Extremismus

Das britische Königreich im Schatten von ISIS und Terrorgesetzen

Auf einer belebten Straße in London wurden im August 2014 durch ISIS-Anhänger Broschüren verteilt. Der Fall wirft Fragen auf, gibt aber auch einen Einblick in den Gemütszustand der Briten in Bezug auf den Islam. Ein Beitrag von Astrid Julia Lambregts.

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Eine Geschichte aus dem britischen Königreich: Ein 35-jähriger zweifacher Vater aus Schottland wurde im September zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm wurde eine Hassrede (hate speech) vorgeworfen, nachdem er nur wenige Monate zuvor neben obszönen und rassistischen Bemerkungen gegen Kurden und Schiiten auch eine Bekundung, dem ISIS beitreten zu wollen, auf Twitter veröffentlicht hatte.

Mit 16 Monaten Gefängnis ist die verhängte Strafe die längste, die bislang für sog. „Twitter trolls“ verhängt wurde: Verurteilungen in vergleichbaren Fällen beliefen sich auf bloße 12 Wochen. Der schottische Staatsanwalt kommentierte den Urteilsspruch mit einem Aufruf an die Bevölkerung, sich hierdurch ermutigt zu fühlen Aussagen dieser Art sogleich der Polizei zu melden, damit diese gegen sie vorgehen, und die Bevölkerung weiterhin frei von Gewalt und Einschüchterung leben kann. Der Verurteilte hatte vier „Followers“ auf Twitter und beteuerte, die Tweets im Vollrausch getätigt zu haben.

ISIS-Flugblätter in belebter Einkaufsmeile

Man vergleiche diese Geschichte mit der Folgenden: Nur zwei Monate nachdem diese Tweets veröffentlicht wurden, und während die Verurteilung des Familienvaters schon im vollen Gange war, wurden im August in London auf öffentlicher Straße, in der täglich von Hunderttausenden besuchten Einkaufsmeile Oxford Street, ISIS-bestärkende, scheinbar propagandistische Flugblätter an zahlreiche Passanten verteilt. Die herbeigerufene Polizei blieb in den Augen der Passanten tatenlos, und begründete ihre Untätigkeit damit, den Inhalt der Flugblätter zuerst erfassen zu müssen, um dann festzustellen, ob eine Straftat vorliegt. Die gut organisierte Gruppe von Studenten brachte an diesem Tag nicht nur einige wenige, sondern dutzende Flugblätter in Umlauf, und hatte hierzu strategisch einen Stand mit weiterem Informationsmaterial, wie z. B. einer geografischen Karte des geplanten Islamischen Staates, aufgebaut.

Diese augenscheinliche Passivität der hauptstädtischen Polizei hinsichtlich der Flugblattpropaganda wirkt unvereinbar nicht nur mit dem harschen Vorgehen gegen die virtuelle Propaganda des oben benannten Familienvaters, sondern vor allem mit dem Umstand, dass im selben Monat im Vereinigten Königreich die zweithöchste Sicherheitsstufe ausgerufen wurde, nachdem Premierminister David Cameron vor inländischen Attacken durch ISIS-Unterstützer warnte.

Warum tut die Polizei nichts?

Mit einer erhöhten Sicherheitsstufe geht üblicherweise auch ein erhöhtes Maß an Reaktionsspielraum seitens der Behörden ein, und dies gepaart mit den anstehenden Parlamentswahlen im nächsten Frühling sorgt für politischen Druck. Dieser äußert sich unter anderem in Form von britischen Luftangriffen auf ISIS-Stellungen im Irak auf Bitten des irakischen Premierministers, auf die sich das Parlament scheinbar ohne zu zögern und mit überwältigender Mehrheit (524 gegen 43 Stimmen) einigen konnten.

Wie also kommt es dazu, dass die Polizei tatenlos dabei zusehen kann, wie im eigenen Land ISIS-befürwortende Propaganda betrieben wird, während nicht nur die Judikative, sondern auch die Legislative sich ausdrücklich dazu ausgesprochen haben solch Verhalten nicht zu dulden?

