Antisemitismus

Muslime und Juden sind keine Feinde

Ein böses Vorurteil, das nicht nur in Israel populär ist: Europa sei gefährlich für Juden, wegen der Muslime. Das entspricht aber weder der Statistik noch dem Alltag. Ein Gastbeitrag von Armin Langer.

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03
2015
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„Wer von euch ist hier der Jude?“, fragte die TV-Journalistin ungeduldig. Ozan, ein muslimischer Freund und Mitstreiter von mir, und ich, „der Jude“, saßen in einer türkischen Bäckerei in der Hermannstraße in Berlin-Neukölln. Die Journalistin ließ die Scheinwerfer auf uns richten, dann stellte sie mir dramatische Fragen am laufenden Band: Hast du nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen keine Angst, in Europa zu wohnen? Bedrohen dich die krassen Jungs von Neukölln? Warum ziehst du eigentlich nicht nach Israel?

Ich schaute die Frau hinter dem grellen Licht verblüfft an. Will sie, dass ich Berlin verlasse? Wünscht sie sich ein judenfreies Europa? Arbeitet sie im Wahlkampfteam von Benjamin Netanjahu, der nicht müde wird, uns europäische Juden nach Israel holen zu müssen?

Nach dem Anschlag in Kopenhagen, bei dem ein verstörter, palästinensischstämmiger 22-Jähriger einen jüdischen Wachmann vor einer Synagoge erschoss, bildeten in Oslo 1.300 Muslime einen Friedensring um das jüdische Gotteshaus. Darüber hat die Journalistin nicht gesprochen. Sie hat auch meinen muslimischen Freund während des Interviews nicht wahrgenommen, obwohl Freundschaft zwischen Muslimen und Juden eben die alltägliche Normalität in Europa ist.

Feindschaft ist nicht die Norm. Paris und Kopenhagen sind die Ausnahmen, die seltenen Beispiele für das Scheitern jüdisch-muslimischer Beziehungen. Im koscheren Supermarkt in Paris rettete ein Muslim selbstverständlich das Leben mehrerer Juden. Auf einer alltäglichen Ebene funktionieren jüdisch-muslimische Beziehungen genauso wie die zu anderen Religionen und Kulturen.

Antimuslimische Ressentiments

Die Fokussierung auf die Ausnahme, also auf die islamistische Bedrohung, nutzt vor allem dem wahlkämpfenden Benjamin Netanjahu. Als er im Januar in der großen Synagoge von Paris die französischen Juden aufrief, nach Israel zu ziehen, fingen die anwesenden Gläubigen an, inbrünstig die Marseillaise in sein Gesicht zu singen. Ich muss zugeben, dass ich mir das Video mehr als nur ein Mal angeschaut habe: Bibis verwirrter Blick spricht für sich. Er, der israelische Regierungschef, der sich für alle Juden der Welt verantwortlich fühlt, verstand diese undankbaren Juden vor ihm nicht.

In „Eurabia“ sei es für Juden gefährlich, so Netanjahu, die israelischen Mainstream-Medien verbreiten seine Ansicht. Für diese Argumentation wird eine schwarz-weiße Welt gemalt, in der Juden und Muslime per se Feinde sind. Netanjahu versucht, den Nahostkonflikt nach Europa zu importieren, Juden automatisch als bedingungslose Unterstützer der israelischen Regierung und Muslime automatisch als Feinde des Staates Israel, also als Antisemiten darzustellen. Diese israelische Argumentation spiegelt sich auch in der Narrative des jüdischen Establishments hierzulande wider.

Antisemitische Straftaten durch Nichtmuslime

Die Zahlen der Bundespolizei stehen jedem zur Verfügung: Mehr als 95 Prozent aller antisemitischen Gewalt- und Straftaten werden in Deutschland durch nicht-muslimische Deutsche verübt. Antisemitische Gewalt kommt unter Muslimen nicht häufiger vor als unter Nicht-Muslimen. Wenn jemand trotzdem behauptet, dass die sogenannten muslimischen Gegenden für Juden gefährlich seien, schürt er nur antimuslimische Vorurteile und verhindert einen ehrlichen Dialog über den Antisemitismus der Mitte. Dieser im Abendland verankerte Antisemitismus bezeichnet die rituelle Beschneidung als barbarisch, das koschere Schlachten möchte er verbieten.

Beide Themen aktivieren im Namen der Menschen- und Tierrechte gute alte Stereotype aus dem antisemitischen Kanon Europas. Ich habe viel mehr Angst vor dieser Bedrohung, denn die antisemitische Mitte hat viel mehr Macht als muslimische Antisemiten. Dieser Antisemitismus ist viel mehr in der Lage, unsere Rechte, die Rechte der Juden zu begrenzen. Übrigens, in diesem Kampf gegen kulturspezifische Un- bzw. Missverständnisse haben wir Juden ähnliche Interessen, wie unsere muslimischen Brüder und Schwestern.

Kooperation mit Muslimen notwendig

Wir brauchten auch deswegen eine stärkere politische Kooperation mit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland, gegen die wir stets aufgehetzt werden.

Josef Schuster rief aber stattdessen die Juden Deutschlands neulich auf, keine Kippot in den sogenannten muslimischen Vierteln zu tragen. Er sah wahrscheinlich das Video nicht, in dem ein Jude mehrere Stunden lang in Neukölln und Kreuzberg mit einer Kippa problemlos herumlief. Eine halbe Stunde später erreichte mich eine E-Mail einer Bekannten. Sie brauchte Schusters Aussage, um sich bei mir zu melden, sie möchte bei unserer muslimisch-jüdischen Initiative mitmachen. Es gebe noch viel Arbeit, schrieb sie.

Ich war enttäuscht, weil ich großen Respekt für den neuen Präsidenten des Zentralrates hatte: Schuster verurteilte die Pegida-Bewegung und erhob seine Stimme gegen antimuslimischen Rassismus. Und jetzt plötzlich dieses Interview, in dem Muslime und Juden schon wieder als Feinde dargestellt werden. In dieser Welt würde ich nicht gerne leben.

Zum Glück ist die Realität anders. Der Alltag zeigt nämlich ein ganz anderes Bild: Er zeugt von der Langeweile des friedlichen Zusammenlebens.