Im Interview betont der Islamwissenschaftler und Theologe Thomas Lemmen die Bedeutung von interreligiösem Dialog nach den Terroranschlägen der letzten Wochen. Man müsse gemeinsam muslimische Jugendliche vor salafistischen Predigern schützen, indem man sie nicht weiter aus der Gesellschaft ausgrenze.
Die Zusammenarbeit zwischen Muslimen und Christen ist nach den jüngsten Attentaten und Terroranschlägen „nicht einfacher geworden, aber jetzt nötiger denn je“. Darauf pocht Thomas Lemmen, Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Gesellschaft, im Interview. Der Theologe erhielt 2014 den Deutschen Dialogpreis und gibt Tipps, wie sich ein Abdriften von muslimischen Jugendlichen zu Salafisten verhindern lassen soll.
Herr Lemmen, Tote in Kopenhagen, Drohungen in Braunschweig, Anschläge in Paris vor sechs Wochen. Läuft die Zusammenarbeit zwischen Muslimen und Christen seitdem schlechter?
Lemmen: Der Dialog ist dadurch nicht einfacher geworden, aber jetzt nötiger denn je. Die Situation belastet Muslime ebenso wie Nicht-Muslime, denn die Ereignisse haben alle schockiert. Es hat sich gezeigt, dass die Beziehungen eben nicht eingebrochen sind, sondern fortgeführt werden. Hinzu kommen deutliche Zeichen der öffentlichen Solidarität. Bei Muslimen ist zum Beispiel sehr gut angekommen, dass der Kölner Dom anlässlich der Pegida-Demonstration verdunkelt wurde.
Wo erleben Sie, dass der Kontakt schwieriger geworden ist?
Lemmen: Die Berichte über Gewalt und Auseinandersetzungen bestimmen derzeit die Tagesordnung, und das führt schnell zu Pauschalisierungen nach dem Motto „Das ist das wahre Gesicht des Islam“. Wobei viele Muslime von diesen Gewaltexzessen genauso erschüttert sind wie wir.
Erhalten Sie verstärkt Absagen von Muslimen oder hören umgekehrt häufiger Sätze wie „Mit denen setzen wir uns nicht mehr an einen Tisch“?
Lemmen: Nein, im Gegenteil. Die Anfragen zu gemeinsamen Veranstaltungen nehmen sogar zu. Wir werden öfter eingeladen in muslimische Kreise und sprechen dort über das Zusammenleben. Dabei geht es sehr schnell auch um die Rolle der Religion. Es gibt dann vereinfachte Antworten, wonach der Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Aber der Autor Navid Kermani sagt zu Recht, dass solche Attentate sehr wohl mit der Religion zusammenhängen – allein weil die Täter sich auf den Islam berufen. Deshalb darf dieser Aspekt nicht verdrängt werden. Immer öfter ringen wir aber gemeinsam mit Muslimen um aktuelle Fragen des Miteinanders in der Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir uns mit religiös motivierter Gewalt in Christentum und Islam auseinandersetzen.
Welche Beispiel gibt es dafür?
Lemmen: Im Erzbistum Köln haben wir gerade einen Arbeitskreis zu sozialethischen Fragen neu belebt. Die Teilnehmer befassen sich mit der Sozialethik aus christlicher sowie aus muslimischer Sicht, aber auch mit konkreten Einzelthemen etwa in der Medizin- oder Bioethik. So verschaffen wir gemeinsamen Positionen öffentlich Gehör. Christen und Muslime machen hier deutlich, was sie eint und was sie voneinander unterscheidet.
Das klingt sehr wissenschaftlich.
Lemmen: Auch in der Notfallseelsorge und der Hospizarbeit bringen wir mehr und mehr Projekte gemeinsam auf den Weg, ohne dass es eine Vermischung gibt. Christliche Seelsorger unterstützen Muslime dabei, Muslimen in Not seelsorgerisch beizustehen, etwa nach einem Unfall oder einer Selbsttötung. Da zeigt sich, dass viele Muslime bereit sind, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland eine wachsende Zahl von Salafisten, also Anhänger der äußerst konservativen Islam-Strömung.
Lemmen: Mit Sicherheit ist der Salafismus eine wachsende Gruppierung unter Muslimen in Deutschland. Salafisten verstehen es, auf die Straße zu gehen und Leute systematisch anzuwerben, und zwar mit einfachen Antworten auf komplizierte Fragen.
Wer ist Ihrer Meinung nach am anfälligsten für die Botschaft von Salafisten?
Lemmen: Eine empirische Grundlage fehlt. Aber aus meiner Beobachtung sind es viele perspektivlose und verunsicherte Jugendliche, die im sozialen Abseits stehen und Orientierung suchen. Also Menschen, die wenig Halt haben, die sich in unserer Gesellschaft diskriminiert und nicht zu Hause fühlen. Fast alle nehmen es so wahr, dass sie als Muslime nicht anerkannt sind. Solche Menschen finden bei den Salafisten schnell eine Heimat. Hinzu kommt, dass sie oftmals kaum etwas über Religion wissen und daher nicht beurteilen können, was Salafisten ihnen einreden.
Dann haben Sie sicher auch Tipps, wie sich ein Abdriften verhindern lässt.
Lemmen: Am wichtigsten ist die Einführung von islamischem Religionsunterricht. Er vermittelt einen Islam in deutscher Sprache, durch ausgebildete Lehrer und nach anerkannten Schulplänen, die mit unserer Verfassung übereinstimmen. All das stärkt islamische Mainstream-Mentalität.
Und außerdem?
Lemmen: Wir sollten es gar nicht so weit kommen lassen, dass sich muslimische Jugendliche als ausgegrenzt erleben. Stattdessen sollte eine Kultur der Anerkennung und der Wertschätzung des Islam vermitteln werden, am besten schon im Kindergarten und in der Grundschule. Dass bereits dort erklärt wird, was ein Opferfest ist und wie der Ramadan gefeiert wird. Das müssen Nicht-Muslime ja nicht übernehmen, aber sie sollten darüber Bescheid wissen – ebenso wie über christliche Grundlagen und Bräuche. Und dann gibt es natürlich noch die soziale Dimension: auf die Straße gehen und die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Einige Initiativen machen das bereits. Sie arbeiten ähnlich wie die Salafisten, nur mit einem anderen Ziel.
Wie arbeiten diese Initiativen genau, zum Beispiel in sozialen Brennpunkten?
Lemmen: Sie gehen durch die Straßen, sprechen Jugendliche an, fragen nach ihren Problemen und versuchen, diese Jugendliche in Netzwerke der Gesellschaft zu vermitteln – beispielsweise über einen Lehrer oder über Sozialwerke. Es gibt in vielen Städten Kontaktbeamte der Polizei. Denn der Einsatz gegen den Salafismus kann nur gemeinsam gelingen. Muslime sind also nicht das Problem, sondern Teil seiner Lösung. Nur gemeinsam mit ihnen kann der Salafismus überwunden werden. (KNA)