Präventive Maßnahmen schüren den Verdacht gegen Muslime. Andererseits ist unbestritten, dass Gewalt „im Namen des Islams“ ausgeübt wird. Der Islamwissenschaftler Ali Özgür Özdil zeigt Möglichkeiten auf, wie Muslime ihre Probleme lösen können, ohne selbst problematisiert zu werden.
IslamiQ: Vor allem nach dem 11. September werden Muslime mit Gewalt in Zusammenhang gebracht. Präventionsmaßnahmen sind zur Staatspolitik geworden. Unter den schillernden Begriffen „islamischer/islamistischer Extremismus“, „Radikalisierung“, „Salafismus“,„Neo-Salafismus„ oder „Dschihadismus„ wurden politische Konzepte entwickelt. Kann ein Muslim nach den Grundquellen des Islams überhaupt „radikal“ sein?
Özdil: Im Koran warnt Allah die „Leute der Schrift“ davor, bis zum Äußersten zu gehen (Sure Nisâ, 4:171). Dieser Vers ist natürlich nicht nur für die „Leute der Schrift“ verbindlich, sondern auch für Muslime. Außerdem befahl der Prophet seinen Gefährten: „Geht in der Religion nicht zum Äußersten, denn bereits vor euch gingen die Völker zugrunde, weil sie ins Extreme gegangen sind.“ (Überliefert bei Ahmad ibn Hanbal, Nasâî und Ibn Mâdscha)
Bei der Verwendung der genannten Begriffe muss man vorsichtig sein. Begriffe, die für Muslime positiv besetzt sind, z. B. „Dschihad“ oder „Scharia“, können beim Gegenüber einen falschen Eindruck hinterlassen. Solche problematischen Begriffe müssen sorgfältig definiert und richtig interpretiert werden. Wenn jemand beides nicht kann, sollte ihm gesagt werden: Verwende diese Begriffe nicht.
IslamiQ: Es muss also die goldene Mitte gefunden werden.
Özdil: Ja. Aus dem 19. Vers der Sure Lukmân geht hervor, dass wir einem „mittleren Weg“ folgen sollen. Da unser Prophet seine Gefährten selbst bei guten Werken, z. B. den Gebet oder dem Fasten, davor gewarnt hat, bis zum Äußersten zu gehen, liegt es auf der Hand, dass die Überschreitung moralischer und rechtlicher Grenzen bedeutet, „extrem“ zu sein. Wenn uns unsere Religion selbst im Kriegsfall Grenzen gesetzt hat (siehe z. B. Sure Bakara, 2:190), was soll man dann über jene sagen, die selbst im Frieden die Grenzen überschreiten?
Nach einem Ausspruch unseres Propheten wird den Gläubigen die Erlösung nicht durch gute Taten, sondern einzig und allein durch die Barmherzigkeit Allahs zuteil. In einer anderen Überlieferung heißt es, ein wahrer Muslim sei nur derjenige, der für andere dasselbe wünscht, was er für sich selbst wünscht. Daran zu erinnern und zu wissen, wonach unser Islam und unser Glaube bemessen werden, ist wichtig.
IslamiQ: Wie definieren Muslime in Deutschland „Extremismus“? Nehmen sie Extremismus eher als religiöses oder als soziales Problem wahr?
Özdil: Nach muslimischer Definition ist alles, was im Namen unserer Religion getan wird, ihr aber in Wort und Tat widerspricht, „Extremismus“. Ungeachtet der Probleme von Muslimen in der deutschen Gesellschaft oder der Probleme der Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung lässt sich feststellen, dass Ungerechtigkeit und soziale Konflikte der Ursprung von Gewalt sind.
Muslimische Gemeinden haben sich immer wieder durch Presseerklärungen von Terror, Gewalt und Extremismus distanziert, besonders nach dem 11. September oder nach so genannten „Ehrenmorden“, die von deutschen Medien dazu genutzt wurden, eine Verbindung zwischen dem Islam und Gewalt herzustellen. Sie haben zu diesen Themen Kampagnen und Demonstrationen organisiert. Dies ist alles auf den Internetseiten der Gemeinden zu finden. Deutsche Medien verbreiten diese Informationen aber im Allgemeinen nicht. Das hinterlässt bei der Mehrheitsgesellschaft den Eindruck, Muslime würden Gewalt befürworten und unterstützen. Diese Tatsache zeigt, dass wir in den Medien noch mehr Mitspracherecht benötigen.
IslamiQ: Im Rahmen von Präventionsmaßnahmen ist zu beobachten, dass Begriffe wie „Islamismus“, „Salafiyya“ und „Scharia“ inhaltsleer und oft synonym gebraucht werden. Sollten derartige Programme unterstützt werden?
