Rassismus ist ein umfassendes Phänomen. Also müsste es auch Rassismus unter Muslimen geben!? Ob das so ist, wie muslimische Gesellschaften mit „Fremden“ umgehen, dass es auch Rassismus unter muslimischen Gesellschaften gibt und was Muslime dagegen tun können, schreibt Ali Mete.
Allgemein gibt es zwei Arten von Fremdheitserfahrungen: objektive und subjektive Fremdheit. Von objektiver Fremdheit spricht man, wenn etwas als fremd empfundenes in den Bereich des Eigenen eintritt. Ein Beispiel hierfür sind Flüchtlinge. Subjektive Fremdheit hingegen ist das Gefühl, dass man selbst erlebt, wenn man sich als Fremder fühlt. Das passiert etwa auf einer Reise in ein unbekanntes Land oder aber auch, wenn man zum ersten mal eine Moschee, Kirche oder Synagoge besucht.
Beide Erfahrungen sind unterschiedlich intensiv in allen Kulturen vorhanden. In der islamischen Kultur hingegen spielt die objektive Fremdheitserfahrung eine untergeordnete Rolle. Vielmehr steht die subjektive Fremdheit im Vordergrund. Wie diese aussah, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus der vormodernen Zeit der islamische Kultur (9.-15. Jahrhundert) erläutert werden.
In vielen Kulturen wurden Fremde außerhalb der eigenen Grenzen als unzivilisierte „Barbaren“ betrachtet, die es zu zivilisieren und zu missionieren ging. Nicht so in der islamischen Kultur.
Es ist nicht verwunderlich, dass es in der islamischen Kultur keinen Oberbegriff gibt, der Völker zu „Fremden“ zusammenfassen würde. Vielmehr bemühte man sich, die Völker beim Namen zu nennen. So etwa bei dem Literaten Masûdi (gest. 956), Verfasser eines Geschichts- und Geographiebuches. Eine kollektive Bezeichnung für die Fremden gibt es bei ihm nicht. Ihm ging es eher darum, die Völker mit ihrer eigenen Bezeichnung zu nennen und sie in die Menschheitsgeschichte einzuordnen.
Ähnliches gilt, wenn man den Blick nach Innen, Richtung muslimische Gesellschaften richtet. Auch hier werden Menschen mit einem bestimmten Merkmal definiert, ohne dass sie als Kollektiv ausgegrenzt werden. Das gilt auch, wenn von einer anderen Religion gesprochen wird. Christen sind erst einmal nur Christen, Juden nur Juden und Ungläubige nur Ungläubige. Sie sind nicht „fremd“, weil sie Christen, Juden oder Ungläubige sind. Eine über die Religionszugehörigkeit hinausgehende Fremdheit wird nicht impliziert.
Das Wort für dt. „fremd/Fremder“ ist „Garîb“. Ein Fremder wird man, wenn man sich in der „Gurabâ“ befindet. Im Türkischen ist dies „Gurbet“.
Fremdheit wird in der islamischen Kultur vor allem verstanden als Verlust bzw. das Fehlen sozialer Beziehungen, also der Trennung von Familie und Freuden. In einem Gedicht schreibt Taâlibî:
Ein Mann braucht eine Zuflucht bei Familie und Gefährten,
dort wo er sicher und geborgen findet sein Behagen.
Wer in die Ferne zieht, wird dort nicht respektiert. Man fürchtet
Den Löwen kaum, wenn es ihn weit vom Lager hat verschlagen.
Um sich fremd zu fühlen, muss man nicht in ferne Länder reisen. Diese Fremdheit kann man auch in der Heimat empfinden. Der Hadithgelehrte Hattâbî (gest. 998) dichtete:
Die Fremdheit des Menschen entsteht nicht durch weite Entfernung,
sondern durch den Mangel an Übereinstimmung.
Ich bin ein Fremder inmitten der Bewohner von Bust, obwohl unter
ihnen meine Familie und meine Angehörigen sind!
Doch gab es denn gar keine Vorurteile in muslimischen Gesellschaften? Sicherlich gab und gibt es die. Es ist menschlich, wenn gewisse äußere Merkmale je nach Zeit und Ort als gut oder schlecht, als hässlich oder schön empfunden werden. Doch trotz vorhandener Vorurteile entstand innerhalb der islamischen Kultur weder eine ausgefeilte Rassentheorie noch eine bewusste Rassendiskriminierung.
