Ein islamisches Minderheitenrecht soll Muslimen in Europa die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten erleichtern und ihnen bei der Bewältigung sozialer Probleme helfen. Doch ist es überhaupt zielführend? Oder führt es gar dazu, dass Muslime in westlichen Ländern sich von der religiösen Praxis entfremden? Diesen Fragen widmet sich Prof. Dr. Macit Kenanoğlu (Istanbul).
Religion und Identität stehen in engem Zusammenhang miteinander. Es ist offensichtlich, dass Gesellschaften, in denen Religionen einen hohen Stellenwert haben, die eigene Identität besser bewahren können und größeren sozialen Halt bieten. Der Verweis auf die augenblicklich schwierige gesellschaftliche Situation der Muslime, weitreichenden Konzessionen in der religiösen Praxis den Weg zu bereiten, birgt die Gefahr, dass Muslime zunehmend achtlos gegenüber religiösen Vorschriften werden. Aber auch hinsichtlich möglicher politischer Entwicklungen ist fraglich, ob solche Konzessions-Praktiken, wie das Minderheitenrecht sie vorsieht, die richtige Lösung sind.
Einmal angenommen, Muslimen würde die öffentliche Ausübung ihrer Religion verboten werden, wie sähe die Reaktion aus? Es wird schnell deutlich, dass ein islamisches Minderheitenrecht dann inhaltslos wäre. Denn wenn das Minderheitenrecht mit Blick auf staatliche Verbote oder Anordnungen, muslimische Schüler von der Fastenpflicht freistellt, ihnen den obligatorischen Besuch des christlichen Religionsunterrichts gestattet oder Schülerinnen erlaubt, das Kopftuch abzulegen, verliert der Glaube und der daraus resultierende Wunsch, religiöse Gebote und Verbote erfüllen zu wollen, zunehmend ihren Sinn. Wenn diese äußeren Einschränkungen zudem zeitlich nicht begrenzt sind und Muslime meinen, dass ihnen unter solchen Umständen derart weitreichende Zugeständnisse gestattet sind, ist es unvermeidlich, dass es langfristig zu einer Abnahme der Glaubensfestigkeit und einem Verlust der religiösen Identität kommt.
Für Muslime in Europa ist es heute unabdingbar, dass sie ihre Frömmigkeit nicht von äußeren Rahmenbedingungen abhängig machen, sondern sie mit größter Selbstdisziplin wahren und entsprechend handeln. Denn es ist im Voraus nicht abzusehen, auf welche realen Bedingungen ein islamisches Minderheitenrecht stoßen würde. Es würde den gesellschaftlichen Entwicklungen immer hinterherhinken, was zu Unklarheiten führen würde. Daher kann es allenfalls eine vorübergehende Maßnahme sein.
Die aktuellen Debatten manifestieren, dass es einen großen Bedarf an Neuinterpretationen der religiösen Praxis gibt. Dies gilt natürlich nicht für die islamischen Glaubensfundamente. Muslimische Rechtsgelehrte sind gehalten, diese Entwicklungen in den Rechtssystemen der Welt zu berücksichtigen. Natürlich ist es heute ebenso wenig möglich, bei Nichtmuslimen in islamischen Gesellschaften das klassische „Zimmi-Recht“(klassischer Rechtszweig, der die Rechte und Pflichten nichtmuslimischer Bürger in einem islamischen Gebiet regelt) anzuwenden, so wie es die Bestimmungen für im „Dâr al-Harb“(wörtl. Gebiet des Krieges) lebende Muslime vorsehen. Daher ist es unumgänglich, neue Begriffe in das islamische Rechtssystem aufzunehmen.
Bei der Entwicklung von Theorien ist es andererseits auch möglich, ausgehend von globalen Entwicklungen unterschiedliche Anwendungsbereiche zu definieren. Einen Anhaltspunkt bietet das Vorgehen von frühen Rechtsgelehrten wie das des Kalifen Umar, das zunächst den Eindruck erweckte, im Widerspruch zur wortwörtlichen Bedeutung des Korans zu stehen, bei der Durchsetzung eigener Idschtihad (eigenständige Urteilsfindung) beispielsweise bezogen auf die Verteilung der Zakat (Armensteuer).
Muslime dürfen also im sozialen Leben für sie möglicherweise nachteilige Umstände nicht vernachlässigen. Sie müssen im Rechtswesen mehr auf die zielorientierte Interpretation abzielen als auf die am Wortlaut orientierte Interpretation. In diesem Rahmen können auch mögliche Alternativen zu einem islamischen Minderheitenrecht diskutiert werden. Dazu kann man zunächst die Frage stellen, ob Muslime in den Rechtssystemen der europäischen Gesellschaften ihre Grundrechte und -freiheiten genießen, und ob sie ihren Glauben ohne äußere Beschränkung und ohne in Konflikt mit den jeweiligen Gesetzen zu geraten praktizieren können. Sofern dies der Fall ist, wird eine Aufweichung der religiösen Regeln nicht notwendig sein, und die Muslime können ihrem Gottesdienst und ihrer religiösen Praxis ungehindert nachgehen.
Der von Religion und ethnischer Zugehörigkeit losgelöste Staatsangehörigkeitsbegriff verschafft einer Person weitreichende Rechte, deren Wahrung der jeweilige Staat garantiert. Auch Muslime haben also auf der Grundlage des westlichen Rechtssystems die Möglichkeit, Forderungen an den Staat, dessen Staatsbürger sie sind, zu stellen. Anstelle der Einführung einer Form des islamischen Rechts, dem die meisten europäischen Bürger und Politiker ohnehin sehr ablehnend gegenüberstehen, wird es einfacher sein, sich auf die Bestimmungen bestehender Gesetze zu stützen, die jegliche Form der Diskriminierung verbieten und aufgrund des Staatsbürgerschaftsrechts auch für Muslime gelten. Die Lösung, auf dem Wege der Staatsbürgerschaft Rechte und Freiheiten geltend zu machen, ist nicht nur für eingewanderte Muslime praktikabel, sondern auch für Konvertiten.