Özdil: Unter den Muslimen gibt es Menschen, die eine dualistische Weltsich haben und die Welt in Gläubige und Ungläubige aufteilen. Aber auch auf der anderen Seite gibt es diese Sichtweise, die Menschen danach beurteilt, ob sie demokratisch sind oder nicht, aufgeklärt sind oder nicht oder ob sie Menschenrechte befürworten oder nicht. Die Verfechter dieser Ansicht sind in Politik und Medien vertreten.
Beide Seiten bauen ihre Gedanken auf einem Freund-Feind-Schema und versuchen auf diese Weise Anhänger zu gewinnen. Beispielsweise werden Begriffe wie „Dschihad“ und „Scharia“ in enger Auslegung und mit politischer Stoßrichtung verwendet. Plötzlich wird aus Islam „Islamismus“ und der Wertschätzung der Salaf (der Altvorderen), die jedem Muslim als Vorbilder dienen, mit „Salafismus“ werden negative Emotionen geweckt. Solche Methoden machen die Schaffung einer Umgebung der Toleranz und des Friedens unmöglich.
In puncto Präventionsmaßnahmen sollten Experten beauftragt werden. Wie sollen Personen, die weder von der Kultur, Geschichte und religiösen Grundlagen des Islams Kenntnis haben und ihre Sprachen nicht sprechen, Jugendlichen Lösungen anbieten? Wer kann das Empfinden eines Muslims besser nachvollziehen als Muslime selbst?
IslamiQ: Man versucht Muslime als Partner in Sicherheitsfragen zu gewinnen. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Muslime als Teil des Sicherheitsproblems gesehen werden. Oder werden sie in dieser Frage einfach als relevante gesellschaftliche Akteure betrachtet?
Özdil: Es wäre schön, wenn der Staat Muslime vor allem deshalb in Sicherheitsfragen und bei der Schaffung von Präventionsmaßnahmen einbeziehen würde, weil er sie als gesellschaftliche Akteure betrachtet. Statistisch gesehen sind weniger als 0,1 Prozent der Muslime gewaltbereit.
Noch vor wenigen Jahren suchte man die Quelle aller Probleme in den Moscheen. Moscheen wurden als Orte angesehen, in denen „radikale Gläubige“ oder „Islamisten“ erzogen werden. An diesem negativen Image tragen auch die Moscheen selbst eine Mitschuld. Obwohl in Deutschland mittlerweile die vierte Generation der Muslime heranwächst, blieben Themen wie die Übersetzung der Freitagspredigten in Deutsche oder das Angebot von Gemeinschaftsaktivitäten in deutscher Sprache, ziemlich zurück. Diese Lücke wurde durch Gruppen außerhalb der Moschee und Gemeinde gefüllt, die Plattformen wie YouTube aktiv nutzen. Nach 50 Jahren begann der Staat letztlich einzusehen, dass Moscheegemeinden zwar konservativ, aber nicht gewaltbereit sind.
IslamiQ: Das Bundesinnenministerium startete 2012 die „Vermisst“-Kampagne, die auf allen Seiten heftige Reaktionen hervorrief. Haben die aktuelle Präventivmaßnahmen nicht dieselbe Stoßrichtung?
Özdil: Aus der Perspektive des Staates und der Mehrheitsgesellschaft wurden Muslime bislang nicht als Gruppe angesehen, die die Gesellschaft mit ihren Sprachen, Kulturen, Einrichtungen und Geschäften bereichern. Stattdessen dominierte das Bild – zugespitzt formuliert – rückständiger Menschen, die ihre Töchter zwangsverheiraten, in der Familie Gewalt ausüben, morden und auf Kosten des Staates Terroraktionen planen.
Auch wenn die Muslime in Deutschland ihre Wurzeln in 60 verschiedenen Ländern haben, mittlerweile in der vierten Generation hier leben und mehr als die Hälfte von ihnen deutsche Staatsbürger sind, zeigen Statistiken, dass ein großer Teil der Gesellschaft sich vor Muslimen fürchtet und sie nicht hier haben möchte. Politik und Medien orientieren sich an diesem Meinungsbild und schaden damit nicht nur 99,9 Prozent aller Muslime, die in der Gesellschaft in Frieden leben, sondern auch der deutschen Gesellschaft. Wovor man sich in der Gesellschaft am meisten fürchten sollte, ist das menschenverachtende Gedankengut rechtsradikaler und rassistischer Gruppen.
IslamiQ: Was tun Muslime gegen „Extremismus“ oder „Gewaltbereitschaft“? Auf welcher Grundlage können Muslime gegen Extremismus kämpfen, ohne dass der Islam oder sie selbst problematisiert werden?
