Die verklärende Rede vom „christlichen Abendland“ birgt nach den Worten von Heinrich Bedford-Strohm die Gefahr von Einseitigkeit. Das „christliche Abendland“ sei nicht nur „ein Quellgrund der modernen Demokratie“ gewesen, sondern auch „Ursprungsort unvorstellbarer Gewalt“
„Es waren allesamt Nationen des ‚christlichen Abendlandes‘, die sich in Europa in zwei Weltkriegen gegenüberstanden – und Deutschland gleichsam eine Kernnation des ‚christlichen Abendlandes‘, aus deren Mitte der Befehl zur Ermordung von sechs Millionen Juden gegeben wurde“, betont Bedford-Strohm. Wenn dies alles nicht auf das „Maß eines kulturellen Betriebsunfalls reduziert werden soll, dann sollte die Erinnerung daran in ein Maß kultureller Demut münden, das mit dem Begriff des ‚christlichen Abendlandes‘ dauerhaft in Spannung stehen muss, da er vor allem Überlegenheitsbewusstsein demonstriert“.
Das bedeute jedoch nicht, dass sich Religion aus der Gesellschaft zurückziehen solle, schreibt der EKD-Ratsvorsitzende weiter, auch wenn der Terror im Nahen Osten und andernorts „als Hypothek auf uns allen“ laste. Gerade eine der Kernbotschaften des Christentums, nämlich dass Freiheit „etwas Geschenktes“ sei, erschließe sich auch religiös nicht gebundenen Menschen und gehöre zudem zu den Grunderfahrungen, die der Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg machen konnte, als sich nach der NS-Diktatur die Bundesrepublik als demokratischer Staat konstituiert habe.
Dass diese und andere Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten, ist nach Auffassung von Bedford-Strohm auch ein Verdienst der Religionsgemeinschaften. „Denn es sind insbesondere die Religionen, die in besonderer Weise kollektive Erinnerung und Erfahrung über Generationen sichern und Bildungsressourcen erhalten, die nicht ohne weiteres zu ersetzen sind.“
Das treffe insbesondere auf das Christentum zu, erläutert der EKD-Ratsvorsitzende, und müsse deswegen bei dem notwendigen Diskurs „über den Stellenwert von Religion im öffentlichen Leben“ bedacht werden. „Indem die Kirche öffentlich für das Gedächtnis der Opfer der Geschichte eintritt, indem sie verhindert, dass die Opfer den endgültigen Tod durch das Vergessen erleiden, schaffen wir die Voraussetzung für ein Erinnern, das gerade durch die Würdigung und Anerkennung vergangenen Leidens neues Leiden verhindern will.“
Die Bezeichnung „christliches Abendland“ wird oft als Abgrenzung zum Islam benutzt. Antisemitismusforscher Wolfgang Benz erklärt, dass es sich dabei um ein Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff handelt. Als 1453 Konstantinopel durch die Türken erobert wurde, sei das christliche Abendland zum Kampfbegriff des christlichen Europa gegen die türkischen, muslimischen Angreifer geworden. In Wirklichkeit habe es so etwas wie ein einheitliches christliches Abendland aber nie gegeben. Auch heute beschwören viele Demonstranten bei den Pegida-Veranstaltungen die christlich-jüdischen Werte des Abendlandes. (KNA/iQ)