Pegida ist keine homogene Bewegung. Ihre Anhänger scheinen nur die „Unzufriedenheit“ und die „Sehnsucht nach etwas Besserem“ gemeinsam zu haben. Die Hintergründe erläutert der Kultur- und Sozialanthropologe Werner Schiffauer im Gespräch mit IslamiQ.
IslamiQ: Gibt es einen Nährboden für Pegida?
Schiffauer: Der Nährboden dafür liegt in der verbreiteten Islamophobie. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung sehen 57 Prozent der Deutschen im Islam eine Bedrohung. 40 Prozent fühlen sich wie „Fremde im eigenen Land“ und 24 Prozent würden Muslimen am liebsten ganz Zuwanderung nach Deutschland verbieten. Dies erlaubt es jetzt, die Muslime als Sündenböcke für die Entwicklung hinzustellen. Ganz ähnlich wie die Juden Ende der zwanziger Jahre für die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurden.
IslamiQ: Inwieweit kann die Pegida-Bewegung, die inzwischen zahlreiche Ableger in anderen Städten hat, als einheitliche, homogene Bewegung gesehen werden? Wie würden Sie deren Forderungen bewerten?
Schiffauer: Hört man sich die Interviews mit Pegida-Leuten an, so kommen eine Fülle sehr heterogener Punkte zum Vorschein. Da finden sich phantasmatische Ängste, dass die Tochter zum Tragen der Burka gezwungen werden könnte, neben Ängsten vor Altersarmut, neben der Kritik der Ukraine-Politik der Bundesregierung. Das gemeinsame dieser Punkte liegt darin, dass man nicht verstanden wird. Die Bewegung ist also extrem uneinheitlich. Sie suggeriert eine Gemeinsamkeit, indem sie den Islam als den großen Feind hinstellt. Über die Fokussierung auf einen gemeinsamen Volksfeind wird eine Geschlossenheit und Gemeinsamkeit vorgetäuscht, die rasch zerbröseln würde, wenn man sich auf die Probleme besinnen würde, die man tatsächlich hat.
IslamiQ: Im Hinblick auf die Wahlergebnisse rechtspopulistischen Parteien stellt man fest: Europa rückt nach rechts. Diese Parteien fordern mehr Mut zu einem stärkeren Nationalgefühl und Euroskeptizismus. Welche Konsequenzen hat ein solch exklusives Nationalbewusstsein für die Muslimen in Europa?
Schiffauer: Diese Entwicklung ist sehr ernst zu nehmen. Dies liegt daran, dass mit der Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses die Muslime immer mehr zu den Anderen Europas stilisiert wurden. Dies hängt meines Erachtens mit der Dynamik des Einigungsprozesses zusammen. Wenn Sie sich erinnern: 2004 und 2006 wurde die Europäische Union, jedenfalls was die Zahl der Länder betrifft, fast um das Doppelte erweitert. Zeitgleich scheiterten die Anläufe zu einer Europäischen Verfassung. Im Irak Krieg wurde dann von der Bush-Administration „Old Europe“ gegen „New Europe“ ausgespielt – und ließ sich ausspielen. Die jetzige Wirtschaftskrise machte Risse zwischen Norden und Süden deutlich. Kurzum: Man weiß nicht mehr, wofür Europa steht.
Es ist schon auffallend, dass zeitgleich der Islam als das Andere zu Europa entdeckt und das Erbe des „jüdisch-christlichen Abendlandes“ betont wurde. Anders formuliert: In dem Moment, in dem man nicht mehr wusste, wofür Europa steht, wurde der muslimische Andere bemüht: Dies erlaubte es zu sagen, was man nicht ist und darüber das Vakuum zu überdecken, das sich auftat. Diese Heranziehung eines Anderen zur Selbstdefinition hat Tradition. Die großen Anderen bei der Geschichte der Reichsgründung Deutschlands waren Frankreich und die Juden. Sie erlaubten es, über die inneren Heterogenitäten hinweg, die Nation zu begründen – die älteren Ideen einer Kultur- und Sprachnation hätten dazu nicht ausgereicht.
IslamiQ: Die Grundlage von Pegida ist, laut medialer Berichterstattung, sind wirtschaftlicher Art. Inwieweit spielt die neoliberale Nützlichkeitsideologie hierbei eine Rolle?
Schiffauer: Ich bin mir über diese Problembeschreibung nicht sicher. Ich habe den Eindruck, dass die Ursache von Pegida die postnationale Ordnung ist. Man sehnt sich nach dem homogenen Nationalstaat zurück. Überlegen Sie nur was der Nationalstaat bis in die siebziger Jahre alles umfasste: Einen Währungsraum, einen Wirtschaftsraum (Siemens und AEG waren deutsche Firmen), einen Sicherheitsraum, einen Medienraum (ARD und ZDF), einen Bildungsraum, einen Rechtsraum, und vergleichen Sie das mit der Situation heute. Wir haben den EU-Raum, den Euro-Raum, den Schengenraum, wir haben den Europäischen Menschgerichtshof – allenfalls der Steuerraum ist rein deutsch. Hinzu kommt, dass diese Räume nicht deckungsgleich sind: Die Schweiz ist im Schengenraum, aber nicht im EU Raum; Großbritannien ist im EU Raum, aber nicht im Schengen- und Euro-Raum. Wir haben überlappende Strukturen. Dies wirkt sich verunsichernd aus.
