Interview mit Wolfgang Benz

„Da lässt sich vieles eintüten“

Seit Wochen ziehen Pegida-Demonstranten durch die Straßen und wollen das „Abendland“ retten. Doch was bedeutet dieser Begriff? Antisemitismusforscher Wolfgang Benz erklärt, wieso das Abendland ein Mythos ist. Das Gespräch führte Christoph Arens (KNA)

06
01
2015
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Sie sehen sich als Verteidiger des Abendlandes gegen eine Islamisierung. Auch am Montagabend demonstrierten Tausende Bürger der Bewegung «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) in mehreren deutschen Städten – und rufen damit auch starke Gegendemonstrationen hervor. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert der Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz die lange und wechselvolle Karriere des Begriffs Abendland.

Herr Professor Benz, was meint eigentlich der Begriff Abendland?

Benz: Das ist ein ganz weiter Begriff, da lässt sich beliebig viel eintüten. Das Abendland ist ein Mythos, der vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Er steht für eine Wertegemeinschaft, die griechisch-römische Philosophie mit christlichem Denken verbindet und den Eindruck erweckt, als habe sich die Antike im Christentum vollendet. Dabei ist der Begriff immer als Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff verwendet worden.

Gegen wen?

Benz: Zunächst bezeichnete das Abendland die lateinische Christenheit, die sich gegen die orthodoxe Kirche abgrenzte. Rom gegen Konstantinopel. Als dann 1453 Konstantinopel durch die Türken erobert wurde, wurde das christliche Abendland zum Kampfbegriff des christlichen Europa gegen die türkischen, muslimischen Angreifer. In Wirklichkeit hat es so etwas wie ein einheitliches christliches Abendland aber nie gegeben. Man schaue nur darauf, dass die muslimischen Türken im 17. Jahrhundert von den katholischen Franzosen im Kampf gegen die katholischen Habsburger unterstützt wurden. Machtdenken spielte eine viel größere Rolle als die Religion.

Dennoch wird der Begriff Abendland weiterhin gegen den Islam ins Feld geführt…

Benz: Dass die österreichische FPÖ noch 2009 mit der Parole „Abendland in Christenhand“ in die Europawahlen ging, zeigt, wie tief diese Definition sitzt und wie sehr die Jahrhunderte alte Angst vor den muslimischen Eroberern auch heute noch mobilisiert werden kann. Auch die NPD spielt ja damit, wenn sie fordert, die Siege über die Türken vor Wien 1529 und 1683 dürften nicht umsonst gewesen sein.

Abendland gegen Morgenland also?

Benz: Der Begriff Morgenland hat nie diese Bedeutung erlangt. Außerdem ist er durchaus positiv besetzt – man schaue auf die Weisen aus dem Morgenland oder Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail». Da steht das Morgenland eher für Exotik und Abenteuer.

Doch nicht nur Islam-Gegner gebrauchen den Begriff Abendland. Er spielt auch in nationalkonservativen Denkstrukturen eine Rolle.

Benz: Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler veröffentlichte 1918/20 sein kulturpessimistisches Hauptwerk «Der Untergang des Abendlandes». Er gilt als einer der Wegbereiter des Nationalsozialismus. Für ihn war Abendland der Gegenbegriff zu den demokratischen und kapitalistischen Staaten Frankreich und England sowie zum bolschewistischen Osten. Nach der Niederlage von Stalingrad 1943 forderte Hitler die deutsche Armee auf, «bis zur letzten Patrone» für die «Rettung des Abendlandes» zu kämpfen.

Das Abendland und die Abwehr des Bolschewismus spielten dann auch in der europäischen Bewegung nach 1945 eine große Rolle…

Benz: Tatsächlich hatte der Begriff Abendland seit den 50er Jahren eine Wiedergeburt. Das freiheitliche Europa berief sich auf christliche Werte, um sich vom Ostblock abzugrenzen. Nationalkonservative und Katholiken bis zu Konrad Adenauer sprachen vom christlichen Abendland, in das dann auch die USA einbezogen wurde. Karl der Große wurde zum Gründungsvater Europas und des christlichen Abendlandes stilisiert. Seitdem allerdings hat der Begriff ganz stark an Bedeutung verloren – bis ihn Pegida wieder aufgriff.

Die Rede war allerdings immer von christlich-jüdischen Werten.

Benz: Das zeigt ja, wie inhaltsleer und dehnbar der Begriff Abendland immer war: Lange richtete er sich auch gegen die Juden, doch in jüngster Zeit wurde – nachdem Millionen Juden ermordet wurden – die jüdische Religion einbezogen, wenn es um die Abgrenzung gegen Muslime geht. Auch heute beschwören viele Demonstranten bei den Pegida-Veranstaltungen die christlich-jüdischen Werte des Abendlandes. Wenn es um Muslime geht, sind Verbündete gerade recht. Welche Bündnisse da möglich sind, sieht man ja auch beim niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders, der 2010 mit rechten
israelischen Siedlern zusammentraf und Israel zum verstärkten Siedlungsbau aufforderte.