Vor fast 10 Jahren trat 2005 das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Prof. Schiffer-Nasserie schreibt über den Wandel der deutschen Migrationspolitik und die Auseinandersetzungen um das Thema „Integration“.
Vor fast 10 Jahren trat 2005 das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Neben großen Änderungen u.a. im Aufenthalts- und Staatsbürgerschaftsrecht kam darin ein grundsätzlicher Wandel der deutschen Migrationspolitik vom ethnisch definierten Nationalstaat zum modernen Zuwanderungsland zum Ausdruck. Seitdem beherrscht das Paradigma der Integration die migrationspolitische Auseinandersetzung. Scheinbar endlose Auseinandersetzungen um vermeintliche „Parallelgesellschaften“, „integrationsunwillige Ausländer“ und vor allem eine gehässig geführte Debatte über die Islamisierung des Abendlandes sind die Folge. Anlass genug für eine politische Bilanz…
Integration, also die Eingliederung in ein wie auch immer bestimmtes Gemeinsames, unterstellt den prinzipiellen Ausschluss der zu Integrierenden, hier also wörtlich der Ausländer. Dass dies nicht einfach Wortspielerei ist, zeigt sich im Ausländerrecht eines jeden Nationalstaats; in der Bundesrepublik im Zuwanderungs- bzw. Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Indem der Gesetzgeber dort genau definierte Bedingungen und Zwecke des rechtmäßigen Aufenthalts von Ausländern bestimmt (vgl. § 4 AufenthG), stellt er im Gegenzug klar, dass alle anderen auf seinem Hoheitsgebiet grundsätzlich nicht leben dürfen. Vor der Integration von besonderen Gruppen kommt die – durchaus wörtlich gemeinte – allgemeine Ausgrenzung der Ausländer.
Der Grund des prinzipiellen staatlichen Vorbehalts ist – wie sollte es auch anders sein – ihrer politischen Eigenschaft geschuldet. Als Bürger fremder Staaten unterstehen Ausländer der Verfügungsgewalt auswärtiger Souveräne. Als deren Volk sind sie „ihren“ Staaten praktischen Gehorsam und geistige Loyalität schuldig. Und eben das macht die Sache mit den fremden Staatsbürgern für die Bundesrepublik problematisch. Denn anders als bei ihren Bürgern kann sie nicht exklusiv und souverän über die Ausländer verfügen. Sie bleiben Teil eines fremden, konkurrierenden Staats, sind deren Volk, die Ressource seiner Macht.
Gerade weil in diesen grundsätzlichen Fragen alle modernen Nationalstaaten identisch sind, weil sie ihre Völker für sich, für ihre internationale Konkurrenz um Wachstum und politischen Einfluss beanspruchen, misstrauen sie den fremden Staaten und deren Bürgern grundsätzlich. Folgerichtig dient auch das neue Zuwanderungsgesetz zunächst „der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern“ (§1).
Auf Grundlage seines prinzipiellen Vorbehaltes gegenüber den Ausländern als Bürger fremder Staaten macht der Gesetzgeber Ausnahmen, sofern dies unter anderem den „wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik“ (§ 1 Abs. 1 AufenthG) entspricht. Wie alle großen Staaten behandelt die Bundesrepublik die Ressourcen der ganzen Welt als potentielles Mittel ihrer Bereicherung. Die Grenzen, die ihr andere Souveräne hinsichtlich der Verfügungsgewalt über Land und Leute ziehen, sollen sich nicht als Schranke des Wachstums ihrer Unternehmen geltend machen. Neben der Nutzung fremder Rohstoff-, Waren- und Kapitalmärkte ist auch der ausländische Arbeitsmarkt mit seinen Menschen interessant: „Die Zulassung ausländischer Beschäftigter orientiert sich an den Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes Deutschland …“ (§ 18 AufenthG).
Gemäß der unternehmerischen Nachfrage werden für die entsprechenden Segmente des Arbeitsmarktes die Grenzen geöffnet und auch wieder geschlossen. Es ist also nicht der Ausländer, der darüber entscheidet, ob er im Wirtschaftsstandort Deutschland Lohn und Brot verdienen will, ob er sich integrieren will oder nicht. Über ihn wird staatlich entschieden – gemäß des Arbeitskrafthungers deutscher Arbeitgeber.
