Gehört der Islam wirklich zu Deutschland? Für weit verbreitete Vorurteile und Ängste macht Historiker Thomas Großbölting jahrzehntelangen Stillstand in der Politik verantwortlich. Es fehle an einem pluraleren Verständnis von Religion.
„Der Islam gehört zu Deutschland“ – Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich dieses Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zu eigen gemacht. Dennoch gelingt es der Anti-Islam-Bewegung Pegida, Woche für Woche viele Tausende Anhänger auf die Straße zu bringen. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur macht der Zeithistoriker Thomas Großbölting der Politik Vorwürfe.
In dieser Woche hat Bundeskanzlerin Merkel mehrfach den Satz von Ex-Präsident Christian Wulff aufgegriffen, der Islam gehöre zu Deutschland. Tut er das denn?
Der Islam und vor allen Dingen die Muslime, die in Deutschland leben, gehören ohne Zweifel zu Deutschland. Allerdings spiegelt dieser Satz nach wie vor nicht die Realität in unserem Land wider. Es gibt – und das zeigen die Pegida-Bewegung genauso wie Meinungsumfragen – viele Deutsche, die den Islam und seine Anhänger für bedrohlich halten. Es gibt also weiterhin eine große Distanz, die vor allem auf Unkenntnis basiert.
Woher kommt das?
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es ein tief eingeprägtes, auch durch die Politik gestütztes kulturelles Verständnis von dem, was als Religion legitim und gesellschaftlich angemessen ist. Zugespitzt gesagt ist das ein angepasstes und in vielerlei Hinsicht laues Christentum, das die bundesrepublikanische Normalmoral in höchstem Maße bedient: Diese Form der Religion ist nicht anstößig, sie bringt keine großen Debatten auf, sie stört nicht. Stattdessen liefert sie die gefragte religiöse Folklore und fügt sich damit problemlos zur Lebensweise der größeren Mehrheit in diesem Land. In diesem solchermaßen vorgeprägten Feld fällt es schwer, andere Religionen, die – je nach Sichtweise – vitaler oder anstößiger sind, zu integrieren.
Was könnte die Politik denn tun, um das aufzubrechen?
Die Religionspolitik steht seit mehreren Jahrzehnten still. Die großen Parteien tun nichts dafür, die Debatte über die Bedeutung wie auch über die Grenzen von Religion in und für unsere Gesellschaft wirklich offen zu führen. Deswegen sind wir schlecht vorbereitet darauf, dass es eine zunehmende religiöse Pluralisierung gibt und in den nächsten Jahrzehnten auch weiter geben wird. Auch die Debatte, die wir jetzt führen, ist keine von der Politik oder den Institutionen angestoßene. Man lässt sich nur von außen treiben – sei es durch den Anschlag von Paris oder durch Pegida. Dass man sich aber darüber hinaus für eine stärkere Integrationskultur und ein verändertes und offeneres Verständnis von Religion einsetzt, das kann ich auf politischer Seite nicht erkennen.
Im Gegenteil, Islamkritiker und Konservative berufen sich gerne auf christlich-abendländische Werte. Schließt man den Islam damit aus?
Wer unser Wertefundament nur religiös begründet, rutscht in die Falle, in die Pegida uns hineinmanövrieren will. Aus dieser engen 50er-Jahre-Perspektive heraus, in der das sogenannte Abendland den gemeinsamen Horizont bilden soll, kann man nicht religionsplural werden. Hinzu kommt, dass die Beschwörung des christlich-abendländischen Fundaments eher eine Leerformel ist. Wir müssen anerkennen, dass es bestimmte Werte in unserer Gemeinschaft gibt, die sich aus verschiedenen Quellen speisen, humanitär-säkularen ebenso wie religiösen. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlich- oder Geschwisterlichkeit und auch demokratische Grundsätze wie Meinungs- und Pressefreiheit sind aus einem ideengeschichtlichen Kosmos gewonnen, der weit über religiöse Einflüsse hinausgeht.
Wie sieht denn Politik für mehr Vielfalt der Religionen idealerweise aus?
In dieser Woche hat es auf der Islamkonferenz erste Ansätze gegeben. Man hat sich bemüht, den islamischen Gemeinschaften in Deutschland verstärkt die Möglichkeiten einzuräumen, die der Staat auch den beiden christlichen Großkonfessionen gewährt. So wird jetzt darüber diskutiert ob es neben Caritas und Diakonie und einem jüdischen Wohlfahrtsverband auch einen muslimischen geben sollte. Diese Ansätze zur Gleichbehandlung sind ein gutes Beispiel dafür, wie Zeichen für die politische Gleichstellung gesetzt werden. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass sich gesellschaftlich ein Mentalitätswandel einstellt. Dafür bedarf es einer großen zivilgesellschaftlichen Diskussion und des Dialogs unter den Religionsgemeinschaften. Das aber fällt einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen, die zunehmend religiös unmusikalisch wird, eher schwer. (dpa)