Özdil: Betrachten wir einige Beispiele aus der Geschichte: Wie ging der Gesandte Allahs mit den Mekkanern um, die ungefähr 17 Jahre lang die Muslime verfolgt hatten, als er Mekka im Jahre 630 vom Götzendienst befreite? Welches Edikt erließ Umar, als er Jerusalem besetzte? Dasselbe gilt auch für die Eroberung Istanbuls durch Fatih Sultan Mehmet. Ist es da nicht offensichtlich, wie weit die „Muslime“, die unter dem Banner des Tawhîd in Syrien und im Irak Menschen aufgrund ihrer Religion vertreiben und ermorden von den Prinzipien des Koran und der Sunna, der Lehre, des Anstands und der Moral entfernt sind?
Unsere Lösungsvorschläge sollten auf die Verwirklichung eines der Grundsätze des Islams, der „Maslaha“ (Gemeinwohl), abzielen. Wir sind dazu verpflichtet, den Vertretern von Staat und Medien zu beweisen, dass es im Islam zu allen gesellschaftlichen Problemen Lösungen gibt. Wir müssen mit allen gesellschaftlichen Einrichtungen, vor allem mit Schulen, kooperieren. Diese wiederum müssen einsehen, dass eine Zusammenarbeit mit uns unerlässlich ist.
Anderenfalls werden Jugendliche, die ihre Religion praktizieren möchten, ihr Wissen weiterhin nur oder überwiegend aus dem Internet beziehen. Die Verse, Hadithe oder Fatwas, die sie von ihren Internet-Imamen, denen Barmherzigkeit und Anstand fremd sind, lernen, werden sie dann als Waffen gegen die Gesellschaft richten, anstatt sie nutzbringend für diese einzusetzen. Auf diese Weise werden beide Seiten verlieren.
IslamiQ: Wenn über Radikalität diskutiert wird, ist der Ruf nach Reformen nicht weit. Gibt es Ihrer Meinung nach unter den Muslimen einen Teil, der vor allem aufgrund seiner Religion gewaltbereit ist? Sollten Gründe für eine Neigung zur Gewalt im Islam gesucht werden?
Özdil: Ist das Thema wirklich die Religion des Islams? Seit wann werden Reformdebatten geführt oder eine politische Agenda, z. B. zum Begriff des „Islamischen Staates“, diskutiert? Diese Debatten begannen nach dem europäischen Kolonialismus. Es wurde versucht, alternativ zur politischen Entwicklungen in der europäischen Geschichte, wie dem Säkularismus, Laizismus, Sozialismus, Kommunismus, Faschismus oder der Demokratie, ein islamisches politisches Modell zu entwickeln.
Man begann damit, den Islam zu einer politischen Ideologie zu formen. Manche schlossen sich dem Versuch an, das Kalifat wieder einzuführen, andere dem Vergleich zwischen Schura und Demokratie. Die spirituelle und geistige Dimension des Islamss wurde vollständig vergessen. In diesem Umfeld wurde der Islam zu einer Ideologie. Diese ideologischen Gruppen bilden zwar eine Minderheit, drängen sich aber erfolgreich in den Vordergrund. Deshalb wird der Islam nicht aufgrund seiner spirituellen und geistigen Bedeutung diskutiert, sondern auf der politischen Plattform als Konkurrent der Demokratie aufgebaut. Aus diesem Grund stellen manche die falschen Fragen an uns, z. B. „Kommt nach Ihrer Meinung an erster Stelle der Koran oder das Grundgesetz?“ oder „Demokratie oder Islam?“.
IslamiQ: Die Ursachen der Gewalt liegen also woanders.
Özdil: Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Islam und Gewalt zeigen, dass die Gründe für Gewalt in Ungerechtigkeit und Unterdrückung liegen. Beide hängen einerseits mit der Ausbeutung durch die Industrienationen und ihren Kriegen gegen islamische Länder zusammen, andererseits aber auch mit den Gewalttaten der diktatorischen Herrscher dieser Länder gegen ihr eigenes Volk.
Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass gewaltbereite muslimische Jugendliche über sehr geringes, nicht einmal rudimentäres Wissen über den Islam verfügen und in ihrem privaten Umfeld Ungerechtigkeit und Gewalt ausgesetzt sind. Manche Probleme, die Jugendliche zu Gewalttätern machen, haben also nichts mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben, andere beruhen vollständig auf biografischen Besonderheiten.
Der Islam ist für viele Menschen in dieser Situation eine Hoffnung und ein Ausweg. Tatsächlich ziehen Internetprediger diese Jugendlichen auf ihre Seite, erklären, dass auch mit ihrer Hilfe ihre Probleme gelöst werden und geben ihnen Kraft und Hoffnung. Ein Jugendlicher, der bisher in seinem Leben nichts erreicht hat, sieht sich dann als Retter der islamischen Welt. Worin soll diese Rettung aber genau bestehen? Indem er den Menschen hilft oder sie bekriegt? Genau an dieser Stelle beginnt das Problem.