In einem offenen Brief setzten sich mehr als 120 muslimische Gelehrte aus aller Welt theologisch-wissenschaftlich mit der Ideologie der Terrororganisation IS auseinander und erteilen dieser eine klare Absage. Der Brief wurde vor 2014 verfasst und hat heute wieder mehr Aktualität denn je.
In einem offenen Brief an Abu Bakr al-Baghdadi verurteilen mehr als 120 Islamgelehrte aus den renommiertesten islamischen Institutionen weltweit die Ideologie und Handlungen der Terrororganisation IS. Zu den Unterzeichnern zählen der ägyptische Großmufti Schawki Ibrahim Allam und hohe Vertreter der Al-Azhar-Universität in Kairo, der Jerusalemer Mufti Muhammad Ahmad Hussein, der jordanische Prinz und Religionswissenschaftler Ghazi bin Muhammad, der frühere Großmufti von Bosnien und Herzegowina Mustafa Ceric sowie viele Gelehrte und Geistliche aus Arabien, Nordafrika, Asien, Europa und den USA.
Das 18-Seitige Dokument stellt eine theologische Auseinandersetzung mit den Ideen der Terrormiliz IS dar, in dem die Gelehrten den Extremisten die Kompetenz für Religionsurteile absprechen. Dabei kommen sie vor allem zu dem Schluss, dass die Ausrufung des Kalifats durch die IS nach islamischem Recht nicht rechtmäßig sein kann.
Allerdings ist das Dokument bewusst in einer theologisch-technischen Fachsprache gehalten. Das Schreiben benutze jene klassischen islamischen Quellen, die auch von der IS benutzt würden, um Nachfolger anzuwerben, teilte der Leiter des Rats für Amerikanisch-Islamische Beziehungen, Nihad Awad mit, dessen Institution in Washington das Dokument verbreitete. Der Text sei also nicht für Laien bestimmt.
24 Abweichungen von „Qurán“ und „Sunna“
Es handelt sich dabei um eine Punkt-für-Punkt-Widerlegung der IS-Philosophie. Das Dokument ist in 24 Gesichtspunkte gegliedert, in denen sich die Gelehrten verschiedenen Aspekten des Islam widmen, die im Widerspruch zu den Aussagen und Taten der IS stehen.
Starke Betonung erfährt hier das Verbot von Mord, Folter und Misshandlung unschuldiger und Andersgläubiger. Dabei wird die besondere Rolle von Christen und Jesiden hervorgehoben, die als Anhänger der Buchreligionen und religiöser Minderheiten im Islam besonderen Schutz genießen. Ausdrücklich verurteilt das Schreiben außerdem die Ermordung von Journalisten und humanitären Helfern, Leichenschändung, Versklavung, Zwangsbekehrungen und Unterdrückung von Frauen als Verstoß gegen die Glaubenslehre. Der Dschihad wird als reiner „Verteidigungskrieg“ beschrieben. Ein bewaffneter Aufstand sei aus Sicht des Islam nur dann legitim, wenn es um Widerstand gegen massive religiöse Unterdrückung gehe. Demgegenüber kenne der Islam eine Pluralität von Lehrmeinungen. Die Auslegung der religiösen Lehre müsse also zeitgemäß erfolgen.
Selbst die Bezeichnung „Islamischer Staat“ wird in dem Dokument stets in Anführungszeichen gesetzt. Die Unterzeichner rieten davon ab, diesen Begriff zu verwenden, weil er bereits einen falschen Anspruch vertrete. (KNA/iQ)