Wir wollen nicht einfach das Gegenteil praktizieren und den Koran als wortwörtlich für unsere Zeit verbindlich erweisen, sondern mit historischen Argumenten seinen tieferen Sinn ermitteln.
Wie zum Beispiel?
Neuwirth: Oft wird der Vers zum Problem, in dem davon die Rede ist, dass der Ehemann in bestimmten Situationen berechtigt ist, seine Frau zu schlagen. Wenn man das als wörtlich verbindliche Wahrheit ansieht, kann man diesen Vers frauenfeindlich benutzen. Historisch gelesen deutet der Vers aber auf etwas anderes. Man weiß, dass etwa in der römischen Rechtsprechung jener Zeit viel radikalere Verhaltensweisen gegenüber Frauen üblich waren, etwa, dass der Mann in bestimmten Situationen dazu berechtigt war, seine Frau zu töten. Das heißt, mit diesem Koran-Vers wurde eigentlich eine Milderung dieser Verhältnisse beabsichtigt. In heutige Sprache übersetzt, müsste er einen noch wesentlich milderen Umgang meinen. Man muss sich von dem Kurzschluss freimachen, dass die wörtliche Aussage des Koran so, wie sie ist, für unsere Zeit verbindlich ist. Historisch kann man die Grundhaltung ermitteln, die hinter dem Text steht.
Welche Grundhaltung stellen Sie dabei fest?
Neuwirth: Die Grundhaltung, die hinter den Versen des Koran steht, ist durchaus revolutionär zu nennen, wenn auch nicht im sozialistischen Sinne. Vor dem Hintergrund ihrer Zeit ist gerade die Erhebung der Frau als vor Gott mit dem Mann auf gleicher Stufe stehend etwas ganz Neues. Im Koran treten am Jüngsten Tag Männer wie Frauen unter denselben Voraussetzungen vor das Gericht. Dass damit kein sozialrevolutionäres Programm gemeint ist, darf – nachdem der Koran nun einmal in der Spätantike verkündet wurde – nicht verwundern. Die koranische Botschaft hatte sich gegen viele andere Missstände durchzusetzen. Dass der Grundtenor aber einer Aufwertung des Status der Frau galt, ist unverkennbar.
Sie sagen, der Islam sei auch Teil der europäischen Geschichte.
Neuwirth: Dass der Orient „das Andere“ sei, ist eine Konstruktion, die vor allem in der Kolonialzeit politisch ausgenutzt wurde. Wenn man aber genau hinschaut, haben sich eine Anzahl von kulturellen Formen gerade im Miteinander von Ost und West herausgebildet, ich nenne nur den modernen Roman und die Perspektivik in der Kunst, von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Philosophie, Mathematik, Optik, Architektur ganz abgesehen.
Heute nun lebt eine große Zahl von Muslimen in unserer Gesellschaft. Was sie sich im Gegensatz zur säkularen Gesellschaft noch bewahrt haben, ist der Sinn für das Sakrale, für die Öffnung des Alltags auf eine Wirklichkeit außerhalb unserer Zeit hin. Etwa mittels der Koranrezitation bei den täglichen Gebeten. Statt diese Möglichkeit als fremd abzutun, wäre es nützlich, den Koran in seinen verschiedenen Funktionen kennenzulernen. Ein angemessenes Bild des Koran zu vermitteln, der keineswegs ein Gesetzbuch ist, wird Aufgabe beider, der islamischen Theologie und der westlichen Wissenschaft, sein.
Wie wird der Islam aber wiederum europäisch?
Neuwirth: Die islamische Theologie ist von entscheidender Bedeutung, damit Muslime ihre eigene Tradition wissenschaftlich analysieren und kritisch in der Sprache der säkularen Welt vermitteln können. Natürlich lesen junge Muslime die Texte aus ihrer eigenen Tradition heraus anders als wir westlichen Wissenschaftler. Was gefordert ist, ist dass diese Lektüren in einen Dialog treten. Beide Seiten müssen sich für das jeweils andere Verständnis öffnen.
Ich etwa versuche, den Propheten Mohammed mehr ins Bild zu rücken, der in der vorherrschenden westlichen Sicht eher als Mann des Krieges und zugleich als Autor des Koran gilt. Die historische Forschung sieht ihn dagegen – ähnlich wie Jesus – als einen Lehrer, der seine Gemeinde zur Gotteserkenntnis führt, so dass diese nach seinem Tod die neue Religion aufrechterhalten kann. Insofern der Koran auch ein wichtiges Stück Bibelinterpretation ist, gehört er zum Umkreis der Bibel und muss daher – nicht anders als das mit den jüdischen Grundschriften schon geschehen ist – in den europäischen theologischen Wissenskanon aufgenommen werden. (KNA)