Nach der jüngsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer stellt sich erneut die Frage, wie man solidarisch mit Flüchtlingen umgehen kann. Dr. Milena Rampoldi beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Islam- und Flüchtlingsfeindlichkeit und stellt Handlungswege vor.
Flüchtlingsproblem im Mittelmeer: das ist die Frage, auf die Politikerinnen und Politiker mit den sogenannten „Maßnahmenpaketen“ nach Lösungen suchen. Tausende verzweifelter Menschen versuchen Tag für Tag über das Mittelmeer Europa, vor allem Italien, zu erreichen. Für Hunderte von ihnen endet der Traum eines besseren Lebens im Massengrab Mittelmeer. Nach der jüngsten Katastrophe vor Lampedusa fragen wir uns, wie es dazu kommen konnte. Die libysche Schleusermafia nimmt die verzweifelten Menschen aus. Die italienische Küstenwache kann sie nicht alle retten. Italien fordert Hilfe von den europäischen Nachbarn. Dabei vergisst man, dass der Ansatz völlig falsch ist, weil die Bezeichnung des Problems semantisch schon nicht auf das fokussiert, worum es dabei wirklich geht, und zwar um Mit-Menschen.
Ich finde, wir sollten das Thema anders benennen und nicht mehr von einem „Flüchtlingsproblem“ für uns Europäer – die ehemaligen Kolonisatoren des gesamten afrikanischen Kontinenten und des Nahen Ostens – im Mittelmeer sprechen, sondern wohl eher von der Flucht Tausender verzweifelter Mitmenschen aus den ärmsten Ländern der Welt, aus ihrer Heimat hin zu einem Traum eines besseren Lebens in der Ferne. Durch korrekte Information und Bewusstseinsbildung über die Bedingungen dieser Länder, wie Bürgerkrieg, Armut, Unterernährung, Diktatur, Sklaverei, Krankheiten, Wassermangel, Perspektivenlosigkeit ist schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung geschafft.
Sehr viele dieser armen Länder, aus denen unsere Mitmenschen stammen, sind muslimische Länder. Hier kommt die Aufgabe der in Deutschland lebenden Muslime aus allen Ländern zum Tragen. Die Musliminnen und Muslime, die in Deutschland leben, müssen ihre Brückenfunktion wahrnehmen und leben.Denn Islam- und Flüchtlingsfeinde schaffen es doch auch,diese Thematik zugunsten ihrer Gesinnung zu lenken. Warum sonst konnte PEGIDA so einen starken Zulauf verbuchen?
PEGIDA nutzt die Flüchtlingsdebatte aus
PEGIDA ist vor allem auch eine anti-islamische Bewegung, weil zurzeit viele Flüchtlinge-Mitmenschen aus armen Regionen der muslimischen Welt stammen. Wir sehen in Europa gleichzeitig die Wut und die Trauer wegen der vielen Toten im Mittelmeer, aber andererseits nutzen Bewegungen wie PEGIDA und ihre Parallelorganisationen gerade diese unschuldigen Toten, um parallel zum Feindbild Islam auch das Feindbild des Flüchtlings aufzubauen. PEGIDAs Erfolg ist ein offensichtliches Zeugnis der steigenden Islam- und auch Flüchtlingsfeindlichkeit. Und genau gegen diese Feinbilder Flüchtlinge und Islam können wir als multikulturelle Gemeinschaft entgegenwirken.
Einerseits bedeuten die Parallelen zwischen diesen Feindbildern den Erfolg von Pegida, aber andererseits bedeuten sie auch das Ende von PEGIDA, da diese verzweifelten Flüchtlinge sicherlich nicht den imperialistischen Islam verkörpern, der Europa erobern möchte. Daher sind die PEGIDA-Thesen leicht auszuhebeln. Vor allem auch durch den Zusatz von wahrem Informationsfluss über die Herkunftsländer dieser Mitmenschen, derer zukünftige Unterkünfte man abzufackeln wagt. Denn wer von islamischer Eroberung des Westens spricht und sich dann die Fotos der unterernährten Kinder aus Mali oder Niger ansieht, die an Noma erkranken und aus Schande dann in die Ställe gesperrt werden, glaubt wohl schwer an die These der Eroberung des Abendlandes von Seiten eines imperialistischen Petroislams, der sich den Westen aneignet, islamisiert, ent-christianisiert und in eine ISIS-Schariadiktatur verwandelt.
