Was sind die Sorgen der Muslime in anderen Teilen der Welt? Unsere neue Reihe widmet sich in persönlichen Gesprächen der Diaspora und dem Blick auf die historischen Entwicklungen von bestimmten Regionen. Heute blicken wir auf Bosnien-Herzegowina.
Ab dem 7. Jahrhundert haben sich die heutigen Bosniaken in dem Gebiet niedergelassen, dass wir heute als ihre Heimat kennen. Schon immer unterschieden sie sich in einigen Merkmalen von ihren Nachbarn, so dass sie schon früh einen eigentümlichen Charakter entwickelten. Während die Bosniaken – zum Beispiel in der Zeit als sie Christen waren – sich weder der orthodoxen noch der katholischen Kirche anschlossen, gehörten sie der Minderheitenströmung der Bogomile an, eine Ausrichtung, die Jesus nicht als Gott angesehen hat. Mit den Osmanen lernten sie den Islam kennen und nach dem die Osmanen diese Gebiete verloren haben, stellten die Bosniaken die ersten Muslime dar, die unter der Herrschaft der Monarchie Österreich-Ungarn lebten. Dass der Islam heute in Österreich öffentlich-rechtliche Relevanz besitzt, hängt mit den damaligen Bosniaken zusammen.
Wir diskutierten mit Senad Smajlovic die heutigen Auswirkungen auf die Muslime und die Geschichte einer außergewöhnlichen und blutigen Geographie, dessen Rarität Bosnien-Herzegowina ist.
Im Jahre 1945 gründete Josip Broz Tito mit einem kommunistischen Regime das sozialistische Jugoslawien und kreierte somit eine Föderation, welche aus sechs verschiedenen Republiken bestand. Dadurch versuchte er nationalstaatliche Gefühle zu unterbinden. Diese Republiken waren Kroatien, Montenegro, Serbien, Slowenien, Bosnien Herzegowina und Mazedonien. In Serbien hat man den Regionen Kosovo und Voyvodina ihre Autonomie zugesprochen. Unter der kommunistischen Herrschaft wurden gute Beziehungen mit den westlichen Nationen gepflegt und somit der Geldfluss gefördert. Allerdings führten die Probleme der instabilen Entwicklung (beim Aufschwung) und die wachsende Schuldenlast zu Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen den Ethnien. Die Spannungen wurden immer größer und mit dem Tod von Tito im Jahre 1980 war die Erwartung groß, dass die Föderation zusammenbricht, aber sie existierte noch weitere zehn Jahre. Der Fortbestand der Föderation führte jedoch auch dazu, dass die Differenzen bzgl. der ethnischen Identität, Kultur und Religion des Volkes auch Bestehen blieben. Tatsächlich gab es viele muslimische Familien in Bosnien, die sich im jugoslawischen Staat von ihrer Identität und Religion entfremdet haben.
Senad führt die Situation der Bosniaken unter jugoslawischer Herrschaft weiter aus: “Auch in der Zeit Jugoslawiens gab es viele Muslime. Aber nach dieser Zeit blieben von den Muslimen nur noch ihre Namen übrig. Sie verheimlichten aus Angst ihr Muslimdasein. Die Menschen konnten nicht in die Moscheen gehen, weil sie sonst auf Anweisung der Partei Titos festgenommen wurden.” Wie Senad berichtet wurde den muslimischen Familien, die Moscheen besuchten, viel Ärger und Gräuel angetan. Viele muslimische Familien wurden, weil sie trotz alle dem offen ihre Religion praktizierten, arbeitslos, obdachlos und schließlich auch landlos. Die meisten Muslime waren außerdem bemüht zumindest beim Beten zu Hause nicht erwischt zu werden: Hierfür wurden beispielsweise die Vorhänge zugezogen und alle Kerzen ausgezündet.
Durch den zunehmenden Druck, distanzierten sich jedoch immer mehr Muslime von ihrer religiösen Praxis und vernachlässigten religiöse Riten im Alltag. “Bei uns wurde die Religion wenn dann nur in der Gemeinschaft praktiziert. Jemand, der nicht mehr zur Moschee ging, hat mit der Zeit angefangen seine Gebete auch zu Hause zu vernachlässigen”, betont Senad. Seine Oma erklärte ihm vor ihrem Tod ihre Sorge wie folgt: “Wenn ich sterbe, stirbt in diesem Haushalt auch die Religion.” Senad bestätigt diese Vorhersage: “Es ist genauso gekommen, wie meine Oma es prophezeit hat. Die Bittgebete meiner Oma haben uns im Krieg gerettet, aber jetzt ist sie nicht mehr da und uns geht es immer schlechter.”