Mit dem Verweis auf das in den Gesetzen westlicher Länder verankerte Prinzip der Gleichbehandlung aller Religionen und dem Diskriminierungsverbot, kann auch dem weit verbreiteten gesellschaftlichen Unwillen, Muslime an einer Reihe von Möglichkeiten teilhaben zu lassen, einfacher begegnet werden. Dagegen gleicht der Versuch, über die Etablierung eines islamischen Rechts in Europa gesellschaftliche Rechte einzufordern, der Quadratur des Kreises. Die Berufung auf die Prinzipien, die europäische Staaten zum Schutz ihrer Bürger in ihren Gesetzen verankert haben, und deren Anwendung auf jeden, der in diesen Staaten lebt, wird für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Muslimen realisierbarer sein.
Ausgehend von ihrem Anspruch an das eigene Rechtssystem, haben europäische Staaten für die Entwicklung der notwendigen Infrastruktur und institutionellen Mechanismen Sorge zu tragen und zu gewährleisten, dass Muslime von ihnen profitieren können. Aus Sicht der in Europa lebenden Muslime ist es ein Vorteil, dass sie sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich ihres Organisationsgrades in der Lage sind, diese Rechte effektiv einzufordern. Diesen Weg einzuschlagen, bedeutet ein System aufzubauen, das langlebig, dauerhaft, zeitunabhängig und unveränderlich, personenunabhängig und nicht Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten unter den Rechtsschulen ist.
Ein Handicap für die Schaffung eines islamischen Minderheitenrechts ist nämlich gerade die Tatsache, dass die europäischen Muslime unterschiedlichen Rechtsschulen angehören, und es deshalb schwierig ist, eine Autorität zu etablieren, die von allen Muslimen anerkannt wird.
Der Großteil der in Europa lebenden Muslime besitzt entweder eine europäische Staatsbürgerschaft, zumindest aber eine Aufenthaltserlaubnis, die sie – mit Ausnahme des aktiven und passiven Wahlrechts – zur Inanspruchnahme aller im Staatsgebiet geltenden Grundrechte und Freiheiten berechtigt. Selbst wenn der Unwille europäischer Politiker, die muslimischen Staatsbürger entsprechend der geltenden Gesetze zu behandeln, als ein Hindernis erscheint, ist unter den gegebenen Umständen eine Thematisierung der Diskrepanzen zwischen den, in den westlichen Rechtssystemen enthaltenen Prinzipien und ihrer Umsetzung vielversprechender, als ein Beharren auf einer wenn auch nur teilweisen Realisierung eines auf dem islamischen Recht beruhenden Modells.
Die vorurteilsbehaftete Haltung der europäischen Gesellschaften, nach der die Muslime mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, kann nur von den Muslimen selbst überwunden werden. Wenn sich Muslime in ihrem Auftreten, Verhalten und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Grundsätze der islamischen Ethik stützen, so kann dies die politisch motivierte Anti-Islam-Propaganda, die von gewissen Personen betrieben wird , in der öffentlichen Meinung unwirksam machen. Diese Auseinandersetzungen werden gewiss nicht problemlos verlaufen. Wenn man jedoch zu einer geregelten, rechtsbasierten Praxis gelangen will, muss man einsehen, dass dies nur auf Grundlage eines Regelwerks geschehen kann, das von Seiten des Staates anerkannt wird. Mit Fatwas und Genehmigungen, die man der Initiative von Einzelpersonen überlässt, wird man hingegen zu keiner wirksamen, dauerhaften und zielorientierten Praxis gelangen.
De facto ist es unmöglich, das islamische Recht vollständig in europäischen Gesellschaften umzusetzen. Selbst wenn wir das, was der Zustimmung einer Autorität bedarf und das, was eigenständig umgesetzt werden kann, voneinander trennen, so kann es dennoch vorkommen, dass eigentlich individuelle Entscheidungen plötzlich zum gesellschaftlichen Problem werden. Ein Beispiel dafür wäre das Kopftuch, das als politisches Symbol und Propagandainstrument missgedeutet wird und Anlass für weitreichende Verbote war. Solchen Entwicklungen kann mit einem islamischen Minderheitenrecht nicht begegnet werden. All die bisherigen Schwierigkeiten, sei es der Bau von Moscheen, das Kopftuch- und Burka-Verbot, die Verwendung religiöser Symbole oder das Thema „muslimische Schulen“, zeigen dass solche Probleme nicht durch die Forderungen der Muslime gelöst werden können, sondern allein durch eine konsequente gesetzliche Gleichbehandlung aller Bürger durch die europäischen Staaten. Deren Rechtssysteme besitzen, trotz ihrer relativen Unerfahrenheit, das Potenzial um in der beschriebenen Weise angewandt zu werden.
Gewiss hat das islamische Recht das Potenzial, für die vielen gesellschaftlichen und individuellen Problemstellungen der in Europa lebenden Muslime in gesetzlichem Rahmen eine Lösung zu finden. Doch ist es notwendig, bei der Lösung der Probleme der Muslime in Europa, anstelle eines vollständigen Denkens in Zusammenhängen des islamischen Rechts, sich darum zu bemühen, eine Lösung innerhalb der Rechtssysteme der europäischen Staaten zu finden. Individuelle innere Konflikte, die Personen bei der religiösen Praxis haben, könnten auf diese Weise gelöst werden, ohne dass es zu einer Konkurrenz zwischen den Rechtssystemen kommen muss.