Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht andere EU-Staaten bei der Flüchtlingsaufnahme in der Pflicht. Außerdem kündigte er im Interview ein EU-Projekt gegen die die Propaganda der IS an. Von muslimischen „Verbänden“ erhofft sich der Innenminister eine stärkere Distanzierung.
Vor wenigen Tagen war Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Bonn zu Gast bei einem Forum der Konrad Adenauer-Stiftung zum demographischen Wandel. In Berlin stehen aktuell unter anderem die Aufnahme von Flüchtlingen und der Kampf gegen Extremisten auf dem Programm. Im Interview erläutert de Maizière, warum für ihn eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge zur europäischen Solidarität gehört. Und was die EU-Innenminister im Internet gegen die Propaganda von Terrorgruppen wie dem IS unternehmen wollen.
Herr Minister, Deutschland wird immer älter. Hat die Bürgergesellschaft unter dieser Bedingung noch eine Zukunft?
De Maizière: Die Generation derjenigen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, war noch nie so gesund, so aktiv und so wohlhabend, auch wenn das natürlich nicht für alle gilt. Sie engagieren sich im Ehrenamt, in der Politik und kümmern sich um ihre Enkel. Diese Altersgruppe bietet eine Chance für die Gesellschaft, deshalb wir müssen wir aufhören, sie als „die Alten“ zu betrachten.
Immer wieder ist zu hören, Migranten könnten einen Teil des demographischen Wandels auffangen. Gilt das auch für Flüchtlinge?
De Maizière: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Das Ziel von Flüchtlingspolitik kann nie Zuwanderung sein. Aus humanitärer Verantwortung gewähren wir politisches Asyl und nehmen Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Wir können dabei nicht alle Menschen in Not aufnehmen, die ihre Heimat verlassen. Das macht auch sonst kein Land der Welt und das würde uns überfordern. Zuwanderung organisieren wir aktiv nach unseren Interessen. Sachverständige erkennen im Übrigen an, dass wir in Deutschland dabei inzwischen mit führend sind.
Aber auch Flüchtlinge brauchen Perspektiven.
De Maizière: Selbstverständlich. Wenn jemand bleibt, weil er politisches Asyl bekommt oder nach jahrelanger Duldung auf Sicht hier bleiben wird, wird er sich in die Gesellschaft integrieren und kann zur Wertschöpfung beitragen. Um das zu erleichtern, haben wir beispielsweise die Frist zur Arbeitsaufnahme verkürzt und die Vorrangprüfung teilweise abgeschafft. Im Ergebnis führt das dann auch zu Zuwanderung.
Plant die Bundesregierung, vor dem Winter die Kontingente für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien auszuweiten?
De Maizière: Wir haben 30.000 Flüchtlinge und Asylbewerber mehr aufgenommen, als Anfang des Jahres vorhergesagt. Deutschland kann und wird weiter ein Vorbild sein, jetzt sind aber erst mal andere Staaten dran. Bisher nehmen ja lediglich 10 von 28 EU-Mitgliedstaaten Asylbewerber auf. Deshalb brauchen wir dringend eine stärkere europaweite Verteilung auf freiwilliger Basis.
Ein Appell an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker?
De Maizière: Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik ist für mich eine zentrale Aufgabe der neuen Kommission. Das wird sicherlich nicht einfach, aber wir brauchen auch bei der Verteilung von Flüchtlingen eine europäische Solidarität.
Sind die geplanten Auffangstationen in Transitländern in Nordafrika auch Teil dieser europäischen Solidarität?
De Maizière: Damit würden wir legale Zugangswege in die EU schaffen. Diese Menschen dürfen jedoch nicht zusätzlich zu denen kommen, die beispielsweise über Schlepperbanden versuchen, zu uns zu gelangen. Das heißt, ein solcher Weg der legalen Öffnung muss einhergehen mit dem Schließen illegaler Wege. Andernfalls bekommt die Bevölkerung den Eindruck, dass es nicht gerecht zugeht.
Die Unterbringung der Flüchtlinge ist in Deutschland Sache der Länder und Kommunen. Fürchten Sie nicht, dass mit den bekanntgewordenen Missständen die Akzeptanz für die Aufnahme weiterer Menschen sinkt?
De Maizière: Zunächst ist die Arbeit der Länder und Kommunen anzuerkennen: Wir haben es schließlich mit einer plötzlichen Versechsfachung der Flüchtlingszahlen zu tun. In der Gesellschaft hat sich bereits vieles geändert. Das ehrenamtliche Engagement, auch in Kirchengemeinden, ist sehr groß. Und die Bereitschaft in der Gesellschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ist so groß wie nie. Aber es gibt auch wachsende Vorbehalte. Das Thema Flüchtlinge polarisiert eine Gesellschaft, viele fühlen sich gestört.
Zum Schluss noch ein anderes Thema, Stichwort IS. Offenbar lassen sich viele junge Menschen hierzulande über das Internet von den Ideen der Terrororganisation verführen – 550 Deutsche sind aktuell nach Syrien ausgereist – um dort zu kämpfen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
De Maizière: Menschen, vor allem junge Menschen, die nach Syrien gehen, suchen Geltung und Anerkennung. Sie fühlen sich möglicherweise von Macht und Gewalt angezogen. Oft sind es Menschen, die in ihrem Leben und der modernen differenzierten Welt nicht klarkommen. Der IS macht den jungen Menschen Hoffnung, sie könnten etwas Bedeutendes für die Geschichte tun. Dadurch entsteht plötzlich ein Geltungszuwachs, der das Leben verändert. Die Kombination mit einem coolen, modernen Medium macht die Wirkung aus.
Die Bundesregierung schafft Deradikalisierungsprogramme und schränkt die Reisefähigkeit für IS-Kämpfer ein. Reicht das aus?
De Maizière: Die Gesellschaft muss allen Menschen mit ihren Schwächen und Stärken den Eindruck vermitteln, dass es auf sie und ihren Beitrag ankommt, dass sie wichtig sind für das Zusammenleben in unserem Land. Und dann muss jeder Bürger in der Familie und im eigenen Umfeld, etwa in Sportvereinen, darauf achten, ob sich ein junger Mensch verändert, ob er sich radikalisiert. Sobald sich eine Person radikalisiert, bevor sie den Entschluss fasst in den Kampf zu ziehen, müssen wir versuchen, der Person dabei zu helfen, nicht weiter abzurutschen. Wir haben Beratungsstellen, an die kann man sich wenden.
Müssten sich aber nicht auch Islamverbände und muslimische Geistliche noch deutlicher vom IS distanzieren?
De Maizière: Jede offene Kritik von Islamverbänden und Geistlichen am Morden und Töten wird zweifelsohne Wirkung zeigen.
Nicht nur aus Deutschland reisen Kämpfer in die Krisengebiete. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame politische Strategie auf EU-Ebene?
De Maizière: Ja. Wir sind hier im engen Austausch. Wir wollen, dass jeder Grenzbeamte in der EU erkennen kann, ob ein Dschihad-Kämpfer auf dem Hin- und Rückweg vor ihm steht. Nur so können wir konsequent und wirksam handeln. Zusätzlich werden die Innenminister der EU eine Gegenerzählung im Internet starten, die gerade auf gefährdete Jugendliche mindestens genauso anziehend wirken muss wie die Angebote des IS und in allen europäischen Sprachen, aber auch auf Arabisch und Türkisch abrufbar ist. Die Werbeplattform Internet dürfen wir nicht dem IS überlassen.
Das Gespräch führte Kerstin Bücker. (KNA)