Menschen benötigen manchmal eine auslösende Kraft, um sich an die Vergangenheit zu erinnern oder sich ihrer Identität bewusst zu werden. Diese Kraft kann ein Foto, eine Erinnerung oder ein Moment (in der Vergangenheit) sein. Senad berichtet uns von einer Erinnerung: “Nach dem Tod meiner Oma entschied sich mein Opa nochmal zu heiraten. Ich rannte ihm hinterher, als er versuchte die übergebliebenen Sachen meiner Oma in eine Mülltonne zu werfen. Genau in diesem Moment, als mein Opa vor dem Mülleimer stand, fiel ihm das Kopftuch meiner Oma aus seiner Hand. Sofort hob ich es auf und sah, dass es um ein Buch gewickelt war. Das Buch war der Koran. Die Botschaft für mich war sehr klar. Ich erinnere mich noch an die Worte, die sie so oft wiederholte: „Lies, Lerne und Schreibe’”.
Als Ergebnis der Eroberungen Bosniens um 1400 durch die Osmanen stieg die Anzahl der Muslime in dieser Region. Die in Bosnien herrschende islamische Kultur zeichnete sich vor allem durch ihren städtischen Charakter aus. Durch eine islamische Prägung, die sich nicht ländlich, sondern in einer städtischen Art entwickelt hat, konnten einige charakteristische Merkmale der “Kultur des Ostens” nicht nur unter den Muslimen, sondern auch unter den Christen aufrecht erhalten werden. Die wichtigsten Hinterlassenschaften der islamischen Kultur, die die Region beherrschte, manifestieren sich in der Architektur und Stadtplanung.
In Bosnien nahmen selbst Städte “das Stadtverständnis der Osmanen” an, die heute unter serbischer Regierung stehen. Auch wenn viele türkische, arabische und persische Wörter und Ausdrücke über die islamische Kultur mehrheitlich auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowinas lag, hört man immer noch auch im Serbischen einige dieser Wörter und Ausdrücke, obwohl sie große Spuren der nationalistischen Bewegungen mit sich tragen. Heute haben die “sevdalinka”, die “Liebesgedichte”, die gesungen werden und bis zu den Osmanen zurückreichen, in Bosnien, Serbien und Ungarn einen großen kulturellen Stellenwert.
Die Muslime in Bosnien pflegen außer den guten Verwandtschaftsbeziehungen und den Moscheebesuchen, um das Gemeinwohl und das Miteinander zu stärken, die noch aktiv bestehenden Tekke (Kloster), die einen wichtigen Beitrag für das Zusammenleben leisten. Außer der bekanntesten touristischen Attraktion “Tekke Blagaj” sind die noch wichtigeren aktiven Konvente, die in den engen Gassen Sarajevos immer wieder aufs Neue entdeckt werden, an Feier-und Festtagen mit Menschen überfüllt. In Bosnien-Herzegowina, wo die religiösen Rituale in den Tekkes heute noch in osmanischer Tradition durchgeführt werden, sticht neben der hohen religiösen Empfindsamkeit der Bosniaken auch ihr außergewöhnliches ästhetisches Empfinden hervor.
Eines der Ereignisse, bei denen sich das Volk näher kommt sind die 500 Jahre alten Ayvaz Dede Festtage. Nach den Erzählung entschied sich Ayvaz Dede von Manisa-Akhisar in die Berge der Bogomille, in denen die alten Bosniaken lebten, umzusiedeln. Der mit der Müllerei beschäftigte Ayvaz Dede erobert innerhalb kürzester Zeit die Herzen der Bosniaken. Nach einer langen Dürrezeit wandten sich die Bosniaken an Ayvaz Dede und baten ihn um Hilfe. Daraufhin verbrachte Ayvaz Dede 40 Tage und Nächte in Bittgebeten. Letztendlich teilte sich der Felsen, in dem Ayvaz Dede wohnte, in zwei Teile und die Bosniaken hatten wieder Zugang zu Wasser. Nach einer Überlieferung heißt es, dass die Bosniaken nach diesem Wunder den Islam annahmen. Obwohl das behauste Gebiet auf Bosnisch Prusac heißt, ist es unter den muslimischen Bosniaken als Akhisar bekannt. An diesen Festtagen feiert die versammelte Gemeinschaft nicht nur eine Legende, sondern vielmehr die Annahme des Islams.
Der nach dem Zweiten Weltkrieg durch Tito gegründete jugoslawische Staat umfasste ein Volk, das drei verschiedenen Religionen angehörte: Orthodoxe, Katholiken und Muslime. Nach dem Tod Titos, der als Diktator diese drei religiösen Elemente zusammenhielt, konnte diese Einheit nicht länger aufrechterhalten werden. Zunächst erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit und somit begann sich die Einheit aufzulösen.
Bosnien-Herzegowina ist ein Land, dessen jüngste Geschichte durch Blutvergießen gekennzeichnet ist. Nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, am 25. Dezember 1991 zerfiel dieser Bund und nach dem anschließenden Mauerfall verbreiteten sich die Aktivitäten der westlichen Mächte auf dem Balkan. Nachdem zunächst Die Abspaltung Kroatiens von Jugoslawien durch den Vatikan, Deutschland und Österreich begünstigt wurde, kam dieser Gedanke auch in Bosnien auf. Nach einem Referendum mit einem Ergebnis von 99,7% für die Abspaltung, konnte die Unabhängigkeit von Jugoslawien ausgerufen werden. Nach der Unabhängigkeit wurden nationalistische Bestrebungen in Bosnien-Herzegowina gefördert, sodass zwischen den dort lebenden Serben, Kroaten und Bosniaken ein Konflikt entstand, der schließlich am 1. März 1991 zum Bosnienkrieg ausartete.