Meinungsfreiheit?

Die Flugblätter selbst waren so gestaltet, dass darin weder ein eindeutiger Vermerk bezüglich der Terrororganisation ISIS noch zu dem selbst ernannten Kalifen al-Baghdadi zu erkennen war, was sie zu einem terrorverherrlichenden und damit illegalen Instrument gemacht hätte. Allerdings zählten die Flugblätter, deren Überschrift „Khalifat gegründet“ lautete, neben sechs weiteren Pflichten die Pflicht eines Muslims auf, in das Kalifat auszuwandern.

Die Untätigkeit der Polizei ist nur dadurch zu erklären, dass der Inhalt der Flugblätter und deren gewaltloses Verteilen – anders als offensive Rassendiskriminierung – auf den ersten Blick durch das Recht der freien Meinungsäußerung geschützt scheint. Zwar gibt es zahlreiche Ausnahmen, die dieses Recht beschränken können, aber ob nun beispielsweise der implizierte Aufruf zur Auswanderung in das Kalifat eine solche Ausnahme begründet, ist eine Frage, die nur ein Gericht zu beantworten vermag, aber die ein Gericht nur dann beantworten kann, wenn eine eindeutige Gesetzeslage geschaffen wird.

Verbreitung von extremistischem Gedankengut soll verboten werden

Innenministerin Theresa May, die in ihrer Amtszeit neben einer umfassenden Verschärfung der Einwanderungsgesetze ferner mit der Befürwortung einer Langzeitverwahrung von Terrorverdächtigen Schlagzeilen machte, bereitet nun in Reaktion auf die inländische Terrorgefahr durch Gewaltakte im Königreich angesiedelter Extremisten einen Gesetzesentwurf vor, der auch die Verbreitung quasi-extremistischen Gedankenguts, wie beispielsweise in Form von Flugblättern, unter die Kontrolle der Gerichte stellt.

Die sogenannten „anti-social behaviour orders“ (einstweilige Verfügungen gegen gesellschaftsfeindliches Verhalten) sind vorwiegend dafür vorgesehen, extremistische Ausdrucks- und Verhaltensweisen zu beschränken, und würden sich daher vor allem gegen die Aktivitäten radikaler Hassprediger richten, deren rhetorisch getarnte Verbreitung extremen Gedankenguts derzeit unter britischem Recht noch keine Straftat darstellen. Sollte der Gesetzesentwurf verabschiedet werden, dann würde dies bedeuten, dass bald auch Organisationen, die bislang nur dann verboten werden konnten, wenn sie direkt in Terrorakte involviert waren, allein aufgrund subtiler Verbreitung extremistischer Ansichten verboten werden können.

Muslime fühlen sich nicht diskriminiert

Die muslimische Bevölkerung scheint sich nicht besonderer Diskriminierung ausgesetzt zu fühlen, die etwa durch ISIS in der britischen Gesellschaft hervorgerufen sein könnte. Dies mag mit dem Umstand begründet sein, dass Großbritannien seine Phase der Islam-Angst bereits vor Jahren hinter sich gebracht hat. Während so mancher Bürger als praktizierender Muslim in Großbritannien nach dem 11. September und den Bombenanschlägen auf London’s Innenstadt im Jahre 2007 deutliche Ausgrenzung erfahren hat, ist hiervon nun im Kontext von ISIS nichts zu spüren. Dies liegt möglicherweise unter anderem daran, dass es nun vorwiegend muslimische Bürger sind, die sich lautstark gegen ISIS-befürwortende Propaganda äußern.