Die Idee der Souveränität, des Staatsvolks muss neu gedacht werden. Die Entscheidungshoheit liegt nur noch bei wenigen Prozessen innerhalb der nationalen Grenzen: Vielleicht erleben wir das heute am deutlichsten in Bezug auf Griechenland. All dies verweist auf reale Probleme: Die postnationale Ordnung hat noch kein Selbstbewusstsein. In derartigen Phasen gibt es regelmäßig eine Sehnsucht nach der soeben untergegangenen Ordnung. Man beginnt sich nach der scheinbaren Sicherheit des Nationalstaats zurückzusehnen – und übersieht dabei, dass die Ordnung die man zurücksehnt niemals so war, wie man sie sich heute imaginiert.
Man muss sich aber klar machen, dass derartige rückwärtsgewandte Positionen, wie sei von Pegida vertreten werden, keine Zukunft haben. Die ökonomische und mediale Vernetzung lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ein Nationalstaat wäre heute keine sichere Burg mehr, sondern wäre den Dynamiken des internationalen Kapitals hilflos ausgeliefert.
IslamiQ: Sie empfehlen ein Konzept für die „gesamte“ Gesellschaft, um menschenfeindliche Einstellungen zu beseitigen. Wurde die Integration bislang nur einseitig diskutiert? Was halten Sie davon?
Schiffauer: Integration wurde in der Tat ausschließlich als Integration, als Einpassung von Einwanderern in die Gesellschaft diskutiert. „Die“ sollen sich anpassen. Dem liegt eine Wir-Ihr-Unterscheidung zu Grunde. Wenn man den Begriff Integration überhaupt noch benutzen will, dann sollte man ihn gesamtgesellschaftlich denken: Gesellschaften können sich integrieren oder sie können desintegrieren – also zerfallen. Wenn man das so sieht, dann sind die Handlungen von Pegida im hohen Maße desintegrativ. Sie legen wie jeder Rassismus die Axt an die Wurzel des Zusammenhalts der Gesellschaft.
IslamiQ: Ihrer Meinung nach braucht man eine Leitbild-Kommission. Was meinen Sie mit diesem Begriff?
Schiffauer: Deutschland hat sich als Einwanderungsland definiert. Aber es hat bislang nur rudimentär auch eine Kultur der Einwanderungsgesellschaft entwickelt. Damit meine ich etwa, dass die eben angesprochenen Wir-Ihr-Unterscheidungen noch alles dominieren. Wenn hierzulande von „Wir Deutschen“ gesprochen wird, dann werden noch immer die – wie soll ich sie nennen – Herkunftsdeutschen, Bio-Deutschen oder Ethnodeutschen damit bezeichnet. Schwarze Deutsche, aber auch die Enkel oder Urenkel von Einwanderern werden dabei nicht inkludiert.
Dies ist deutlich anders als in den USA. Dort ist sogar der Satz denkbar, dass der zuletzt Gekommene der wahre Amerikaner ist – eben weil der die amerikanischen Tugenden – harte Arbeit, Aufstiegswillen – stärker verkörpert, als die Alteingesessenen. Ein derartiger Satz lässt sich in Deutschland gar nicht denken. Soweit werden wir auch nicht kommen. Aber was wir erreichen können ist ein inklusiveres Wir. Es gibt diesbezüglich auch ermutigende Tendenzen. In Bezug auf unsere Städte hat ein derartiges „Wir“ herausgebildet. Städtische Gesellschaften verstehen sich als Einwanderergesellschaften. Wenn wir von „Wir Berliner“ oder „Wir Kreuzberger“ reden, dann sind selbstverständlich Zuwanderer mit eingeschlossen. Dies könnte als Modell dienen. Dahin müssen wir in Hinblick auf Deutschland auch kommen.
IslamiQ: Die Pegida-Bewegung spricht von sich als einer Volksbewegung aus der Mitte der Gesellschaft. Wie würden Sie dies bewerten? Und was bedeutet in diesem Kontext die Selbstbezeichnung „Wutbürger“? Wo sind hier Fehler in der Politik gemacht worden?
Schiffauer: Die Pegida-Bewegung ist eine klassisch populistische Bewegung. Sie beansprucht im Namen „des“ Volkes zu sprechen. Dies richtet sich primär gegen die Eliten. Die Parteien, die Kirchen, die Unternehmer, die Wissenschaftler, die Medien täuschen vermeintlich aus Gründen der politischen Korrektheit die Bevölkerung über die Gefahren der Islamisierung Deutschlands. Dabei können die Vertreter der Bewegung allerdings kaum auf Erfahrungswissen zurückgreifen – es gibt ja kaum Muslime in Dresden.
In dieser Kritik der Eliten kommt ein durchaus ernstzunehmendes Gefühl, ausgeschlossen zu sein, also ein Gefühl von Politikverdrossenheit, zum Ausdruck. Nicht hinzunehmen ist es jedoch, wenn eine religiöse Minderheit, für diese Situation namhaft gemacht wird. Das erinnert dann doch sehr an die Weimarer Zeit, als die Juden für die Probleme der Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht werden. Man fragt sich auch, welches der Probleme gelöst würde, wenn die vermeintliche Islamisierung gestoppt wird. Auch dieses Stilisieren von Minderheiten zu Sündenböcken ist ein typisches Merkmal von populistischen Bewegungen. Wie wäre die Welt so schön, wenn man sie los wäre und man wieder ein geschlossener Volkskörper sein könnte.
Es ist übrigens kein Zufall dass die Bewegung in Ostdeutschland so stark ist. Die Ostdeutschen haben für die Wiedervereinigung mit der Parole „Wir sind ein Volk“ gekämpft. Diese Idee des einen Volkes erwies sich als Schimäre. Die Bürger, die sich damals für die Idee des Volkes starkmachten, werden heute nach wie vor als „Ossis“ stigmatisiert.