Im Laufe der ersten vier Jahrzehnte nahmen die ausländischen Arbeitsmigranten ökonomisch genau jene unteren Plätze in der bundesdeutschen Sozial- und Lohnhierarchie ein, die ihnen von Staat und Kapital zugedacht waren. Und sie erwiesen sich aus wirtschaftspolitischer Perspektive in der Schwerindustrie, der Metallverarbeitung, dem Baugewerbe und der Landwirtschaft usw. als relativ unentbehrlich. Politisch wurde dagegen bis in die 1990er Jahre betont, dass die Bundesrepublik „kein Einwanderungsland“ sei. Integration war zu dieser Zeit gerade nicht erwünscht. Das Ergebnis: Die ökonomisch erwünschte Funktion und das Faktum der sich verfestigenden Aufenthaltstitel der migrantischen Bevölkerung (samt inzwischen in Gang gekommenem Familiennachzug) gerieten mehr und mehr in Widerspruch zum politischen Vorbehalt gegenüber dem fremden Staatsvolk und begründeten „das Ausländerproblem“.
Vor dem Hintergrund, dass die vollständige Rückführung der Migranten angesichts der Verfestigung ihrer Aufenthaltstitel rechtlich immer schwieriger wurde, vom Standpunkt der deutschen Wirtschaft unerwünscht war, sogar der Bedarf an neuen „qualifizierten Fachkräften“ immer dringlicher wurde, mit Blick auf den Erfolg der klassischen Einwanderungsländer (USA, Kanada) beim Zugriff auf den Weltarbeitsmarkt die Doktrin vom rassisch-ethnisch homogenen Staatsvolk als fragwürdig und veraltet, weil national nachteilig, erschien, setzte sich mit der rotgrünen Regierung ab 1998 das Bedürfnis nach einer Neuregelung des Ausländerrechts durch: Wenn Zuwanderung für den Erfolg eines global erfolgreichen Standorts notwendig, aber ein zugewandertes „Volk im Volke“ politisch inakzeptabel ist, dann lässt sich der genannte Widerspruch nur auflösen, wenn die Bundesrepublik von ihrem bisherigen Anspruch eines ethnisch begründeten Staatsvolks abgeht und die erwünschte Homogenität und Loyalität durch die Integration der Zuwanderer herbeiführt.
Getragen von dieser Einsicht leitete die „Süssmuth-Kommission“ einen Paradigmenwechsel in der deutschen Migrationspolitik ein: Künftig sollen Migranten ausdrücklich auch dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben und zuwandern dürfen, sofern ihre ökonomische Nützlichkeit und staatsbürgerliche Rechtschaffenheit (§ 5 AufenhG) als erwiesen gelten. In der Folge entstand auf langwierigem parlamentarischem Weg ein Zuwanderungsgesetz mit dem neuen Aufenthaltsgesetz als Kernstück. Das Aufenthaltsrecht definiert im Sinne der bereits erläuterten Gesichtspunkte neu, wer sich inwiefern, wie lange und wozu in Deutschland aufhalten darf. Dabei wird als zentrale Neuerung „die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland … gefördert und gefordert.“ (§ 34 Abs. l AufenthG)
In der Folge wurde das im Grundsatz bis dahin immer noch geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) von 1913, welches die Staatsangehörigkeit als quasi natürliche Eigenschaft an die Abstammung von Deutschen bindet, reformiert. Im Unterschied zur alten Reglung erhalten in Deutschland geborene Kinder von Ausländern die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ein Elternteil im Zeitpunkt der Geburt seit acht Jahren seinen gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt (§ 4 Abs. 3 StAG). Auch erwachsene Ausländer dürfen Deutsche werden, wenn sie gemäß §10 StAG die Bedingungen erfüllen, die die Bundesrepublik allen Bürgern an praktischer Loyalität erwartet und bei den Zuwanderern zum Maßstab der Einbürgerung macht.
Der damit verbundene Anspruch auf „Eingliederung“ ist eindeutig: Rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland lebende Migranten sollen sich Deutschland auch innerlich verbunden fühlen und dafür sichtbare Beweise erbringen: geistige Loyalität! Andererseits sind mit den entsprechenden Gesinnungstests zwei Widersprüche verbunden, welche die „Integrationsdebatte“ bis heute prägen:
1. Äußert sich im abgelegten Eid auf die Verfassung, im Sprachtest, dem Bekenntnis zu Deutschland, seiner Kultur, Geschichte etc. die ehrliche innere Empfindung und Bindung des Prüflings oder nur ein berechnend erlerntes Lippenbekenntnis?
2. Worin besteht eigentlich die richtige „wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche“ (§ 34 AufenthG) Eingliederung in eine Gesellschaft, die auch ohne Ausländer aus lauter Parallelgesellschaften und antagonistischen Gruppeninteressen besteht?