Wenngleich in Großbritannien keine Islam-Angst mehr herrscht, so herrscht dennoch eine Islam-Scheu. Bevor große Terrorakte die Gesellschaft zum Nachdenken bewegten, waren sich die meisten Bürger nicht bewusst, welch großen Teil der Gesellschaft der Islam ausmacht. Und dennoch herrscht noch stets ein hohes Maß an Unwissenheit über den Islam und seine Lehren, welches die nichtmuslimischen Bürger davon abhält, ein informiertes Urteil zu fällen: Viele Nachrichten und Entwicklungen werden zur Kenntnis genommen, aber es fehlt dem nichtmuslimischen Bürger am nötigen Wissen, es im islamischen Kontext zu beurteilen.

Es fehlt nicht an Bewusstsein

So konnten sich beispielsweise die durchschnittlich 880.000 Leser der kostenlos ausgehändigten Pendler-Tageszeitung „Evening Standard“ ein genaues Bild darüber verschaffen, wie im letzten Jahr einer „ihrer“ Soldaten, Lee Rigby, auf offener Straße unter islamistischen Parolen umgebracht wurde und wie die Politiker es als Terrorakt bezeichneten. Ebenso konnten sie verfolgen wie jüngst nachdem der britische Entwicklungshelfer Alan Henning durch die ISIS geköpft wurde, die ganze Nation mit seiner Witwe und den hinterlassenen Kindern, angeführt von sich im Wahlkampf befindlichen Politikern, trauerte.

Es fehlt der britischen Bevölkerung folglich nicht an Bewusstsein. Aber es fehlt ihr an Einsicht: Der Einsicht, dass sinnlose Tode wie der von Alan Henning von Muslimen genauso sehr verachtet werden wie von den Nichtmuslimen. Die muslimische Bevölkerung Großbritanniens ist sich dieses Defizits sehr bewusst. Sie wissen, dass Großteile der Bevölkerung Terror mit Islam gleichsetzen, und so der staatlich vorgeschriebene Kampf gegen den Terror automatisch zu einem inszenierten Kampf gegen den Islam werden könnte. Darin liegt nur einer der Gründe, weshalb es vor allem Muslime sind, die sich gegen ISIS äußern, und weshalb sie es sind, die ISIS-unterstützende Aktionen wie das Flugblätterverteilen in Oxford Street der Polizei melden.

Muslime kennen Unterschied zwischen Islam und Islamismus

Denn anders als sie, weiß die nichtmuslimische Bevölkerung meist gar nicht worin genau der Unterschied besteht zwischen Islam und Islamismus. Darüber hinaus kommen die nichtmuslimischen Gesellschaftsteile, nicht zuletzt wegen ihrer Islam-Scheu, nicht häufig genug mit muslimischem Gedankengut in Berührung, um abwägen zu können, ob es sich dabei um extremistische Inhalte handelt. Der Islam-scheue Passant in der Oxford Street wird ebenso wie der politisch unbeteiligte Polizist nicht in der Lage gewesen sein, auf einen Blick zwischen ungewollten pro-ISIS und willkommenen pro-Islam Flugblättern zu unterscheiden.

Dass Großbritannien den Kampf gegen den Terror längst zum Staatsprinzip gemacht hat, ist in den Gesetzen des letzten Jahrzehnts ebenso abzulesen wie in der ständig währenden Angst vor einer drohenden Radikalisierung muslimischer Bürger. Ironischerweise sind es eben jene Anti-Terror-Gesetze, die in ihrer Unklarheit effektiv dafür sorgen, dass sich die Imame dieses Landes davor scheuen, ISIS in ihren Gemeinden zu thematisieren und dem Terror aus den eigenen Reihen entgegenzuwirken, aus Furcht von den Behörden fälschlicherweise selbst für extremistisch gehalten zu werden.

Nachdem die ISIS-Propaganda die britischen Fußgängerzonen erreicht hat, und nicht mehr bloß von Muslimen, die diese in Moscheen und Social Networks als solche zu erkennen vermögen, sondern nun auch allen anderen Bevölkerungsteilen vor Augen geführt wird, bleibt abzuwarten, ob es in Zukunft bei behördlicher Untätigkeit wie jener der Polizisten in Oxford Street bleiben wird.