Serbien verübte in dieser Zeit in der Hauptstadt Srebrenica ein ethnisches Massaker aus und ermordete 8.300 Menschen bosnischer Herkunft. Viele der ermordeten waren bosnische Muslime. Es wird gesagt, dass es bis zu 70 Massengräber gibt, in denen die Leichen gesplittert begraben worden sind. Jedes Jahr wird deshalb am 11. Juli, dem Jahrestag des Massakers, eine Zeremonie für die Opfer dieser ethnischen Säuberung durchgeführt, an der nicht nur Menschen aus Bosnien, sondern Zehntausende Menschen aus der ganzen muslimischen Welt teilnehmen. Diese Gedenkfeier hat für die Einheit und die Solidarität der Bosniaken einen sehr hohen Stellenwert. Über das schreckliche Massaker wird auch folgendes gesagt: “Was die Bosniaken in Srebrenitsa erlebten, hat bisher niemand auf der Welt erleben müssen. Niemand starb wie die Bosniaken, wie in Srebrenitsa.”
Fast jede Familie, die in Bosnien lebt, hat einen Angehörigen als Opfer im Krieg verloren. Bei den Überlebenden, sind die Erinnerungen und die Trauer sehr frisch. Senad beschreibt diese Zeit: “Es gibt eigentlich Unmengen zu erzählen über den Krieg. Zum Beispiel war mein Vater an der Front in der Region Lukavica, um gegen die Serben zu kämpfen. Während des Krieges sah ich meinen Vater nur zwei Mal im Monat. Meine Oma war natürlich traurig, weil mein Vater an die Front ging, aber auf der anderen Seite wurde sie stolz. Deshalb bereitete sie immer alles für ihn vor und packte jedes Mal seine Tasche.” In den Taschen der Soldaten, die an die Front gingen, durfte niemals Tabak und Kaffee fehlen, erzählt uns Senad. In dem Kontext ist auch das verbreitete bonsiche Sprichwort zu verstehen: “Kaffee ohne Tabak ist verwaist.”
Die bosnische Bevölkerung, die ohnehin in verschiedenen Regionen verteilt war, zerstreute sich nach dem Krieg noch weiter. Es ist bekannt, dass rund 2 Millionen Bosniaken, die in den Ländern Kanada, USA, Deutschland, Österreich, Australien und der Türkei leben, die Chance der Arbeitsmöglichkeiten genutzt haben. Die bosnische Diaspora entstand, aufgrund des Drucks durch Österreich-Ungarn, sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern zu etablieren. Bosnien, das auch mit dem 1. und 2. Weltkrieg Auswanderungsprozesse erfuhr, erlebte jedoch die größte Immigration nach dem Bosnienkrieg. Senad verließ Bosnien-Herzegowina nicht, jedoch musste er sich zeitweise von seiner Familie trennen und lebte in mehreren Städten. “Nach meinem Uni-Abschluss konnte ich nicht lange Zeit in Tuzla bleiben. In Mostar fand ich Arbeit als Türkischlehrer. Ich lebte in Mostar, meine Frau und mein Kind in Tuzla, mein Vater in Slowenien, meine Mutter in Skahovica und mein Bruder in Sarajevo. Diese Situation hielt zum Glück nur vier Monate an. Letztendlich sind Bosniaken ein Volk, die an die Fremde gewöhnt sind”, erklärt Senad.
Auch wenn es keine ethnische Bedeutung hatte, erzählt Senad, dass Muslime in dieser Region noch bis vor kurzem als “Türken” bezeichnet wurden. Er fügt hinzu, dass die Bosniaken sich den Türken näher fühlen als den Serben und Kroaten, auch wenn sie die gleiche Sprache sprechen. Obwohl die Bezeichnung “Bosniak” keinen religiösen Ursprung hat, wurde sie mit dem Dayton-Vertrag ab 1995 zu einem Wort mit religiöser Basis erklärt.
Es hatte auch eine große symbolische Bedeutung, dass sich das Volk bei der Volkszählung im Jahre 2013, die erstmals nach 1991 durchgeführt wurde, als “Bosniak” definierte. Denn nach den Regelungen hat die ethnische Gruppe, die einen Anteil von 51% der Gesamtbevölkerung, also die Mehrheit hat, auch mehr Mitspracherecht bei der Verwaltung der Stadt. Im Parlament sieht es ähnlich aus: In den muslimischen Regionen sitzen im Parlament 80% Bosniaken und in den serbischen Gebieten sind im Parlament 80% Serben.
Nachdem Mehmet Akif Ersoy die Unabhängigkeitshymne verfasste, betete er für folgendes: “Gott soll dieses Volk nicht nochmal eine Unabhängigkeitshymne verfassen lassen”. Für Senad ist das Bittgebet der Bosniaken, dass dieses Massaker, das vor den Augen der ganzen Welt verübt wurde und heute noch die Herzen der Hinterbliebenen zerreißt, nicht noch einmal geschehen darf.