Aus dem ersten Widerspruch geht das Bedürfnis hervor, „glaubwürdige“ Beweise aufrichtiger Gesinnung zu erhalten. Nach dem Grundsatz, dass sich die Einstellung eines Menschen am glaubwürdigsten im Privatleben äußert, werden die persönlichen Lebensbereiche (Ehe, Religion, Intimleben) der Zuwanderer einer öffentlich-rechtlichen Begutachtung unterzogen. Da aber jeder so definierte Loyalitätsbeweis den unterstellten Zweifel nicht auszuräumen vermag (s.o.) geht die Suche nach wirklich glaubwürdigen Beweisen immer weiter. Integration ist deshalb ein unendlicher, unerfüllbarer Anspruch an die „Menschen mit Migrationshintergrund“.
Gewissermaßen als Ersatzbeweis für die vollwertige Staatsbürgerloyalität autochthoner Deutscher qua Natur gilt für Neubürger die deutsche Sprache und Kultur. Diese Kulturgüter sind zwar „nur“ erworben, nicht angeboren, aber dennoch soll an ihnen zumindest das Bemühen um „Zugehörigkeit“ ablesbar werden. Außerdem verfügen Sprache und Kultur angeblich über eine zauberhafte nationale Bindekraft, die ihre Anwender dermaßen „prägen“ soll, dass sie nicht anders können, als für Deutschland zu sein, wenn sie deutsch sprechen, lesen oder schreiben. (In diesem nationalistischen Anspruch an die Sprache als Garant nationaler Identität und Zusammengehörigkeit besteht übrigens auch der Grund der gewaltsamen Unterdrückung der kurdischen Sprache durch den kemalistischen Staat.)
Einen besonders hohen Stellenwert unter den integrativen Gesinnungsfragen nimmt die Religion ein. Denn sie bringt die innersten Grundsätze, Werte und Sinnkonstrukte der Völker in der altehrwürdigen Form fest gefügter Glaubensvorstellungen hervor, deren verschriftlichte Ausgabe auf niemand geringeren als den Allmächtigen und seine irdischen Sprachrohre zurückgeht und über deren zeit- und staatsgemäße Auslegung im Normalfall eine dazu vom Gesetzgeber anerkannte und geförderte Kirche oder Religionsgemeinschaft argwöhnisch und eifersüchtig wacht.
Im Unterschied zu den in dieser Arbeitsteilung bewährten christlichen Kirchen ergeben sich bei der Verstaatlichung der eingewanderten Religion diverse Zweifel, die eine muntere „Islamdebatte“ mit dazugehöriger nationaler Islam-Konferenz begründen: Taugt der Koran so zuverlässig wie die Bibel für eine brave Staatsbürgergesinnung der „Neudeutschen“? Wer wacht überhaupt über den zeitgemäßen Glauben der frommen Zuwanderer? Anerkennen diese die Bundesrepublik und ihr Recht oder machen sie den Respekt vor deutschen Gesetzen womöglich „fundamentalistisch“ von der Auslegung göttlicher Gebote abhängig? Wer finanziert die entsprechenden Vereine? Wer kontrolliert ihre Prediger?
Instrumentalisieren staatliche Stellen oder Parteien aus dem Ausland den Glauben der frommen Zuwanderer für die politischen und ökonomischen Interessen ihrer Herkunftsstaaten oder stellen sie das Glaubensbekenntnis in den Dienst der Bundesrepublik? Viele fundamentale Zweifel begleiten also den Anspruch, auch den morgenländischen Glauben an einen ,“Allerhöchsten“ in eine moderne nationale Sicht zu integrieren, bis dann endlich auch der „Islam zu Deutschland“ gehört.
Integration ist also nicht das schöne Gegenteil, sondern das fordernde Pendant zur Regel nationalstaatlicher Ausgrenzung. Integration ist kein Angebot, sondern eine Verpflichtung zur Loyalität. Sie ist damit ein Spiegelbild der politischen Erwartungen an das eigene Volk.
Wer staatlichen Zwang, nationalistische Loyalitätsbekundungen und deren Untermauerung durch die Religion ohnehin für nützlich und notwendig hält, weil er gar nicht mehr anders als mit einer nationalen Sicht zu denken bereit ist; wer es selbstverständlich findet, dass die materiellen Interessen der „kleinen Leute“ vor dem Erfolg der Nation zurückzustehen haben, der soll sich über die repressiven, irrationalen und tendenziell islamfeindlichen Konsequenzen der deutschen Zuwanderungspolitik nicht beschweren. Alle anderen haben Anlass genug, ihre Rolle als nützliche Idioten für die Interessen von Politik und Unternehmen kritisch zu hinterfragen – statt im Glauben an Gott oder Vaterland vergeblich Trost und Hoffnung für ihr trostloses Dasein zu suchen.