Der außergewöhnlichen Integrationskraft der islamischen Kultur ist es geschuldet, dass es immer wieder gelang, neue, zuerst als störend empfundene Phänomene, etwa neue religiöse Strömungen und Ideen, relativ schnell ins Eigene hineinzunehmen. Die Strategie war nicht, das Fremde abzustoßen, sondern das Eigene zu erweitern, um eben auch das neue Fremde zu integrieren.
Entgegen dieser Grundstruktur islamischer Kultur hat es auch nationalistische und rassistische Bewegungen in der Geschichte muslimischer Gesellschaften gegeben. So wurde schon unter einigen umayyadischen Herrschern ein arabischer Nationalismus gefördert, der auf der Überlegenheit alles Arabischen basierte.
Ähnliche Bestrebungen finden sich auch in der heutigen islamischen Welt, meist in Verbindung mit zeitgenössischen politischen Ideologien wie dem Sozialismus, Kommunismus oder dem Nationalismus. Hier wird der Gedanke, welcher der Asabiyya zugrundeliegt, also das die Gesellschaft zusammenhaltende Gruppenbewusstsein, maßlos überhöht, ja missbraucht, um damit Ungerechtigkeiten zu verdecken oder zu rechtfertigen.
Interessant ist zudem, dass eine systematische und weitverbreitete Art des Rassismus in muslimischen Gesellschaften verstärkt in der Dekolonilalisierungsphase eintreten: Der nationale Staat musste eine Identität haben, welche sich grundlegend von der Identität seines Nachbarstaates unterschied. Schnell hat man aber feststellen müssen, dass diese vermeintlichen Unterscheidungsmerkmale letztlich nur Konstrukte waren, welche die Lebensrealität und die gesellschaftliche Zusammensetzung nicht wiedergaben.
So kann man bei einer genauen Betrachtung dieselben gesellschaftlichen Gruppen des Irak (Sunniten, Schiiten, Christen, Juden, Kurden, Türken, Araber) auch in der Türkei, im Iran, in Syrien und Ägypten wiederfinden. Die Bevorzugung einer bestimmten Gruppe – und damit die Ausgrenzung einer anderen – führt, wie man anhand der aktuellen Situation sieht, teilweise zu gewalttätigen Konflikten.
Was können und müssen nun Muslime angesichts des erstarkenden Rassismus in Deutschland tun? Muslime glauben daran, dass sie, wenn sie gestorben sind, noch im Grab nach ihrem Glauben, ihren Gebeten, ihrem Buch, ihrem Propheten usw. befragt werden. Je nachdem, wie sie ihr Leben verbracht haben, werden sie mehr oder weniger leicht auf diese Fragen antworten können. Die Frage, welcher Nation und Ethnie man angehört, befindet sich nicht unter den Fragen! Ganz im Gegenteil sagte der Prophet: „Am Tag der Abrechnung wird Gott nicht nach eurer Herkunft oder Abstammung fragen. Der beste unter euch bei Gott ist, wer sich am meisten vom Schlechten fernhält.“ (2)
Im Sinne dieser religiösen Überzeugung ist es auch Aufgabe der Muslime, im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und vor ihren Mitmenschen, „das Gute zu empfehlen und vom Schlechten abzuraten“. Hierbei muss das Wohl der gesamten Gesellschaft im Auge behalten werden und dem Eigeninteresse untergeordnet werden.
Muslime sollten sich bewusst sein, das Vorbehalte ihrer Religion gegenüber zwar tief verwurzelt sind, aber oft aus Unkenntnis erwachsen. Deshalb lautet das Gebot der Stunde: auf andere zugehen, das Kennenlernen fördern und eine persönliche Beziehung aufbauen. Dies gilt natürlich in gleichem Maße für muslimische Gemeinschaften, die eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit betreiben müssen und ihren Beitrag für die Gesellschaft deutlicher kommunizieren sollten.
All das kann natürlich nur dann fruchten, wenn Politik und Medien mitspielen, und endlich aufhören, sich auf dem Rücken von Minderheiten zu profilieren.
Fußnoten:
(1) Die folgenden Erläuterungen dieses Abschnitts basieren auf dem Aufsatz „Fremdheit in der klassischen arabischen Kultur und Sprache“, in: „Fremdes in fremden Sprachen“, Wilhelm Fink Verlag, München
(2) Muslim, Birr, 33