PEGIDA erzeugt nämlich ein so falsches Bild des Armutsflüchtlings und des politischen Verfolgten aus den Ländern südlich der Sahara, weil PEGIDA über diese Mitmenschen einfach nichts weiß. Sowohl geographisch, als auch religiös und kulturell. PEGIDA spricht von den Schmarotzerflüchtlingen, die Europa islamisieren wollen und uns hier den Reichtum wegnehmen und gleichzeitig kriminell sind. Und dann liegt ein erstochener Flüchtling auf der Straße und die Polizei fragt sich, ob die Tat vielleicht doch rechtsradikal motiviert war.
Flüchtlinge als Individuen wahrnehmen
Ein zweiter Punkt, der für mich im Diskurs über Flüchtlingspolitik wichtig ist, ist neben der Information über die Herkunftsländer zwecks Entkräftigung der Thesen der Rechten, auch die Darstellung der Flüchtlinge im Kontext ihrer ursprünglichen Gesellschaft, in der wie bei uns soziale, wirtschaftliche und ethnische Vielfalt herrscht. Dies wirkt der Entmenschlichung des Flüchtlings, vor allem durch die Neonaziszene, entgegen. Denn der Flüchtling ist keine Nummer auf einem Massengrab in Malta, keine Nummer in einem Flüchtlingsheim in Lampedusa und auch keine Nummer auf der Abschiebungsliste der deutschen Behörden, sondern ein Mensch oder besser gesagt ein Mit-Mensch. Denn Mensch bin ich nur, weil ich mich mit meinem Mit-Menschen konfrontiere, indem ich in der Gesellschaft lebe und agiere. Die Ich-Du-Beziehung gilt auch für den Mitmenschen, der bei uns seinen Asylantrag stellt.
Das Problem des Rassismus und der Diskriminierung besteht aber gerade darin, dass man dem Anderen den Status des Mitmenschen aberkennt und ihn entmenschlicht oder seine Menschlichkeit verzerrt. Vorurteile kann man abbauen, indem man mit diesen Mitmenschen in Kontakt tritt, Entmenschlichung nicht. Ich würde offene Tage in den Flüchtlingsheimen, Vorträge von Flüchtlingen über ihre Heimat und ihre Probleme vorschlagen, Sprachkurse in Paaren (ein Deutscher und ein Flüchtling, die sich gegenseitige ihre Sprachen beibringen), Kochworkshops, musikalische Veranstaltungen u.v.m.
Ganzheitliche Entwicklungshilfe ist erforderlich
Nur mit einem radikalen Humanismus und mit soliden ethischen Werten kann Rassismus und Diskriminierung von Flüchtlingen entgegengewirkt werden. Dieser Ansatz des radikalen Humanismus kann dann auch parallel auf die Entwicklungshilfe umsetzen, die vor Ort je nach Land abgestimmt werden muss. Vor allem in den muslimischen Ländern soll sich auch die Entwicklungshilfe an den ethischen und religiösen Werten des Islam orientieren, damit sich die Menschen auch identifizieren können und sich nicht von den Entwicklungshelfern kolonisiert fühlen. Entwicklungshilfe ist eine Solidarität, die Kultur und Religion des Landes respektiert, die Mitmenschen im Lande würdigt, ohne ihnen westliche Wertvorstellungen aufdringen zu wollen. Entwicklungshilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe. Entwicklungshilfe bedeutet Pädagogik, Bewusstseinsbildung und Erziehung. Dasselbe gilt für die Flüchtlingsarbeit in Deutschland. Integration ja, Assimilierung nein. Die Mit-Menschen bereichern unsere Gesellschaft mehr, wenn sie ihre Identität beibehalten und unsere Diversität kennenlernen und in dieser positiven Dialektik leben und agieren. Deutschland sieht sich vielfach noch nicht als Einwanderungsland.
Wenn Politiker der NPD sagen, dass Einwanderung keine Bereicherung für Deutschland darstellt, so halten wir denen Folgendes entgegen: unsere Mit-Menschen sind eine Bereicherung, ihr Du trägt zur Entwicklung unseres Ich auf der sozialen, psychischen und kulturellen Ebene bei. Es entsteht ein Wir der bunten Art. Niemand sehnt sich mehr danach, in die braune Suppe zu springen, denn bunte Vielfalt, interkulturelle und interreligiöse Empathie sind die neuen Parolen aller Mitmenschen dieser Gesellschaft. Das ist meine Utopie. Aber eines muss der Staat mit harter Hand schaffen: er muss die Schleusermafia zerschlagen. Wenn die Verbrennung von Schiffen die Lösung ist, dann soll dies geschehen. Einher mit der Entwicklungshilfe vor Ort kann eine humanistische Flüchtlingspolitik wegweisend sein für das Europa von Morgen, zu dem der Islam dazugehören wird, wie zum Sizilien und zum Andalusien des Mittelalters.